20

Eisenherz

Wenn du das Sehen mir erlaubst, erhebe ich mich wieder;

doch unser alter, schlauer Feind versuchet mich,

sodass ich keine Stunde aufrecht stehen kann;

Dein Willen möge mich beflügeln, der List zu widerstehen,

Drum zieh mein Eisenherz ganz fest an dich heran.

John Donne, »Thou Hast Made Me, and Shall Thy Work Decay?«

Cordelia hielt Ausschau nach Matthew.

Ab und zu berührte sie die Kette an ihrem Hals. Jetzt, da sie ihr Geheimnis kannte, fühlte sie sich anders an … als würde das Metall auf ihrer Haut glühen, obwohl sie wusste, dass das lächerlich war. Die Kette hatte sich nicht verändert. Nur ihr Wissen darüber.

Wieder und wieder sah sie James, wie er vor ihr aufragte, die dunkelgoldenen Augen auf sie gerichtet. Sie erinnerte sich an das Gefühl, als er den Anhänger geöffnet hatte und seine Finger über ihren Hals streiften. Dieses atemlose, zittrige Gefühl, das ihr eine Gänsehaut bereitete.

Du hast also mich und zugleich Grace geliebt, hatte sie zu James gesagt und gedacht, er würde diese Erklärung aufgreifen und ihr für ihr Verständnis dankbar zunicken. Aber in seinem Gesicht waren bittere Verzweiflung und Selbsthass aufgeblitzt.

Nein. Ich habe Grace nie geliebt. Nie.

Es ergab keinen Sinn. Nicht angesichts seines Verhaltens, und doch hatte sie das Gefühl, als wäre ihre Realität in Schieflage geraten. James liebte sie; er hatte sie geliebt. Ob das reichte, wusste sie nicht. Aber sie wusste, wie stark sie reagiert hatte, als sie die Worte las, die er in ihrem Anhänger hinterlegt hatte. Sie hatte das Gefühl gehabt, als würde ihr Herz Licht statt Blut durch ihre Adern pumpen.

Jetzt schwirrte ihr der Kopf – Verwirrung, vermischt mit Hoffnung, die sie bisher nicht zu empfinden gewagt hatte. Wenn jemand – wenn Lucie – sie in diesem Moment gefragt hätte, was sie empfand, hätte sie gesagt: Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Dabei wusste sie sehr wohl, dass ihre eigenen Gefühle inzwischen zu stark waren, um sie noch länger zu unterdrücken. So durfte es nicht weitergehen. Sie musste etwas unternehmen, bevor noch wirklicher Schaden angerichtet wurde.

Schließlich fand sie Matthew auf der Tanzfläche, wo er von Eugenia energisch herumgewirbelt wurde. Cordelia blieb am Rand der Menge, die auf den nächsten Tanz wartete, und sah, dass Eugenia zu ihr herüberschaute und traurig lächelte. Für Cordelia bedeutete dieses Lächeln: Bitte tu ihm nicht weh. Aber vielleicht war es auch nur ihre Einbildung. Ihre Furcht.

Als der Tanz zu Ende war, tippte Eugenia Matthew auf die Schulter und zeigte zu Cordelia. Sein Gesicht hellte sich auf, und er steuerte sofort über die Tanzfläche auf sie zu, während er sich die Schulter rieb. Er war dünner geworden, wie sie erschrocken erkannte. In Kombination mit dem bunten Gehrock und den Emailleblättern in seinen Haaren wirkte er dadurch wie ein Elbenprinz.

»Rettest du mich vor Eugenia?«, fragte er. »Sie ist ein gutes Mädchen, aber sie wirft einen herum wie eine Stoffpuppe. Ich schwöre dir, ich konnte durch die Schutzschilde Londons hindurch einen Blick in eine neue und schreckliche Welt werfen.«

Cordelia lächelte. Zumindest klang Matthew so, als ginge es ihm gut. »Können wir reden?«, fragte sie. »Vielleicht im Spielsaal?«

Etwas in seinen Augen leuchtete auf: verhaltene Hoffnung. »Natürlich.«

Der Spielsaal war für das Ende der Feier vorbereitet, wenn sich traditionsgemäß einige der Gäste – meist Männer – bei Portwein und Zigarren hierher zurückzogen. Der Raum roch nach Zedern- und Fichtenholz, die Wände waren mit rot­beerigen Ilexkränzen geschmückt, und auf dem Sideboard standen Flaschen mit Sherry, Brandy und mehreren Sorten Whisky. Silbrige Eisblumen wuchsen an den Fenstern, und im Kamin loderte ein Feuer, das die gerahmten Porträts an den Wänden beleuchtete.

Es war warm und gemütlich, und dennoch fröstelte es Cordelia. Alles in ihr wollte verhindern, dass sie Matthew jetzt, heute Abend wehtat. Aber ein kleiner Teil tief in ihrem Inneren wusste, dass es nicht leichter werden würde, und je länger sie wartete, desto schlimmer würde es enden.

»Danke, dass du neulich die Tollkühnen Gesellen geschickt hast, damit sie sich um mich kümmern«, sagte Matthew. »Das war wirklich eine gute Tat. Und …« Er sah sie aufmerksam an. »Es geht mir allmählich besser, Daisy. Christopher hat mir diese Kur verordnet, jeden Tag ein bisschen weniger, und er meinte, dass mein Körper schon bald nicht mehr auf das Zeug angewiesen sein wird. Ich werde damit aufhören können.«

Cordelia schluckte. Er hatte kein einziges Mal das Wort »Alkohol« oder »trinken« in den Mund genommen, dachte sie und hätte am liebsten geantwortet: Es ist gut, wenn dein Körper das Zeug nicht mehr will. Aber du wirst es noch wollen. Jedes Mal, wenn du unglücklich bist, wirst du diesen Schmerz mit Alkohol betäuben wollen. Jedes Mal, wenn du dich langweilst oder leer fühlst, wirst du diese Leere füllen wollen. Und das wird der harte Teil des Entzugs sein – so viel härter, als du glaubst.

»Ich erinnere mich an dieses Kleid«, sagte Matthew und berührte leicht den Ärmel. In seiner Stimme lag ein leichtes Unbehagen, als wunderte er sich über ihr Schweigen. »In Paris hast du befürchtet, es wäre zu schlicht für dich. Aber es steht dir ausgezeichnet«, fuhr er fort. »Mit deinen Haaren siehst du aus wie eine dunkle Flamme, umrahmt von Feuer.«

»Du hast mich dazu überredet«, bestätigte Cordelia und gestattete sich ein paar Erinnerungen: an den vergoldeten Laden, an die Straßen von Paris, die eleganten Dächer, die wie musikalische Noten anstiegen und abfielen. »Und ich bin froh, dass du mich überzeugt hast. Du hast Annas Gabe, potenzielle Schönheit zu erkennen.«

Matthew schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, waren sie auf sie gerichtet. Cordelia konnte jedes Detail in den grünen Pupillen erkennen, samt der kleinen, goldenen Einsprengsel.

»Denkst du an Paris, so wie ich?« Seine Stimme klang ein wenig rau. »Wenn ich morgens die Augen öffne, stelle ich mir kurz vor, ein ganzer Tag voller Abenteuer mit dir in Paris würde vor mir liegen. Dort gibt es so vieles zu sehen und zu erleben, wozu wir keine Gelegenheit hatten. Und nach Paris hätten wir nach Venedig fahren können – ein Palast aus Wasser und Schatten, mit Maskenbällen und …«

Sie legte die Hände auf seine Brust, konnte spüren, wie er scharf einatmete. Aus dieser Nähe konnte sie sein Eau de Cologne riechen, rein wie das Wasser des Ozeans und ausnahmsweise nicht mit Likör oder Wein vermischt. »Wir können nicht permanent reisen, Matthew«, sagte sie. »Wir können nicht immer davonlaufen.«

Statt einer Antwort küsste er sie. Und für einen Moment überließ sie sich diesem Kuss, seiner zärtlichen Sanftheit. Da war nichts mehr von dem Feuer des ersten Kusses, das sich aus Verzweiflung, Sehnsucht und purem Verlangen gespeist hatte. In diesem Kuss erkannte sie den Matthew, den sie liebte: seinen scharfen Verstand, seine Verletzlichkeit, seine Schönheit und Sensibilität. Sie spürte Liebe, aber keine Leidenschaft.

Der Erzengel möge dafür sorgen, dass sie ihn nicht verletzte! Nicht zu sehr. Ihre Hände lagen noch immer auf seiner Brust, und sie spürte seinen Herzschlag und merkte, wie seine Lippen ihren Mund mit sanftem Druck berührten – bis er zurückwich und sie mit einem verwirrten Ausdruck in den Augen ansah.

Also hatte auch er es gefühlt: den Unterschied.

»Cordelia? Stimmt irgendetwas nicht?«

»Matthew«, sagte sie. »Oh, mein lieber Matthew. Wir müssen damit aufhören

Er erstarrte unter ihren Händen; sein schlanker Körper wurde plötzlich steif wie Holz. »Womit aufhören? Mit dem Reisen aufhören? Ich verstehe«, fügte er ruhiger hinzu. »Ich hatte damit nicht gemeint, dass wir den Kampf hier in London aufgeben sollen. Wir müssen bleiben, unsere Freunde und unsere Stadt verteidigen, dich von Lilith lösen …«

»Und was dann? Was, wenn alles erledigt ist? Was passiert dann?«

Stockend erwiderte er: »Ich weiß, dass ich gerade … einen schrecklichen Eindruck mache. Aber Christopher sagt, dass es mir in zwei Wochen wieder gut gehen wird. Dann liegt das alles hinter mir, und ich kann nach vorn schauen.«

»Es reicht nicht, das körperliche Verlangen zu beenden«, wandte Cordelia ein. »Du wirst noch immer trinken wollen.«

Er zuckte zusammen. »Nein. Ich hasse es. Ich hasse das, was es aus mir macht. Du kennst den Grund, warum ich überhaupt damit angefangen habe«, fügte er hinzu. »Du kannst mir helfen, Daisy. Du kannst mit mir zu meinen Eltern gehen und ihnen sagen, was ich getan habe. Ich weiß, dass dadurch nicht alles wieder in Ordnung kommt, aber diese Wunde ist der Auslöser all dessen, was seitdem passiert ist.«

Er war fast außer Atem, und sie konnte fühlen, wie sein Herz raste. Nach einem Moment fragte er fast ungeduldig: »Was ist los? Bitte sag etwas.«

In dieser Frage lag etwas Zerbrechliches, das Cordelia zu Tode ängstigte. Sie musste ihn trösten, dachte sie. Sie musste ihm versichern, dass sie ihn niemals im Stich lassen würde. »Ich werde mit dir zu deinen Eltern gehen und mit ihnen sprechen, Matthew«, sagte sie. »Was auch geschieht, ich werde immer da sein, wenn du dich schuldig fühlst … und dich daran erinnern, dass du ein guter Mensch bist, der Vergebung und Liebe verdient hat.«

»Dann …« Seine Augen wanderten prüfend über ihr Gesicht. »Wenn du immer da sein wirst …«

»Als ich James geheiratet habe, sollte es nur für ein Jahr sein. Ich glaubte, das wäre alles, was ich haben kann«, sagte Cordelia. »Alle dachten, ich wäre selbstlos, aber das war ich nicht. Damals sagte ich mir, wenn ich nur ein Jahr mit James haben könnte, nur ein einziges Jahr, dann wäre das etwas, woran ich mich für den Rest meines Lebens festhalten, was ich in meinem Herzen bewahren könnte … diese Zeit mit dem Jungen, den ich seit meinem vierzehnten Lebensjahr liebe.«

»Daisy.«

Sie konnte sehen, dass die Worte ihn verletzten, und wünschte, sie hätte sie nicht aussprechen müssen. Aber er musste es erfahren, es verstehen.

»Du solltest nicht … Du bist viel mehr wert als das. Verdienst mehr als das.«

»Und du ebenfalls«, erwiderte Cordelia im Flüsterton. »Matthew, meine Gefühle für James haben sich nicht geändert. Das hat nichts mit dir zu tun. Du solltest über alles geliebt werden, denn du bist wunderbar. Dir sollte jemand sein ganzes Herz schenken. Aber ich kann dir kein ganzes Herz schenken.«

»Weil du James noch immer liebst«, sagte Matthew tonlos.

»Ich habe ihn immer geliebt«, sagte Cordelia mit einem matten Lächeln. »Und ich werde ihn immer lieben. Dabei handelt es sich nicht um eine Entscheidung: Diese Liebe ist ein Teil von mir, wie mein Herz, meine Seele oder … oder Cortana.«

»Ich kann warten, bis du deine Meinung geändert hast.« Matthew klang, als würde er ertrinken.

»Nein«, entgegnete Cordelia und hatte das Gefühl, als würde sie etwas zerbrechen, etwas Fragiles und Zartes aus Eis oder Glas. »Ich kann und werde dich nie so lieben, wie du es dir wünschst, Math. So wie du es verdienst . Ich weiß nicht, was ich wegen James tun werde. Ich habe keinen Plan gefasst und keine Entscheidung getroffen. Aber ich weiß eines: Ich weiß, ich darf nicht …« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich darf nicht zulassen, dass zwischen uns falsche Hoffnung entsteht.«

Matthew hob das Kinn. Ein schrecklicher Ausdruck zeichnete sich in seinen Augen ab – jener Ausdruck, den ihr Vater jedes Mal gehabt hatte, wenn er eine große Summe am Spieltisch verloren hatte. »Bin ich so schwer zu lieben?«

»Nein!«, sagte Cordelia verzweifelt. »Im Gegenteil: Du bist so leicht zu lieben. So leicht, dass es zu all diesen Problemen geführt hat.«

»Aber du liebst mich nicht.« In seiner Stimme lag jetzt echte Verbitterung. »Ich verstehe. Du hast es deutlich genug gesagt. Ich bin ein Trinker und werde es immer sein.«

»Das ist nicht wahr, und darum geht es auch nicht. Meine Entscheidung hat nichts damit zu tun, dass du trinkst, überhaupt nichts …«

Doch er wich bereits zurück und schüttelte seinen blonden Schopf. Verstreute grün-goldene Blätter. »Das ist unerträglich«, sagte er. »Ich halte das nicht länger aus.«

Und mit wenigen Schritten war er durch die Tür und ließ Cordelia allein zurück. Ihr Herz hämmerte in der Brust, als wäre sie gerade einhundert Meilen gerannt.

Thomas hatte erwartet, Alastair würde sich nach ihrer Ankunft bei der Feier sofort seiner üblichen Kohorte anschließen: Piers Wentworth, Augustus Pounceby und den anderen Jungs, die mit ihm zusammen die Schattenjäger-Akademie absolviert hatten.

Zu seiner Überraschung blieb Alastair jedoch an seiner Seite. Allerdings widmete er Thomas nicht seine ganze Aufmerksamkeit. Gelegentlich blieben sie stehen, um andere Anwesende zu begrüßen: von James über Eugenia, die einen Blick auf Thomas und Alastair warf und dann wie verrückt grinste, bis hin zu Esme Hardcastle, die eine lange Liste mit Fragen an Alastair über seine persischen Verwandten hatte.

»Mein Stammbaum muss vollständig sein«, sagte sie. »Stimmt es, dass deine Mutter mit einem französischen Schattenjäger verheiratet war?«

»Nein«, antwortete Alastair. »Mein Vater war ihr erster und einziger Ehemann.«

»Dann hat sie den Franzosen also nicht wegen seines Geldes vergiftet?«

Alastair funkelte sie finster an.

»Hat sie ihn aus einem anderen Grund umgebracht?«, erkundigte sich Esme, den Stift in der Hand.

»Er hat zu viele Fragen gestellt«, verkündete Alastair düster, woraufhin Thomas ihn fortzog und Alastair zu seiner eigenen Überraschung überreden konnte, mit seinem kleinen Cousin Alex zu spielen. Alex hatte es immer genossen, auf Thomas’ Schultern zu sitzen, weil er von da oben eine hervorragende Sicht hatte. Wie sich herausstellte, gefiel es ihm ebenfalls, dass Alastair ihn hochhob und kitzelte. Als Thomas die Augenbrauen hochzog, sagte Alastair: »Ich sollte schon mal üben, meinst du nicht? Schließlich werde ich ja schon bald wieder einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester haben.« Alastairs dunkle Augen funkelten. »Sieh dir das an«, sagte er, und als Thomas sich zur Tanzfläche umdrehte, entdeckte er Anna und Ari, die gemeinsam Walzer tanzten. Sie hatten die Arme umeinander gelegt und offenbar die Welt um sich herum vergessen. Ein paar Mitglieder der Brigade starrten sie an – die Baybrooks, die Pouncebys, Ida Rosewain und auch der Inquisitor, der mit finsterer Miene am Rand der Tanzfläche stand. Aber die meisten kümmerten sich um sich selbst. Sogar Aris Mutter blickte versonnen zu ihnen hinüber, ohne Zorn oder Abscheu im Gesicht.

»Siehst du«, sagte Thomas leise. »Der Himmel ist nicht eingestürzt.«

Alastair setzte Alex ab, und der Kleine watschelte mit pummeligen Beinen zu seiner Mutter und zog an ihren blauen Röcken. Alastair bedeutete Thomas, er solle mitkommen. Thomas fragte sich, ob er Alastair verärgert hatte – und wenn ja, wie sehr –, folgte ihm aber hinter eine große dekorative Urne mit Eibenästen, an denen rote Beeren leuchteten. Von hier aus konnte Thomas nur Ausschnitte des Ballsaals sehen.

»Also«, sagte Thomas und straffte die Schultern. »Wenn du sauer auf mich bist, dann sag es.«

Alastair blinzelte. »Warum sollte ich sauer auf dich sein?«

»Vielleicht bist du verärgert, dass ich dich überredet habe, mit zur Feier zu kommen. Vielleicht wärst du lieber bei Charles …«

»Charles ist hier?« Alastair wirkte ehrlich überrascht.

»Er ignoriert dich«, bemerkte Thomas. »Sehr unhöflich von ihm.«

»War mir gar nicht aufgefallen. Charles ist mir egal«, sagte Alastair, und Thomas stellte überrascht fest, wie unglaublich erleichtert er sich fühlte. »Und ich weiß auch nicht, warum du willst, dass er mit mir redet. Vielleicht solltest du herausfinden, was du wirklich willst.«

»Alastair, du bist die letzte Person …«

»Ist dir eigentlich klar, dass wir unter einem Mistelzweig stehen?«, sagte Alastair, und seine dunklen Augen funkelten. Thomas schaute hoch. Alastair hatte recht: Jemand hatte ein Bündel der Zweige mit den wachsweißen Beeren an einen Haken in der Wand gehängt.

Thomas machte einen Schritt vorwärts. Instinktiv wich Alastair einen Schritt zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand stand. »Möchtest du, dass ich deswegen etwas unternehme?«, fragte Thomas.

Plötzlich schien die Luft zwischen ihnen so geladen wie die Luft vor dem Fenster, die ein schweres Gewitter verhieß. Alastair legte eine Hand auf Thomas’ Brust. Er senkte die Lider, und seine langen Wimpern verbargen den Ausdruck in seinen Augen. Aber seine Hand glitt nach unten, über Thomas’ flachen Bauch, und sein Daumen bewegte sich in kleinen Kreisen, setzte jede Faser in Thomas’ Körper unter Strom. »Hier?«, fragte er und schob seine Finger unter Thomas’ Hosenbund. »Jetzt?«

»Ich würde dich sofort hier küssen«, erwiderte Thomas in rauem Flüsterton. »Ich würde dich vor den Augen der ganzen Brigade küssen. Ich schäme mich nicht für das, was ich für dich empfinde. Ich glaube, du bist derjenige, der das nicht will.«

Alastair hob das Gesicht, woraufhin Thomas sehen konnte, was seine Wimpern verborgen hatten: das langsam schmelzende Verlangen in seinen Augen. »Ich will es auch«, sagte er.

Und Thomas wollte sich vorbeugen, seine Lippen auf Alastairs Mund pressen und ihm sagen: Sosehr er auch vor der ganzen Brigade zu Alistair stehen wollte, wäre es besser, wenn sie jetzt irgendwo hingingen, wo sie allein sein könnten. Doch in diesem Moment zerriss ein Schrei die Luft. Der Schrei von jemandem, der große Schmerzen litt.

Ruckartig richtete Alastair sich auf. Thomas taumelte zurück; das Herz hämmerte in seiner Brust. Er kannte diesen Schrei. Tante Cecily!

James blieb auf halbem Weg durch den Korridor mit pochendem Herzen stehen. Er war Cordelia und Matthew nicht absichtlich zum Spielsaal gefolgt, er hatte nur Annas Bitte nach einer Zigarre erfüllen wollen. Doch als er sich der Tür näherte, hatte er ihre Stimmen gehört – Matthew, tief und angespannt, und Cordelia, offenbar bekümmert. Der Schmerz in ihrer Stimme ließ ihn wie angewurzelt innehalten, obwohl er wusste, dass er sich entfernen sollte. Und er hatte sich auch bereits in Bewegung gesetzt, als er Cordelia sagen hörte: »Ich kann und werde dich nie so lieben, wie du es dir wünschst, Math. So wie du es verdienst . Ich weiß nicht, was ich wegen James tun werde. Ich habe keinen Plan gefasst und keine Entscheidung getroffen. Aber ich weiß eines: Ich weiß, ich darf nicht … Ich darf nicht zulassen, dass zwischen uns falsche Hoffnung entsteht.«

James hätte eigentlich erwartet, dass diese Worte ihn erleichtern würden. Stattdessen fühlte es sich an, als hätte man ihm einen Dorn ins Herz getrieben: Er spürte Matthews Schmerz, erstickte fast daran. Abrupt machte er auf dem Absatz kehrt, blieb nicht, um Matthews Antwort zu hören. Er konnte es einfach nicht ertragen.

Mechanisch ging er in den Ballsaal zurück. Er nahm die anderen Gäste kaum wahr, und als sein Vater versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen, tat er so, als würde er es nicht bemerken. Stattdessen schlüpfte er in einen der Alkoven und starrte hinüber zum Weihnachtsbaum. Er bekam kaum noch Luft. Ich weiß nicht, was ich wegen James tun werde, hatte sie gesagt. Vielleicht würden sie beide Cordelia verlieren – er und Matthew. Vielleicht wäre es ja besser so; dann könnten sie ihren Schmerz teilen, sich gegenseitig wieder aufrichten. Aber ein kleiner, verräterischer Puls schlug in seiner Brust und wiederholte ständig, dass sie nicht gesagt hatte, sie sei mit ihm fertig, sondern nur, dass sie nicht wusste, was sie tun würde. Es reichte, um Hoffnung zu schöpfen – eine Hoffnung, die mit Schuldgefühlen und einem dunkleren Gefühl kämpfte, das sich wie ein Band um seine Brust zu ziehen schien und ihm den Atem nahm.

Vor ihm wirbelte die Party, eine Flut aus Farben und Geräuschen, aber plötzlich schien er einen Strom von Schatten wahrzunehmen – etwas Dunkles, das aufstieg wie Rauch, eine Bedrohung, die er in der Luft schmecken konnte.

Hier ging es nicht um Kummer oder Sorge, erkannte er. Das hier war Gefahr.

Und dann hörte er den Schrei.

Lucie wusste, dass sie Jesse sofort zur Seite hätte nehmen sollen, um ihm von Malcolms Warnung zu erzählen. Aber sie hatte es nicht übers Herz gebracht.

Jesse schien sich bei diesem ersten gesellschaftlichen Ereignis, an dem er als lebendiger Erwachsener je teilgenommen hatte, wirklich zu amüsieren. Die bewundernden Blicke, die ihm zugeworfen wurden, verblüfften ihn, aber Lucie strahlte, freute sich für ihn. Sie war stolz darauf, wie er sich hielt, auf das echte Interesse, das er den Leuten entgegenbrachte, und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, das jetzt zu beenden.

In einem Buch über Etikette hatte sie einmal gelesen, wenn man zwei Menschen einander vorstellte, sollte man ein kleines Detail über einen der beiden einfließen lassen und auf diese Weise versuchen, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Also teilte sie Ida Rosewain mit: »Das ist Jeremy Blackthorn. Er sammelt antike Milchkannen.« Und Piers erzählte sie, Jeremy sei ein Hobby­astronom, während sie den Townsends anvertraute, Jeremy habe zwei Wochen im Korb eines Heißluftballons verbracht. Jesse nahm das Geflunker ziemlich gelassen hin und schmückte es sogar noch aus. Lucie hatte sich fast verschluckt, als er den Townsends berichtete, dass ihm sämtliche Mahlzeiten, die er im Heißluftballon eingenommen hatte, von dressierten Möwen gebracht worden waren.

Als kaum noch neue Gäste eintrafen und sich die Tanzfläche füllte, drückte Lucie Jesses Hand (sie trug Handschuhe, genau wie er – also zählte das bestimmt nicht als Berührung ). »Es sind nur noch ein paar Leute übrig, die du noch nicht begrüßt hast. Willst du dem Inquisitor und seiner Frau entgegentreten? Irgendwann musst du sie ja kennenlernen.«

Er schaute zu ihr hinunter. »Apropos Inquisition«, sagte er mit leicht selbstironischem Ton, »mir ist aufgefallen, dass du mir bisher verschwiegen hast, was Malcolm im Sanktuarium gesagt hat.«

»Du bist schlauer, als gut für dich ist.«

»Wenn du es mir lieber später erzählen willst … Wir könnten tanzen …«

Sie biss sich auf die Lippe. »Nein«, sagte sie leise. »Komm mit. Wir sollten reden.«

Sie schaute sich kurz um, ob jemand sie beobachtete – was nicht der Fall zu sein schien. Dann führte sie ihn zu den Terrassentüren, die auf den langen, steinernen Balkon vor dem Ballsaal hinausgingen. Sie schlüpfte hindurch, dicht gefolgt von Jesse, und lief zum Geländer.

Der Schnee war nicht geräumt worden und fühlte sich unter den dünnen Sohlen ihrer Schuhe eiskalt an. Schließlich hatte man nicht angenommen, dass irgendjemand während der kältesten Zeit des Jahres auf den Balkon gehen würde. Jenseits des Geländers war London fest im Griff der Kälte; das eisige Wasser der Themse floss träge dahin, und der Geruch von brennendem Holz und Kohle erfüllte die Luft. Die Dächer der Häuser in der Ferne glichen einem alpinen, schneebedeckten Bergkamm.

»Können wir nicht einfach nur einen schönen Abend genießen?«, fragte Lucie und schaute von der kalten Balustrade über die Stadt. »Kann ich mich nicht einfach weigern, dir zu erzählen, was Malcolm gesagt hat?«

»Lucie«, sagte Jesse. Er war neben sie an das Geländer getreten. Die Kälte hatte bereits Farbe in seine blassen Wangen getrieben. Lucie wusste, dass er diese Extreme von Hitze und Kälte mochte, aber jetzt schien er es nicht zu genießen. »Was auch immer es ist, du musst es mir sagen. Ich bin es nicht gewöhnt, das Herz eines Sterblichen zu haben, ein Herz, das schlägt. Es ist aus der Übung. Es kann diese Art von Panik nicht aushalten.«

»Ich wollte dich nicht in Panik versetzen«, murmelte Lucie. »Es ist nur … Jesse … Ich darf dich nicht berühren. Und du darfst mich nicht berühren.«

Rasch fasste sie Malcolms Worte zusammen. Als sie ihren Bericht beendet hatte, legte Jesse eine Hand auf den kalten Stein des Geländers und seufzte: »Für so lange Zeit … als ich ein Geist war … warst du die Einzige, die ich berühren konnte. Und jetzt bin ich lebendig, und du bist die Einzige, die ich nicht berühren kann.« Er schaute hinauf zu den Sternen am klaren Nachthimmel. »Die Rückkehr scheint sich kaum zu lohnen.«

»Sag so etwas nicht«, flüsterte Lucie. »Lebendig zu sein, bietet so viele Möglichkeiten, und du bist wunderbar darin. Und Malcolm wird eine Lösung finden. Oder wir. Wir haben schon Lösungen für viel größere Probleme gefunden.«

Jesse lächelte fast. »Wunderbar darin, lebendig zu sein? Das ist wirklich ein Kompliment.« Er hob die Hand, als wollte er ihre Wange berühren, zog sie dann aber wieder zurück, und sein Blick verfinsterte sich. »Ich mag nicht daran denken, dass du anfälliger für Belial geworden bist, weil du mich wiedererweckt hast.«

»Ich habe dich erweckt«, entgegnete Lucie. »Ich habe dich nicht gefragt, sondern es dir befohlen. Die Verantwortung liegt bei mir.«

Aber sie konnte sehen, dass ihn das nicht tröstete. Sein Blick war nach innen gekehrt, dunkel. Der Blick eines Jungen, der sich schnell in sich selbst zurückzog, weil er so lange nicht gesehen, nicht gehört worden war. »Jesse, Belials Schatten hat schon immer über meinem Bruder und mir gehangen. Du hast ihn nicht über uns gebracht«, sagte sie. »Im Laufe der letzten Jahre hat sich zunehmend gezeigt, dass Belial von Anfang an geplant hatte, seine Aufmerksamkeit auf uns zu richten. Welche Ziele er auch immer verfolgt, seine Blutsverwandten sind ein Teil davon.«

»Das soll also heißen, dass uns nur eines bleibt: Wir müssen Belial töten. Obwohl man sagt, er könne nicht getötet werden.«

»Aber man sagt auch, dass Cortana ihn töten kann.« Sie dachte, mit einem Gefühl plötzlicher Einsamkeit, an Cordelia. »Wir müssen glauben, dass das stimmt.«

Jesse schaute zu ihr hinunter. Er sah aus wie Weihnachten und Winter: dunkelgrüne Augen, schneeweiße Haut, Haare so schwarz wie Kohle. »Was sollen wir also tun?«

»Wir denken morgen darüber nach«, sagte Lucie sanft, »aber nicht heute Abend. Heute Abend findet die Weihnachtsfeier statt, und du bist lebendig, und ich werde so mit dir tanzen, wie es uns möglich ist.« Sie streckte die Hände aus. »Hier. Ich zeige es dir.«

Sie trat näher an ihn heran. Nah genug, um seine Wärme zu spüren, obwohl sie einander nicht berührten. Dann hob sie ihre Hand, und er hob seine, sodass sie mit den Handflächen zueinanderstanden, zwischen ihnen nur ein paar Millimeter kalter Winterluft. Langsam führte er den anderen Arm um ihre Taille und achtete darauf, sie nicht zu berühren, nicht einmal ihre Haut zu streifen.

Sie hob ihm das Gesicht entgegen, hätte sich auf die Zehenspitzen stellen können, um ihn auf den Mund zu küssen. Stattdessen fing sie seinen Blick ein. Ihre Augen hielten einander fest, wie ihre Körper es nicht vermochten, und gemeinsam begannen sie zu tanzen. Hier auf dem Balkon, unter den Sternen, mit den Dächern von London als einzigen Zeugen. Und obwohl Lucie Jesse nicht berühren konnte, wärmte sie seine Gegenwart; sie umgab sie, beruhigte sie. Ein seltsamer Druck erfasste ihre Kehle: Warum hatte ihr niemand gesagt, dass Glück und Tränen so nahe beieinanderliegen konnten?

Plötzlich ertönte ein Krachen – ein Geräusch, als würde ein Kronleuchter auf dem Boden zerschellen. Dann drang ein Schrei aus dem Ballsaal.

Cordelias Hände waren feucht vor Tränen.

Nachdem Matthew sie verlassen hatte, war sie so lange wie möglich im Spielsaal geblieben. Sie hatte gespürt, dass sie weinte, wobei sie kaum einen Laut hervorgebracht hatte. Aber die heißen Tränen waren ihr unaufhörlich über die Wangen geströmt, auf die Seide ihres Kleids getropft.

Matthew zu verletzen war ihr schwerer gefallen als alles, was sie je getan hatte. Sie wünschte, sie hätte ihm verständlich machen können, dass sie ihre gemeinsame Zeit in Paris nicht bereute. Dass vieles von dem, was geschehen war, gut, ja sogar wunderbar war. Dass er ihr gezeigt hatte, dass es ein Leben für sie gab, auch wenn sie keine Schattenjägerin war. Dass selbst die dunkelsten Momente von Humor und Licht erhellt werden konnten.

Ein Teil von ihr wollte ihm nachlaufen und alles zurücknehmen. Aber das würde sie nur wieder dorthin bringen, wo sie bereits gewesen waren. Sie hatte ihm die Wahrheit gesagt, war ehrlich gewesen, als sie gesagt hatte, dass sie nicht wusste, was sie wegen James tun würde.

Aber die Halskette. Sie hatte alles verändert. Cordelia berührte sie jetzt mit feuchten Fingern. Erkannte, dass keine salzigen Tropfen mehr auf ihr Schlüsselbein fielen. Sie konnte sich nicht ewig hier verstecken. Anna und Ari würden sie suchen, genau wie Alastair. Mit einem raschen Blick in den Spiegel über dem Kamin brachte sie ihre Haare in Ordnung und kehrte in den Ballsaal zurück.

Rasch sondierte sie den Raum – offenbar war ihre Sorge unbegründet gewesen, jemand könnte ihre Abwesenheit mit Matthew bemerkt haben. Doch erst jetzt wurde ihr bewusst, wen sie suchte: Lucie – die sie nirgendwo sah, genauso wenig wie Jesse. Aber selbst wenn Lucie im Saal gewesen wäre, hätte Cordelia nicht einfach bei ihr Trost suchen können. Dafür war die Situation zu kompliziert.

Das Fest war ein Wirbel aus Farben, Licht und Wärme. Aber im nächsten Moment wurde all das durch das Klirren von zerberstendem Glas durchbrochen.

Cordelia erinnerte sich an das laute Krachen bei ihrer Hochzeit, als ihr Vater betrunken zusammengesackt war und dabei Teller und Schüsseln mitgerissen hatte. Und ihr erster Gedanke war: Jemandem ist etwas aus der Hand gerutscht und zu Boden gefallen.

Doch dann ertönte ein Schrei. Ein schrecklicher, herzzerreißender Schrei. Dicht gefolgt von hektischen Bewegungen, vom Scheppern der Instrumente, als die Musiker von ihrer kleinen Bühne flüchteten, vom scharfen Klang einer reißenden Geigensaite. Hastig entfernten sich die Schattenjäger von der Tanzfläche; einige griffen nach ihren Waffen, aber die meisten waren wohl unbewaffnet gekommen.

Und dann schnitt eine scharfe, vertraute Stimme wie ein Messer durch den Krach und die Hektik.

»STOPP!«, schrie Tatiana Blackthorn. Sie stand mit wilden Haaren und einem verblichenen, blutbefleckten Kleid auf der Bühne, ein Bündel an die Brust gedrückt. Ihre Stimme drang durch den Saal, als wäre sie übernatürlich verstärkt. »Auf der Stelle aufhören! Niemand bewegt sich mehr. Niemand redet mehr. Und lasst sämtliche Waffen fallen – sonst stirbt das Kind.«

Beim Erzengel. Das Bündel war ein Kind. Der Schrei stammte von Cecily Lightwood. Tatiana hielt den kleinen Alexander Lightwood umklammert, dessen blauer Samtanzug verknittert war und an dessen Kehle eine scharfe silberne Klinge aufblitzte.

Atemlose Stille senkte sich über den Saal. Cecily zitterte lautlos in Gabriel Lightwoods Armen, die Hand auf den Mund gepresst, und ihr Körper bebte heftig im Bemühen, nicht zu schreien. Anna stand bleich auf der Tanzfläche, Aris Hand auf dem Arm, um sie zurückzuhalten.

James, Thomas, Alastair. Die Lightwoods, die Fairchilds, die Herondales. Der Inquisitor und seine Frau. Alle standen hilflos da, genauso hilflos wie Cordelia. Noch immer konnte sie weder Lucie noch Jesse entdecken. Gut so , dachte sie. Es war besser, wenn Tatiana Jesse nicht sah.

Niemand sprach. Nur Alexanders Weinen durchbrach die Stille, bis …

»Tatiana!«, rief Will mit durchdringender Stimme. »Bitte! Wir hören uns an, was du zu sagen hast, aber bitte lass das Kind herunter!«

Cordelias Gedanken überschlugen sich. War Tatiana nicht vor ein paar Tagen blutend und verletzt in Cornwall aufgefunden worden? Hatten die Stillen Brüder nicht gesagt, sie sei zu schwach für einen Transport? Und dennoch war sie jetzt hier, wirkte nicht nur geheilt, sondern sogar so, als wäre sie nie verletzt gewesen. Sie hatte nicht mal einen Kratzer im Gesicht. Und das blutbefleckte Kleid war zwar zerrissen, aber es war ihr altes Kostüm, das sie am liebsten trug.

»Keiner von euch hat mir je zugehört!«, schrie Tatiana, und Alexander begann zu schluchzen. »Erst wenn ich euch etwas wegnehme, erhalte ich eure Aufmerksamkeit!«

»Tatiana«, sagte Gideon laut, aber gefasst. »Wir sind deine Brüder. Deine Freunde. Wir werden dir jetzt zuhören. Was auch immer du brauchst, wir können dir helfen …«

»Helfen?« , rief Tatiana. »Keiner von euch hat mir je geholfen. Keiner von euch wollte mir je helfen. Die Lightwoods, Heron­dales und Carstairs, die hier versammelt sind, haben nie einen Finger gerührt, um mir in meinen schlimmsten Zeiten beizustehen.«

»Das ist nicht wahr!«, erhob sich eine Stimme, und als Cordelia sich umdrehte, sah sie zu ihrer Überraschung, dass James Tatiana anfunkelte; seine goldenen Augen leuchteten wie Flammen. »Glaubst du, wir hätten deine Notizen nicht gelesen? Glaubst du, wir wüssten nicht, wie oft dir Hilfe angeboten wurde? Wie oft du sie verschmäht hast?«, knurrte er.

»Das war immer nur Gift «, zischte sie. »Als mein Sohn starb, hoffte ich, dass die Schattenjäger mich unterstützen würden, in Anerkennung des tragischen Verlusts, den ich erlitten hatte. Dass sie mir helfen würden. Aber wenn es nach euch allen gegangen wäre, dann wäre sein Leichnam nach wenigen Tagen verbrannt worden! Bevor man etwas tun konnte!«

Die Antwort darauf – dass der Tod nichts zurückgab, was er genommen hatte – war so offensichtlich, dass niemand etwas sagte.

»Deshalb musste ich Hilfe suchen an den Orten, die ihr mir untersagt habt«, fuhr Tatiana fort. »Ja. Ihr habt mich verstoßen, und ich musste mich an die Dämonen wenden.« Sie ließ den Blick über die versammelte Brigade schweifen. »Schließlich erhörte der Höllenfürst Belial mein Flehen, und als ich um das Leben meines Sohnes bettelte, versprach er, es mir zurückzugeben. Aber trotzdem gönnten die Nephilim mir nichts … nichts außer Scheitern in meinem Leben. Und als ihr meine kläglichen Versuche, meinem Sohn zu helfen, entdeckt hattet, da habt ihr mich in die Adamant-Zitadelle geworfen, um dort die Waffen zu schmieden, mit denen ihr mich festhaltet.

Dabei waren sie die ganze Zeit …« Tatiana streckte einen Finger aus und zeigte direkt auf … Tessa. Aller Augen richteten sich auf sie. Doch sie stand reglos da und erwiderte Tatianas Blick mit erhobenem Kopf. »Dabei waren die Herondales die ganze Zeit Belials Verbündete. Schon immer. Schon lange, bevor ich ihn überhaupt kennenlernte. Tessa Gray ist seine Tochter «, schrie sie, und ihre Stimme steigerte sich zu einem triumphalen Höhepunkt. »Und während ich dafür bestraft werde, weil ich nur mit ihm rede , leben die Herondales im Wohlstand!«

Eine furchtbare Stille breitete sich aus. Selbst Alexander weinte nicht länger. Er brachte nur noch erstickte Laute hervor, die irgendwie noch schlimmer waren als sein Schluchzen.

Jemand – Eunice Pounceby, dachte Cordelia – fragte leise: »Mrs Herondale, ist das wahr?«

Will musterte sie empört. »Ist das dein Ernst? Nein, natürlich sind die Herondales nie mit irgendeinem Dämon verbündet gewesen! Allein die Vorstellung ist …«

»Stimmt es, dass Tessa die Tochter des Höllenfürsten Belial ist?«, unterbrach ihn der Inquisitor mit einer Stimme, die alle Anwesenden daran erinnerte, welches Amt er bekleidete.

Will und Tessa sahen einander an. Keiner sagte etwas. Cordelia wurde schlecht. Dieses Schweigen war vernichtender als jedes Geständnis, und die gesamte Brigade war Zeuge.

Zu Cordelias Erleichterung trat Charlotte vor. »Es war nie ein Geheimnis, dass Tessa Gray ein Hexenwesen ist. Und alle Hexenwesen haben einen dämonischen Elternteil«, sagte sie. »Aber es war ebenso wenig ein Geheimnis, dass sie auch eine Schattenjägerin ist. Diese Fragen wurden vor Jahrzehnten erörtert und geklärt, als Tessa zu uns kam. Wir werden sie jetzt nicht überdenken, nur weil eine Verrückte es verlangt!«

»Die Brut eines Höllenfürsten leitet das Londoner Institut«, höhnte Tatiana. »Der Fuchs im Hühnerstall! Die Schlange am Busen des Rats!«

Tessa wandte sich ab, die Hände vor dem Gesicht.

»Das ist lächerlich«, meldete sich Gideon zu Wort. »Tessa ist ein Hexenwesen . Sie ist mit ihrem dämonischen Elternteil nicht mehr verbunden als jedes andere Hexenwesen. Die meisten erfahren nie, welcher Dämon für ihre Geburt verantwortlich ist … wollen es auch gar nicht erfahren. Und diejenigen, die es wissen, verachten diesen Dämon.«

Tatiana lachte. »Narren. Der Engel Raziel würde sein Gesicht vor Scham abwenden.«

»Er würde sein Gesicht vor Scham abwenden, wenn er dich sieht!«, rief James zornig. »Schau dich nur an: Du hältst ein Messer an die Kehle eines kleinen Kinds und wagst es, meine Mutter anzuklagen? Meine Mutter, die immer nur gut und freundlich zu allen gewesen ist?« Er wirbelte zu den versammelten Schattenjägern herum. »Wie vielen von euch hat sie geholfen? Hat euch Geld geliehen, euch Medizin gebracht, wenn ihr krank wart, hat sich eure Probleme angehört? Und jetzt zweifelt ihr an ihr?«

»Aber«, setzte Eunice Pounceby mit einem verwirrten Ausdruck in den Augen an, »wenn sie all die Jahre gewusst hat, dass ihr Vater ein Höllenfürst ist, und es uns nicht gesagt hat … dann hat sie uns belogen.«

»Sie hat es nicht all die Jahre gewusst!«, konterte eine laute Stimme: Lucie.

Cordelia spürte eine Woge der Erleichterung, als sie sie sah. Lucie war allein – Jesse war nirgends zu sehen.

»Sie hat es selbst erst vor Kurzem herausgefunden. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.«

»Noch mehr Lügen von denen, die euch getäuscht haben!«, entgegnete Tatiana. »Wenn die Herondales wirklich so unschuldig sind, warum haben sie diese Abstammungslinie dann vor euch allen verheimlicht? Vor dem gesamten Rat? Habt ihr euch das einmal gefragt? Wenn sie wirklich keine Verbindung zu Belial hatten, warum sollten sie sich dann fürchten, über ihn zu sprechen? Stattdessen haben sie hinter verschlossenen Türen Pläne mit ihm geschmiedet und seine Befehle empfangen. Und die Lightwoods und die Fairchilds sind nicht besser«, fuhr Tatiana fort und genoss offensichtlich ihr unfreiwilliges Publikum. »Natürlich haben sie die ganze Zeit die Wahrheit gekannt. Und sie haben das Geheimnis bewahrt und die Herondales beschützt. Damit ihre Karriere und ihr Einfluss nicht darunter leiden würden … weil sie wussten, welcher Höllenbrut sie die Verantwortung für euch alle übertragen hatten. Diese Hexenwesen-Gestaltwandlerin und ihre Kinder, die ihre eigenen Kräfte besitzen. O ja! Auch die Kinder haben dunkle Kräfte von ihrem Großvater geerbt. Und sie laufen frei herum, während meine eigene Tochter in der Stadt der Stille verrottet … eingesperrt, obwohl sie nichts falsch gemacht hat …«

»Nichts falsch gemacht?«, knurrte James, zu Cordelias Überraschung. Seine Wangen waren mit roten Flecken übersät, und seine Stimme besaß eine tödliche Intensität. »Nichts falsch gemacht? Du weißt, dass das nicht stimmt, du monströse, boshafte …«

Tatiana schrie. Ein wortloser Laut, ein langes und schreckliches Heulen, als würde ein Teil von ihr vielleicht begreifen, dass die Person, die da mit ihr sprach, besser als jeder andere wusste, was sie wirklich war. Sie schrie …

… und Piers Wentworth stürmte auf Tatiana zu.

»Nein!«, brüllte Will, doch es war bereits zu spät.

Piers sprintete vorwärts, sprang auf die Bühne und streckte die Hände nach Tatiana aus, deren offener Mund einem fürchterlichen schwarzen Loch glich. Seine Finger waren nur Zentimeter von Alexander entfernt …

Cordelia spürte, wie etwas Kaltes durch den Raum strömte. Hinter Tatiana flogen die Fenster des Ballsaals auf und baumelten in den Angeln. Piers fiel auf die Knie und schrie wütend. Seine Hände packten nur leere Luft.

Tatiana war verschwunden, und mit ihr Alexander.

Lucie nahm alles wie in Zeitlupe wahr: wie dieser Idiot Wentworth sich auf Tatiana stürzte. Das berstende Glas, als ein Fenster zersplitterte. Cecilys schrecklichen Schrei, als Tatiana mit Alexander verschwand. Wie Anna sich durch die Menge drängte und zu ihrer Mutter hastete. Wie die reglose Brigade sich ruckartig wieder in Bewegung setzte.

Und Jesse … Jesse war vom Balkon hereingekommen, wo Lucie ihn angefleht, ihm zugeredet, von ihm verlangt hatte, er solle den Ballsaal nicht betreten. Denn wenn Tatiana ihn zu sehen bekam, wäre sie womöglich zu allem fähig. Sie könnte Alexander etwas antun. Widerstrebend hatte er eingewilligt, auf dem Balkon zu bleiben. Aber offensichtlich hatte er von dort aus alles verfolgt. Er war aschfahl.

»Ich dachte, sie wäre in Cornwall«, sagte er. »Sie sollte doch im Gefängnis sein … sollte für immer weggesperrt werden.«

»Das war nicht sie «, flüsterte Lucie. Sie hatte keine Ahnung, warum sie sich so sicher war. Doch sie wusste, dass nicht der geringste Zweifel bestand. »Die aufgefundene Frau in Cornwall … das war nicht Tatiana. Das Ganze war nur ein Ablenkungsmanöver. Sie wusste von der Feier und hatte alles so geplant. Sie und Belial hatten es geplant.«

»Um deinen Cousin zu entführen?«, fragte Jesse.

»Um es allen zu sagen«, erklärte Lucie. Sie fühlte sich wie betäubt. Jetzt, nach all der Zeit, war es schließlich passiert: Alle in der Brigade kannten die Wahrheit über ihre Familie. Über Belial. »Um allen von unserer Abstammung zu erzählen.«

Sie hatte fast erwartet, dass sich die Brigade, nachdem Tatiana verschwunden war, sofort gegen sie und ihre Familie wenden würde. Aber Tatiana hatte einen taktischen Fehler begangen. Da sie Alexander mitgenommen hatte, war jetzt selbst der Inquisitor nur noch daran interessiert, sie aufzuspüren und ihr das Kind wegzunehmen. Es hatte den Anschein, als hätten sie alle eine stillschweigende Vereinbarung getroffen: Die Angelegenheit mit Belial musste warten. Zuerst galt es, Alexander zu retten.

Die Erwachsenen bewegten sich in einer Art Woge. Sie stürmten zum Waffenweihnachtsbaum, und jeder zog eine Waffe heraus: Eugenia nahm einen Dreizack, Piers ein Langschwert, Sophie eine Armbrust und Charles einen brutal aussehenden Streithammer. Dann strömten sie aus dem Ballsaal, durch die Türen, durch das zerbrochene Fenster … hinaus auf die Straßen und schwärmten aus, um Tatiana zu suchen.

Bevor James und Lucie auch nur einen Schritt in Richtung Waffenbaum machen konnten, versperrte Will ihnen den Weg, mit einem Krummschwert in der Hand. »Geht nach oben«, sagte er. Sein Gesicht war blass, sein Kiefer angespannt. »Beide. Holt eure Freunde und geht nach oben.«

»Aber wir wollen helfen«, entgegnete Lucie. »Wir wollen mit dir gehen. Anna ist alt genug, und Thomas …«

Will schüttelte den Kopf. »Sie mögen alt genug sein. Aber gerade wurde Cecilys kleiner Junge entführt. Sie darf sich nicht auch noch wegen ihrer Tochter sorgen. Anna sollte bei euch bleiben. Thomas ebenfalls.« Er schaute sich um. »Wo ist Christopher?«

»Er mag keine Partys. Er hat Anna gesagt, wir sollten nicht mit ihm rechnen, weil er ›Wissenschaft betreiben‹ müsste. Wahrscheinlich ist er in Henrys Labor«, sagte Lucie. »Aber, Vater, bitte …«

Doch es war klar, dass weder Bitten noch gutes Zureden Wills Meinung ändern würden. »Nein«, sagte er. »Ich muss schon über zu vieles nachdenken, Lucie. Eure Mutter ist bei Cecily und versucht, ihr beizustehen. Ich weiß, dass ihr helfen wollt. Das würde ich an eurer Stelle auch. Aber ihr müsst hier und in Sicherheit bleiben, weil ich sonst nur an euch und eure Mutter denken kann. Statt an Tatiana und daran, Alexander zurückzuholen.«

»Wie ist sie hierhergekommen?«, fragte James. »Tatiana, meine ich. Ich dachte, sie wäre im Sanktuarium in Cornwall.«

»Darüber reden wir später«, erwiderte Will. Tiefe Falten zeichneten sich an seinen Mundwinkeln ab. »Geht nach oben und bleibt dort. Habt ihr mich verstanden?«

»Ja«, bestätigte James ruhig. »Wir werden uns um die Situation kümmern.«

Und das tat er. Lucie erkannte, warum die Tollkühnen Gesellen ihn immer als den Anführer ihrer Gruppe bezeichnet hatten. Mit einer Ruhe, die keinen Widerspruch duldete, versammelte er sie alle – Alastair, Cordelia, Anna, Ari, Matthew, Thomas und Jesse – und trieb sie aus dem inzwischen fast leeren Ballsaal die Treppe hinauf, obwohl sie alle dagegen Einwände erhoben. Als sie im ersten Geschoss ankamen, widersetzte Anna sich.

»James«, protestierte sie mit rauer, schroffer Stimme. »Ich sollte bei meiner Mutter sein.«

»Das versteh ich«, sagte James. »Und wenn du das willst, solltest du zu ihr gehen. Aber ich dachte, du wolltest vielleicht die Chance bekommen, nach Alexander zu suchen.«

Anna sog scharf die Luft ein. »James? Was meinst du?«

James bog auf dem Treppenabsatz nach links ab und führte sie durch den Flur. Lucie hörte, wie die anderen verwirrt etwas murmelten, aber sie hatte inzwischen eine Ahnung, wohin ihr Bruder wollte. »Jesse, sag ihnen, was du mir gesagt hast«, bat James.

Jesse nickte. »Ich glaube, ich weiß, wohin meine Mutter das Kind gebracht hat.«

»Alexander«, stieß Anna mit einer wilden Schärfe in der Stimme hervor. »Sein Name ist Alexander.«

»Anna, Jesse versucht nur zu helfen«, beschwichtigte Ari.

»Warum informierst du dann die anderen nicht?«, wandte Thomas sich an Jesse. Er klang nicht feindselig, nur verwundert. »Warum sagst du es nicht Will, damit er allen mitteilen kann, was deine Mutter vorhat?«

»Weil niemand weiß, wer Jesse wirklich ist«, erklärte Alastair, als James vor einer großen Eisentür stehen blieb. »Die anderen denken, er wäre Jeremy Blackthorn.«

»Richtig«, bestätigte Matthew. »Wenn Will behauptet, er habe seine Informationen von Tatianas Sohn, fliegt der ganze Plan auf.«

»Es geht nicht nur darum«, versicherte Jesse hastig. »Ich würde meine Identität sofort preisgeben. Aber ich könnte mich irren. Es ist nur eine Ahnung, ein Gefühl, keine Gewissheit. Ich kann nicht die ganze Brigade aufgrund eines Gefühls losschicken … was wäre, wenn sie alle an einem Ort auftauchen, es sich dabei aber um den falschen Ort handelt? Wer würde dann anderswo nach Alexander suchen?«

Er hat recht, wollte Lucie sagen, aber das würden die anderen als bloße Parteinahme werten. Schließlich wussten alle, was sie für Jesse empfand.

Dann meldete Cordelia sich zu Wort: »Jesse hat recht. Aber, James … Du hast deinem Vater versprochen, dass wir hierbleiben, oder?«

James’ Gesicht war eisenhart. »Ich werde ihn später um Verzeihung bitten müssen«, antwortete er und drückte die Tür auf. Dahinter befand sich die Waffenkammer. Seit Will die Leitung des Instituts übernommen hatte, war sie deutlich aufgestockt worden und erstreckte sich nun über zwei Räume mit Äxten und Langschwertern, Hämmern, Wurfringen und funkelnden Wurfsternen, Bogen und Pfeilen, Peitschen, Morgensternen und Stangenwaffen. Daneben warteten ebenfalls mit Runen versehene Rüstungen auf ihren Einsatz: Kampfmonturen und Kettenhemden, gepanzerte Handschuhe und Beinschienen. Auf dem großen Tisch in der Mitte des Raums lagen Seraphklingen, aufgereiht wie Eiszapfen und bereit, benannt und benutzt zu werden.

»Jeder, der mitkommen will – und es ist keine Schande, hierzubleiben –, soll sich jetzt bewaffnen«, sagte James. »Eure bevorzugte Waffe mag nicht dabei sein«, fügte er hinzu und schaute zu Thomas, »aber uns bleibt keine Zeit, sie zu holen. Nehmt etwas, von dem ihr glaubt, dass ihr damit umgehen könnt, und die Rüstung, die ihr braucht. Beeilt euch. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

»Dann glaubst du also, dass sie zum Bedford Square will?«, fragte Anna, als sie sich auf den Weg durch die dunklen Straßen machten. James hatte sie alle durch einen Hinterausgang aus dem Institut geschmuggelt und führte sie vorsichtig durch die engen Straßen, um eine Begegnung mit einer Patrouille der Brigade zu vermeiden. Sie konnten es sich nicht leisten, sofort wieder zurückgeschickt zu werden. »Ins Haus meiner Eltern?«

Der ängstliche Ton in ihrer Stimme versetzte Ari einen Stich ins Herz. Allerdings würde Anna ihre Angst niemals zeigen . Normalerweise genoss sie ihr Leben wie eine schnurrende Katze, doch jetzt pirschte sie wie eine Tigerin in den Wäldern von Odisha durch die Straßen, elegant und gefährlich.

»Ja«, bestätigte Jesse. Er hatte sich mit dem Blackthorn-Schwert bewaffnet, trug es in einer verzierten Lederscheide auf dem Rücken. Dadurch erweckte er den Eindruck, als wäre er schon seit Jahren ein aktiver Schattenjäger, und nicht erst seit ein paar Tagen. »Natürlich weiß ich es nicht mit absoluter Sicherheit, aber mein Instinkt sagt es mir … nach all den Jahren, die ich sie kenne und in denen ich ihr zugehört habe.«

»Wie kann es sein, dass du es nicht mit Sicherheit weißt …«, setzte Anna an.

Doch Ari nahm ihre Hand und drückte sie. »Er ist nur ehrlich, Anna. Das ist besser, als falsche Hoffnung zu wecken.«

Aber Anna erwiderte den Händedruck nicht – was Ari ihr nicht verübelte. Sie konnte sich die schreckliche Angst, die Anna jetzt empfand, nur vorstellen, die Angst, die sie kaum verbarg. Und sie wünschte, sie könnte ihr etwas davon abnehmen, um die Last zu lindern, und sei es auch nur ein klein wenig.

»Aber warum?«, fragte Thomas. Er rollte mit den Schultern, denn die Monturjacke war ihm zu klein. Aber er hatte in der Waffenkammer keine passende gefunden. »Warum in Onkel Gabriels Haus? Müsste sie nicht damit rechnen, dort gefasst zu werden?«

»Nicht bevor …« Jesse verstummte. Aber Thomas konnte sich denken, was er fast gesagt hätte. Nicht bevor sie Alexander getötet hat. »Nicht sofort«, fuhr Jesse fort. »Ich bezweifle, dass außer uns jemand dort zuerst nachsehen wird.«

Sie liefen jetzt durch High Holborn. Um diese Zeit war es hier ruhig, obwohl keine Straße Londons jemals wirklich verlassen dalag, ganz gleich zu welcher Stunde. Inzwischen waren die feuchten Flächen auf dem Gehweg überfroren, und ihre Stiefel knirschten auf dem Eis. Hansom-Kutschen rollten vorbei und bespritzten sie mit dreckigem Eiswasser aus dem Rinnstein, da sie für die Fahrer unsichtbar waren.

»Meine Mutter will so viel Schaden wie möglich anrichten«, sagte Jesse. »Sie will Rache, symbolisch und konkret.«

»Also bringt sie Alexander in sein eigenes Zuhause?«, fragte Lucie.

»Alles, was mir in meiner Kindheit widerfahren ist, passierte in meinem Zuhause. Dort übergab meine Mutter mich Belial. Dort fand die Runenzeremonie statt, die mich fast getötet hätte. Sie hat mir oft erzählt, dass ihr in ihrem eigenen Haus schreckliches Leid angetan wurde … dass mein Vater und mein Großvater auf dem Grund und Boden getötet wurden, wo sie aufgewachsen ist. Ich könnte mir vorstellen, sie will auf diese Weise ein schreckliches Gleichgewicht wiederherstellen.«

Thomas’ Hand, die den Zweihänder hielt, war klamm geworden, und ihm war schlecht. Es tut mir so leid, wollte er sagen. Ich entschuldige mich für alles, womit meine Familie oder irgendeine unserer Familien dazu beigetragen haben könnten, dass das passiert ist.

Doch er schwieg. Fast alle unter ihnen stammten aus Familien, die Tatiana für ihr Unglück verantwortlich machte. Er konnte zwar seine empfundene Schuld eingestehen, aber nicht die der anderen. Die Logik sagte ihm, dass James – der ohne Kopfbedeckung entschlossen vor ihnen lief – dafür nicht verantwortlich gemacht werden konnte, ebenso wenig wie Anna oder Matthew oder Cordelia oder …

»Es ist nicht deine Schuld«, sagte Alastair. Er ging neben Thomas, der sich fragte, wie lange er schon da war. Alastair hatte keine Montur angelegt, trug allerdings gepanzerte Handschuhe und hatte seine Lieblingsspeere in der Innentasche seines Mantels. »Nichts von alldem ist deine Schuld. Benedict Lightwood hat Schande über seine eigene Familie gebracht, und Tatiana konnte weder seine Schuld noch ihre eigene akzeptieren.«

»Das klingt sehr klug«, sagte Thomas. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, als wären Alastair und er allein auf der Straße, umgeben vom eisigen Londoner Winterglanz, wobei die Kälte eine Art schützenden Kreis um sie bildete.

»Schuldgefühle gehören zu den schlimmsten Gefühlen, die es gibt«, fuhr Alastair fort. »Die meisten Menschen tun alles, um sie zu vermeiden. Ich weiß, ich …« Er holte tief Luft. »Man kann sich entweder weigern, sie zu akzeptieren, und sie verdrängen und auf andere abwälzen. Oder aber die Verantwortung übernehmen. Die unerträgliche Last tragen.«

Er klang erschöpft.

»Ich habe sie immer mit dir zusammen tragen wollen«, sagte Thomas leise.

»Ja«, antwortete Alastair. Seine Augen glänzten vor Kälte. »Raziel weiß, das ist vielleicht der Grund, warum ich nicht wie Tatiana geworden bin. Du sorgst dafür, dass ich menschlich bleibe, Tom.«

»Matthew«, sagte James leise. »Math. Komm her.«

Sie näherten sich dem Haus der Lightwoods, vorbei an dunklen Häusern, deren Türen mit Kränzen aus Ilex und Eibe geschmückt waren. James sah den Bedford Square weiter vorn. Bei den Fenstern der meisten Häuser waren die Vorhänge vorgezogen, und der kleine Park in der Mitte, dessen Wintergrün von einem Eisenzaun umgeben war, lag im Dunkeln.

Matthew hatte sich abseits der anderen gehalten. Er hatte seinen Gehrock aus Brokat gegen eine Monturjacke und lederne Kampfhandschuhe getauscht und trug an seinem Unterarm ein halbes Dutzend Chakrams , die wie Armreifen im eisigen Mondlicht funkelten.

Doch als sie sich alle in der Waffenkammer vorbereitet hatten, hatte James seinen Parabatai beobachtet. Er hatte gesehen, wie er gegen den Tisch stieß, sich an der Tischkante festhielt und schwer atmete, als würde er gegen Übelkeit oder Ohnmacht ankämpfen.

Und er hatte Matthew beobachtet, als sie das Institut verlassen hatten. Er hatte sich ein wenig abseits der Gruppe gehalten, sogar abseits von Lucie und Thomas. James dachte unwillkürlich: um zu verhindern, dass irgendjemand sah, dass er zu vorsichtig ging und jeden Schritt übertrieben überlegt setzte.

Matthew schloss zu ihm auf. Und in dem Moment wusste James es. Er wusste es – aufgrund seiner eigenen Beobachtungen und auch wegen des Gefühls in seiner Brust. Es war, als hätte man dort während ihrer Parabatai -Zeremonie ein winziges Barometer eingesetzt, das Matthews Zustand anzeigte.

»James«, sagte Matthew, mit einem leicht argwöhnischen Ton.

»Du bist betrunken«, stellte James fest, allerdings ohne Vorwurf oder Anklage. Matthew wollte protestieren, doch James schüttelte nur den Kopf. »Ich bin nicht wütend auf dich und mach dir auch keine Vorwürfe, Matthew.«

»Du könntest, wenn du wolltest«, sagte Matthew bitter. »Du hast mich gewarnt, dass mir die Feier vielleicht Probleme bereiten würde. Aber ich habe es abgetan.«

James wagte es nicht, seine Gedanken auszusprechen: Da wusste ich noch nicht, was mit Cordelia passieren würde. Ich weiß, dass du nüchtern warst, als du mit ihr gesprochen hast. Aber wenn sie diese Worte mir gegenüber geäußert hätte, und ich danach auf einer ausgelassenen Feier mit reichlich Alkohol gelandet wäre, hätte ich mich wahrscheinlich auch nicht zurückhalten können.

»Wenn ich gewusst hätte, dass ich kämpfen muss, hätte ich nicht …«, setzte Matthew an.

»Ich weiß. Math, es geht nicht darum, perfekt zu sein. Was du versuchst, ist unglaublich schwer. Vermutlich wirst du manchmal ins Straucheln geraten. Aber ich glaube nicht, dass ein Moment der Schwäche gleich bedeutet, dass du gescheitert bist. Nicht, solange du es weiterhin versuchst. In der Zwischenzeit … lass mich dir helfen.«

Matthew atmete eine kleine, weiße Wolke aus. »Wie meinst du das?«

»Möglicherweise ziehen wir gleich zusammen in einen Kampf«, antwortete James. Er zeigte Matthew seine rechte Hand, in der er seine Stele hielt. »Ich bin dein Parabatai , es ist meine Pflicht, dich zu schützen. Und es ist deine Pflicht, mich zu schützen. Und jetzt gib mir deine Hand. Während wir gehen … Ich will nicht stehen bleiben, weil die anderen uns sonst anstarren.«

Matthew brachte einen erstickten Laut hervor und zog den Handschuh von seiner linken Hand. Er streckte sie James entgegen, der eine Iratze in Matthews Handfläche auftrug, gefolgt von zwei Kraftrunen. Normalerweise würde er weder bei Matthew noch bei sonst irgendwem mehr als eine aufbringen, aber diese beiden würden wie Messer durch den Nebel in Matthews Gehirn schneiden.

Matthew fluchte leise, hielt aber seine Hand ruhig. Als James fertig war, schüttelte er sie aus, als hätte er sich mit heißem Wasser verbrüht. Sein Atem ging schwer. »Ich glaube, ich muss mich übergeben«, murmelte er.

»Dafür sind die Gehwege in der Stadt da«, meinte James ungerührt und schob die Stele wieder in seine Tasche. »Außerdem bist du schon viel sicherer auf den Beinen.«

»Ich weiß wirklich nicht, warum die Leute sagen, du wärst der Nettere von uns beiden«, murrte Matthew. »Das entspricht eindeutig nicht der Wahrheit.«

Unter anderen Umständen hätte James gelacht. Jetzt musste er fast lächeln, als er hörte, dass Matthew wieder wie er selbst klang. »Niemand sagt das. Die Leute sagen nur, ich sei der Attraktivere.«

»Auch das entspricht nicht der Wahrheit«, widersprach Matthew.

»Und der bessere Tänzer.«

»James, dich scheint ganz plötzlich ein Anfall von Verlogenheit befallen zu haben. Ich bin besorgt, sehr besorgt …«

Hinter ihnen rief Anna etwas. James wirbelte herum und sah, dass sie die Hand auf die Brust legte. Ihr Lightwood-Anhänger pulsierte mit feuerroten Blitzen.

Das konnte nur eines bedeuten: Dämonen.