21

Unter dem Drachenmond

Weißt du noch, wie einst wir ritten

Unter dem großen Drachenmond,

Und in der vulkanisch schwarzen Nacht

Dort standen, wo die unbekannte Schlacht

Geschlagen wurde auf den baumbestandenen Höhen?

Kannst du den schwarzen Dorn von Ethandune noch sehen?

G. K. Chesterton, »Ballad of the White Horse«

Cordelia sah, dass es sich um Mantis-Dämonen handelte: Sieben oder acht der Kreaturen setzten zirpend über den Metallzaun, der den Park in der Mitte des Platzes umgab. Sie hielten ihre rasiermesserscharfen, gezackten Vorderbeine eng gegen den Oberkörper gepresst. Aber Cordelia wusste, dass sie damit wie mit Peitschen um sich schlagen und mit unfassbarer Geschwindigkeit alles durchtrennen konnten, was sich ihnen in den Weg stellte. Lange, klackende Mandibeln rahmten die dreieckigen Köpfe mit den ovalen, weißen und ausdruckslosen Augen.

James zog die Pistole aus seinem Gürtel. Spannte den Hahn und zielte. »Cordelia, Jesse, Anna«, sagte er leise und ruhig. »Geht zum Haus. Wir kümmern uns um sie.«

Cordelia zögerte. Ein Teil von ihr hatte den Verdacht, dass James nur versuchte, sie aus dem Kampf herauszuhalten. Schließlich war sie die einzige Person in der Waffenkammer des Instituts gewesen, die kein Kriegsgerät an sich genommen hatte. Sie wusste, dass sie das Risiko nicht eingehen durfte, Lilith heraufzubeschwören – sosehr es ihrer Natur auch zuwiderlief, einem Kampf aus dem Wege zu gehen.

Und natürlich hatte Jesse – auch wenn er jetzt ein Schwert bei sich trug – kein Waffentraining gehabt. Der Gedanke schien ihm jedoch nichts auszumachen. Er schaute kurz zu Lucie, die bereits ihre Axt schwang, bevor er sich umdrehte und schweigend neben Cordelia und Anna auf das Haus der Lightwoods zulief.

Auf den ersten Blick schienen alle Fenster dunkel zu sein, doch an einer Seite des Hauses sah Cordelia ein schwaches Schimmern, wie eine Reflexion des Mondlichts. Anna versteifte sich und bedeutete Jesse und Cordelia dann, ihr lautlos zu folgen.

Während sie um das Gebäude herumschlichen und sich dabei im Schatten der Hauswand hielten, konnte Cordelia die Kampfgeräusche aus dem Park hören: Metall, das über Stein kratzte, Grunzen, Zischlaute, der dumpfe Aufprall einer Klinge auf Dämonenschuppen, immer wieder unterbrochen vom durchdringenden Knall einer Pistole.

Sie bogen um eine Ecke und befanden sich jetzt hinter dem Haus, unmittelbar neben dem Zaun, der das Anwesen der Lightwoods vom Nachbarhaus trennte. Aus einem Bogenfenster drang ein sanftes Leuchten, in dessen Schein Cordelia die unterdrückte Wut erkennen konnte, die sich auf Annas Gesicht abzeichnete. Jemand war in das Haus ihrer Eltern eingedrungen – den Ort, an dem sie aufgewachsen war.

Die drei Schattenjäger sammelten sich beim Fenster und spähten durch die Scheibe. Dahinter befand sich Gabriels und Cecilys Wohnzimmer; der Raum schien unverändert, mit zusammengefalteten Wolldecken in einem Korb neben einer bequem aussehenden Couch und einer Tiffanyleuchte, die das Zimmer in warmes Licht hüllte.

Vor dem erkalteten Kamin saß Tatiana in einem Sessel und hielt Alexander in den Armen. Ihre Lippen bewegten sich. Cordelia drehte sich der Magen um. Sang sie ihm etwa ein Lied vor?

Alexander strampelte heftig, aber vergeblich: Tatiana umklammerte ihn mit eisernem Griff. Dann zog sie mit einer Hand zuerst die Jacke und anschließend das Hemd seines kleinen Matrosenanzugs hoch, während sie mit der anderen Hand … nach einer Stele griff und begann, eine Rune auf seine nackte Brust aufzutragen .

Cordelia unterdrückte einen entsetzten Aufschrei. Man konnte nicht einfach Runen auf einen Dreijährigen auftragen – so etwas war schmerzhaft, traumatisierend und gefährdete höchstwahrscheinlich das Leben des Kindes. Dies war ein Akt brutaler Grausamkeit, die Zufügung von Schmerz um des Schmerzes willen.

Alexander schrie. Er wand sich und kämpfte gegen Tatianas Griff, aber sie hielt ihn fest, während ihre Stele wie ein Skalpell in seine Haut schnitt. Bei dem Anblick ballte Cordelia unwillkürlich ihre behandschuhte Hand zur Faust und schlug mit aller Kraft gegen die Fensterscheibe.

Ihre Hand krachte gegen das Glas. Die Scheibe knackte und bekam netzartige Risse, wobei einige Scherben nach außen fielen. Ein heißer Schmerz schoss ihren Arm hinauf, und Jesse zog sie rasch zur Seite, während Anna, mit einem Gesicht wie Stein, den Rest der Scheibe mit ihrem Ellbogen einschlug. Die bereits gesprungene Scheibe fiel in riesigen Scherben in sich zusammen, und Anna schwang sich auf das Fensterbrett und sprang durch die zerklüftete Öffnung.

Jesse folgte ihr und drehte sich um, um Cordelia hineinzuhelfen. Er bekam ihre Hände zu fassen und zog sie hoch – und sie musste sich auf die Lippe beißen, um nicht vor Schmerz laut aufzuschreien. Ihr Handschuh war nicht dafür gedacht gewesen, dass man ihn durch eine Glasscheibe schmetterte: Der Stoff war über den Knöcheln zerrissen, und ihre zerschnittene Hand blutete heftig.

Sie landete auf einem abgewetzten Perserteppich. Wenige Schritte vor ihr schwang Anna gerade eine lange Klinge und traf Tatiana an der Schulter, die daraufhin aufkreischte und den schreienden Alexander von sich schleuderte.

Anna ließ ihr Schwert fallen und machte einen Hechtsprung, um ihren kleinen Bruder aufzufangen. Tatiana fletschte die Zähne, wirbelte herum und floh durch die nächstgelegene offene Tür.

Hastig kniete Anna sich auf den Boden, drückte den schluchzenden Alexander an ihre Brust und strich ihm fieberhaft übers Haar. »Alles ist gut, ich bin ja da«, sagte sie beruhigend, bevor sie sich mit wildem Blick an Jesse und Cordelia wandte: »Findet Tatiana! Haltet sie auf! «

Sofort stürmte Cordelia gemeinsam mit Jesse los. Das Haus war so dunkel, dass man kaum etwas sah; deshalb zog sie ihr Elbenlicht aus der Manteltasche und ließ dessen weißen Schein die Zimmer ausleuchten. Mit Jesse auf den Fersen sprintete sie durch den Flur, an einer leeren Küche vorbei, bis zu einer Bibliothek. Dort spähte Jesse suchend in die Schatten, während Cordelia durch die nächste Tür lief, hinein in ein schwach beleuchtetes Musikzimmer – wo sie Tatiana fand, die mit ausdruckslosem Gesicht auf der Bank vor dem Klavier saß.

Tatiana blutete aus der Wunde, die Anna ihr zugefügt hatte. Scharlachrote Flüssigkeit durchtränkte die Schulter ihres bereits blutbefleckten Kleids. Doch das schien ihr nichts auszumachen: Sie hielt einen spitzen Silberdolch in der Hand und summte eine leise, unheilvolle Melodie vor sich hin.

Cordelia spürte Jesses Anwesenheit neben sich. Er war ihr lautlos in den Raum gefolgt und starrte seine Mutter an, die im Schein von Cordelias Elbenlicht vor ihnen saß.

Tatiana hob den Kopf, schaute flüchtig Cordelia an und richtete dann ihre Aufmerksamkeit auf Jesse.

»Sie hat dich also wiedererweckt«, sagte sie. »Das kleine He­rondale-Drecksstück. Ich dachte mir schon, dass sie es versuchen würde. Ich hätte nur nicht erwartet, dass du es auch zulässt.«

Jesse erstarrte. Cordelia presste die Lippen zusammen, damit ihr kein Grace hat ihr dabei geholfen herausrutschte. Das würde die Situation in keiner Weise verbessern.

»Ich dachte, das wäre dein Wunsch gewesen, Mutter«, sagte Jesse. Cordelia hörte, wie schwer es ihm fiel, seine Stimme unter Kontrolle zu halten – um Zeit zu gewinnen, bis die anderen eintrafen und Tatiana festnahmen. »Ich dachte, du wolltest, dass ich wieder lebe.«

»Nicht wenn das bedeutet, dass du dich zum Handlanger dieser niederträchtigen Brut machst«, knurrte Tatiana. »Die Herondales, die Carstairs … du weißt besser als jeder andere, wie schlecht sie uns behandelt haben. Wie sie mich betrogen haben. Oder hast du das vergessen, mein schöner und kluger Sohn?«

Ihre Stimme hatte einen widerlich süßen Tonfall angenommen, der Jesse angeekelt das Gesicht verziehen ließ. Dann richtete sie ihren boshaften Blick auf Cordelia.

Wenn du auch nur einen Schritt auf mich zukommst, du Miststück, dann werde ich dich mit einem abgebrochenen Klavierbein vermöbeln und mich danach allem stellen, was Lilith mir dafür antut, dachte Cordelia.

Ein metallisches Zischen ertönte. Jesse hatte seine Waffe gezogen – das Blackthorn-Schwert. Die Dornen auf der Parierstange glitzerten im Licht des Elbensteins.

Tatiana lächelte. War sie etwa erfreut darüber, dass ihr Sohn das Familienschwert in den Händen hielt? Nach allem, was sie gerade gesagt hatte?

»Du bist krank, Mutter«, sagte Jesse. »Dein Geist ist krank. All deine Behauptungen, dass du verfolgt wirst … dass diese Leute, diese Familien, nur versuchen, dir zu schaden, sind nichts anderes als Ausflüchte, die du gesucht hast, um darunter deine Trauer über den Tod meines Vaters zu begraben. Und den Tod deines eigenen Vaters.«

»Das sind Lügen «, zischte Tatiana. »Ich bin nicht krank! Sie haben versucht, mein Leben zu zerstören!«

»Das stimmt nicht«, sagte Jesse leise. »Ich habe sie inzwischen kennengelernt. Die Wahrheit ist viel grausamer – und es ist eine Wahrheit, die du kennst. In all den Jahren haben sie kein einziges Mal versucht, dich zu zerstören. Sie haben keine Pläne für deinen Untergang geschmiedet. Nein … sie haben kaum je einen Gedanken an dich verschwendet. «

Tatiana fuhr zusammen – eine unwillkürliche, verräterische Bewegung. Und für den Bruchteil einer Sekunde sah Cordelia ihren wahren Gesichtsausdruck, ungetrübt von Selbsttäuschung oder Unwahrheiten: eine tiefe, bittere Kränkung, fast schon brutal in ihrer Schonungslosigkeit.

Langsam erhob Tatiana sich von der Bank, und Jesse verstärkte den Griff um sein Schwert. Dann ertönten schnelle Schritte im Flur. Die Tür flog auf, und James stürmte in den Raum, ein Langschwert kampfbereit in den Händen.

Er hatte Prellungen und blutete aus einem tiefen Schnitt über dem linken Auge. Die Situation, in die er hineingeplatzt war, musste ihm eigenartig vorkommen, dachte Cordelia: Jesse und sie, stocksteif, von Angesicht zu Angesicht mit Tatiana in ihrem blutigen Kleid. Aber James zögerte keine Sekunde. Er hob die Klinge und richtete sie genau auf Tatianas Brust.

»Genug«, sagte er. »Es ist vorbei. Ich habe nach Bruder Zachariah geschickt. Er wird jeden Moment hier sein und dich mitnehmen.«

Tatiana betrachtete ihn mit einem seltsamen, kleinen Lächeln im Gesicht. »James«, sagte sie. »James Herondale. Du bist deinem Vater sehr ähnlich. Und du kommst gerade recht – mit dir wollte ich sowieso sprechen. Wie du weißt, hast du noch immer die Chance, dir die Unterstützung deines Großvaters zu sichern.«

»Das ist das Letzte, was ich will«, erwiderte James.

»Er hat seine Ziele ins Auge gefasst«, fuhr sie fort, »und er wird sie erreichen. Sie marschieren, ist dir das klar? Selbst jetzt, in diesem Moment, marschieren sie.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Dir bleibt nur eine Wahl: Entweder bekundest du deine Loyalität, oder du wirst von ihm zertrampelt, wenn die Zeit gekommen ist.« Ein hässlicher, verschlagener Ausdruck trat in ihre Augen. »Ich glaube ja, wenn man dich zur Wahl zwingt … dass du dann einsichtig sein und deine Loyalität unter Beweis stellen wirst. Schließlich ist es diese Treue, die uns bindet.«

James zuckte zusammen, und Cordelia erinnerte sich an die Gravur auf der Innenseite des Armbands, das Grace ihm geschenkt hatte. Treue bindet mich. Aber falls Tatiana gehofft hatte, sich mit dieser Erinnerung bei James Vorteile zu verschaffen, hatte sie sich getäuscht. Er machte zwei schnelle Schritte vorwärts und drückte ihr die Schwertspitze gegen die Kehle.

»Lass die Waffe fallen und streck mir deine Hände entgegen«, befahl er. »Oder ich schlitze dir vor den Augen deines Sohns die Kehle auf und bezahle in der Hölle mit Freuden für meine Sünden … wenn die Zeit gekommen ist.«

Tatiana ließ den Dolch fallen. Noch immer lächelnd reckte sie James die Arme entgegen und drehte die Handflächen nach oben, um zu zeigen, dass sie keine anderen Waffen bei sich trug. »Du bist vom Blut meines Gebieters«, sagte sie. »Welche Wahl bleibt mir da? Natürlich werde ich mich ergeben – aber nur dir.«

Während James Tatianas Handgelenke mit Dämonendraht fesselte, warf Cordelia Jesse einen verblüfften Blick zu. Anscheinend war die Gefahr gebannt, und dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Warum hatte Tatiana sich kampflos ergeben – nach allem, was vorgefallen war?

Nachdem Grace Christopher erzählt hatte, sie müsse Cordelia alles gestehen, hatte sie befürchtet, dass er sofort aufspringen und die Zelle verlassen würde. Aber das tat er nicht – er blieb und schien erfreut, als sie ihm die Notizen übergab, die sie über seine Experimente zur Übertragung von Botschaften mithilfe von Runen und Feuer angefertigt hatte. Sie beobachtete ihn beim Lesen und fragte sich besorgt, ob er gekränkt reagieren würde. Schließlich war sie keine Wissenschaftlerin, und da man sie nie richtig zur Schattenjägerin ausgebildet hatte, kannte sie nur die einfachsten Runen, während Christopher über umfassende Kenntnisse des Grauen Buchs zu verfügen schien.

Doch dann meinte er: »Das ist interessant« und deutete auf eine Notiz, die sie über die Anwendung eines neuen Metalls zur Herstellung von Stelen eingetragen hatte. Wie sich herausstellte, war er weniger an tiefgehenden Kenntnissen interessiert als an der Bereitschaft, sich mit einer Idee auseinanderzusetzen, sie im Geiste hin und her zu bewegen und von allen Seiten zu betrachten. Und in diesem Moment erkannte Grace, dass es nicht nur Neugier und Vorstellungskraft waren, die Christopher zu einem Wissenschaftler machten, sondern auch Geduld. Die Geduld, einem Problem so lange zuzusetzen, bis es nachgab – anstatt der Enttäuschung nachzugeben, die unweigerlich auf Fehlschläge folgte.

Als Christopher gerade eine Zusammenfassung ihrer bislang neuesten Idee niederschrieb, klopfte es an die Gittertür, und plötzlich stand Bruder Zachariah vor ihnen. Seine pergamentfarbene Robe schwebte lautlos um ihn herum.

Und dann sprach er mit ihnen, in ihren Köpfen, und seine Worte bildeten ein einziges Chaos aus albtraumhaften Bildern. Die Weihnachtsfeier war überfallen worden. Grace’ Mutter hatte die Klinge eines scharfen Silberdolchs gegen die Kehle eines kleinen Jungen gepresst. Gegen die Kehle von Christophers kleinem Bruder. Tatiana war verschwunden, hatte Alexander mit sich genommen, und die ganze Brigade versuchte sie zu finden.

Ein lautes Klirren ertönte, als Christopher so hastig aufstand, dass er dabei sein Champagnerglas umstieß. Ohne seine Notizen aufzusammeln oder Grace auch nur anzusehen, stürmte er aus der Zelle. Zachariah betrachtete Grace einen Moment lang schweigend, dann folgte er Christopher und zog die Tür hinter sich zu.

Grace blieb allein auf dem Bett zurück; ihr Blut hatte sich in Eis verwandelt. Mutter, dachte sie. Ich hatte gerade einen Freund gewonnen. Ich hatte …

Aber so war es doch immer gewesen, oder? Ihre Mutter würde Grace nie erlauben, etwas zu fühlen, etwas zu denken oder irgendetwas zu haben, das nicht ihren eigenen Zwecken diente. Sie war sich sicher, dass Tatiana gar nicht wusste, dass sie jemals mit Christopher Lightwood gesprochen hatte – und dennoch hatte sie dafür gesorgt, dass dies auch nie wieder geschehen würde.

»Es war viel zu einfach«, sagte Cordelia leise.

»Ich bin nicht sicher, ob ich dem zustimmen kann«, erwiderte Alastair. Sie saßen im Salon des Instituts, und Alastair war gerade dabei, eine zweite Heilrune auf Cordelias Hand aufzutragen, obwohl die erste Rune dafür gesorgt hatte, dass die Schnitte auf ihren Knöcheln verkrusteten. Dabei schien es ihm nichts auszumachen, dass Cordelias Blut sein neues Jackett befleckte, und er hielt ihre Hand mit äußerster Vorsicht fest. »Von Mantiden attackiert zu werden, die aus der Nähe wirklich abscheulich aussehen, nur um dann Tatiana in letzter Sekunde davon abzuhalten, eine Rune auf einen Jungen aufzutragen, die ihn das Leben hätte kosten können …« Er beendete die Iratze und hielt Cordelias Hand prüfend in die Höhe, um sein Werk zu begutachten. »Das würde ich nicht als zu einfach bezeichnen.«

»Ich weiß.« Cordelia schaute sich im Raum um. Alle Anwesenden liefen unruhig umher und unterhielten sich mit leisen Stimmen: Will und Tessa, Lucie und Jesse und Thomas, Matthew und James. Nur Ari saß etwas abseits in einem Sessel und blickte auf ihre Hände. Anna war mit Alexander ins Institut gelaufen, ohne sich darum zu kümmern, was mit Tatiana geschah, und saß nun mit ihm und ihren Eltern in der Krankenstation. Bruder Shadrach hatte ihn untersucht und gesagt, dass Alexanders Verletzung zwar nur langsam heilen, aber dass er keinen dauerhaften Schaden davontragen würde: Tatiana hatte die Rune nicht vollenden können.

Cordelia wusste, Will wäre es lieber gewesen, wenn sich Jem um seinen Neffen gekümmert hätte. Aber James hatte Jem herbeigerufen, um Tatiana im Haus am Bedford Square festzunehmen und sie in die Stadt der Stille zu bringen. In der Zwischenzeit hatte Bridget einige wirklich außergewöhnliche Sandwiches zubereitet – Mince Pie und saure Gurken, Zuckerguss und Senf – und dazu gewaltige Mengen sehr heißen und sehr süßen Tee aufgebrüht. Sie schien diese Zusammenstellung für eine Heilkur gegen den erlittenen Schock zu halten, aber niemandem war wirklich nach Essen oder Trinken zumute.

»Aber wie konnte sie fliehen? Ich verstehe einfach nicht, wie das passieren konnte«, sagte Thomas gerade. »Tatiana wurde halb tot im Bodmin Moor gefunden und wartete auf ihren Transport zur Stadt der Stille. Im Cornwall-Institut. Im dortigen Sanktuarium. Wie ist sie also so schnell nach London gekommen, noch dazu ohne Anzeichen einer Verletzung?«

»Das war gar nicht Tatiana«, sagte Tessa. »Dieses Wesen in Cornwall. Tatiana war nie dort.«

Will nickte müde. »Die Stillen Brüder haben es uns bestätigt … leider viel zu spät. Es war alles nur ein Täuschungsmanöver.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Bei dem Wesen, das Pangborn im Moor fand, handelte es sich um einen Eidolon-Dämon. Bruder Silas sollte Tatiana dort abholen, doch als er im Cornwall-Institut eintraf, fand er ein Blutbad vor. Der Dämon hatte alle Bewohner des Instituts getötet und war dann geflohen. Ohne Zweifel Belials Belohnung für seine treuen Dienste. Der Gestaltwandler ließ noch nicht mal die irdischen Dienstboten am Leben. Man fand den furchtbar verstümmelten Körper eines jungen Mädchens auf der Eingangstreppe; anscheinend war sie dorthin gekrochen, um Hilfe herbeizurufen.« Seine Stimme brach. »Einfach grauenhaft – und alles nur, weil wir annehmen sollten, dass Tatiana hinter Schloss und Riegel sitzt.«

Tessa ergriff schweigend Wills Hand und hielt sie fest. Will Herondale war genau wie sein Sohn, dachte Cordelia: Beide nahmen sich alles sehr zu Herzen, egal wie gut sie das auch zu verbergen versuchten. Nachdem alle zum Institut zurückgekehrt waren – blutig und zerkratzt, aber mit der Neuigkeit, dass Tatiana sich ergeben hatte –, war Will sofort zu ihnen in die Eingangshalle gestürmt, um sich zu vergewissern, dass es Lucie und James gut ging. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, schaute er auf James herunter und sagte mit tonloser, ernster Stimme: »Du hast gute Arbeit geleistet, James, aber dabei hast du auch ein Versprechen gebrochen. Die Ereignisse des heutigen Abends sind zum Glück gut ausgegangen, aber sie hätten sehr leicht auch schreckliche Folgen haben können. Du hättest verletzt werden können, oder deine Schwester, oder du hättest die Verantwortung für den Tod oder die Verletzung einer anderen Person auf dich laden können. Also tu so etwas nie wieder

»Verzeih mir«, hatte James geantwortet. Er stand kerzengerade vor seinem Vater, und Cordelia erinnerte sich an seine Worte: Ich werde ihn später um Verzeihung bitten müssen. James hätte protestieren können, überlegte sie, und Will antworten können, dass sie Jesses Informationen nicht guten Gewissens und ohne zu handeln ignorieren konnten. Doch James schwieg. Er war stolz und eigensinnig, dachte Cordelia, genau wie sie selbst. Und dann dachte sie an Lucie.

Du … du bist so stolz, Cordelia.

Der Satz war nicht als Kompliment gemeint gewesen.

Will hatte James daraufhin nur leicht an der Wange berührt – mit noch immer gerunzelter Stirn – und sie danach alle nach oben in den Salon geführt. Cordelia warf einen Blick hinüber zu Lucie, doch die war in ein Gespräch mit Jesse und Thomas vertieft.

»Aber was war mit den Schutzschilden im Cornwall-Institut?«, fragte Ari. »Wenn ich es recht verstehe, konnte der Dämon ins Sanktuarium eindringen. Hätten die Schutzschilde das nicht verhindern müssen, oder zumindest irgendeine Warnung aussenden?«

»Allem Anschein nach hat Pangborn die Schutzschilde um sein Institut herum verfallen lassen.« Will schüttelte den Kopf. »Wir alle wussten, wie alt er war – vermutlich zu alt, um die Aufgaben eines Institutsleiters noch erfüllen zu können. Wir hätten etwas unternehmen müssen.«

»Es war eine raffinierte Täuschung«, sagte Matthew und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er hatte im Kampf gegen die Mantiden all seine Chakrams verbraucht und Blutergüsse an Hals und Schlüsselbeinen davongetragen. »Aber selbst wenn Belial Pangborns Schwäche nicht hätte ausnutzen können … er hätte auf jeden Fall einen Weg gefunden.«

»Es bedeutet, dass wir uns eine Blöße gegeben haben«, sagte Tessa. »Zumindest, was Tatiana betrifft. Das Institut ist gut geschützt gegen Dämonen, aber nicht gegen Schattenjäger.«

»Und schon gar nicht gegen durch und durch böse Schattenjäger«, fügte Lucie grimmig hinzu. »Man hätte ihr die Runenmale schon in der Adamant-Zitadelle entziehen sollen.«

»Das werden die Brüder der Stille jetzt mit Sicherheit nachholen«, sagte James. »Das Engelsschwert wird die Wahrheit aus ihr herausquetschen und all ihre früheren Verbrechen ans Licht bringen. Vielleicht erfahren wir auf diese Weise ja endlich auch etwas Nützliches über Belials Pläne. Denn ich bin mir sicher, dass sie noch viel weiter gehen.«

»Da wir gerade über Belial reden«, sagte Will mit ernster Stimme, »der Inquisitor hat für morgen eine Versammlung einberufen. Um Fragen bezüglich unserer Familie zu besprechen.«

»Ich verstehe nicht, warum unsere Familie ihn irgendetwas angeht«, setzte James hitzig an. Doch zu Cordelias Überraschung fiel Lucie ihm ins Wort.

»Bridgestock wird dafür sorgen, dass es ihn etwas angeht, James«, erklärte sie. »Auch wenn das Institut die einzige Heimat ist, die wir je gekannt haben, so gehört es uns nicht. Es gehört dem Rat. Alles, was wir haben, und alles, was wir sind, unterliegt der Zustimmung des Rats. Denk daran, wie viele Ratsmitglieder sich von jeher schrecklich gegenüber unserer Mutter verhalten haben, nur weil sie ein Hexenwesen ist … weil ein Elternteil von ihr ein Dämon ist. Und das schon, bevor sie wussten, dass es sich dabei um einen Höllenfürsten handelt.« Ihre Stimme klang angespannt, ganz ohne ihren üblichen Optimismus – es tat weh, sie so zu hören. »Wir hätten wissen müssen, dass sie sich gegen uns wenden, sobald sie das mit Belial herausfinden.«

»O nein , Lucie.« Cordelia sprang auf, bevor sie sich zurückhalten konnte. Lucie schaute sie überrascht an – genauer gesagt spürte Cordelia sämtliche Augen auf sich gerichtet. »Der Inquisitor kann sich aufregen und schäumen, so viel er will, aber die Wahrheit ist auf eurer Seite. Und auf die Wahrheit kommt es an. Das wird auch die Brigade einsehen.«

Lucie blickte Cordelia ruhig an. »Vielen Dank«, sagte sie.

Cordelia sank der Mut. Lucie hatte ihr auf die gleiche Art gedankt, wie man sich bei einer eher unbekannten Person bedankte, nachdem diese einem bei einer Party versehentlich auf den Fuß getreten war und sich dafür entschuldigt hatte. Doch bevor sie antworten oder sich beschämt hinsetzen konnte, weil alle anderen sie beide anzustarren schienen, flog die Tür zum Salon auf und Christopher stürmte in den Raum.

Er machte den Eindruck, als wäre er durch halb London gerannt, ohne Mantel und Handschuhe, die Stiefel und Hosenbeine mit vereistem Schlamm bespritzt, die Hände rot von der Kälte. Seine Augen hinter den Brillengläsern wirkten riesig und völlig schockiert. Für einen Moment fühlte Cordelia sich an jemand anderen erinnert … an Alexander, als Tatiana ihn gequält hatte: In seinen Augen hatte eine schreckliche Verwirrung gestanden, Verwirrung darüber, dass jemand ihm ein Leid zufügen wollte.

»Was ist passiert?«, fragte Christopher, fast im Flüsterton, und dann liefen Thomas, James und Matthew auch schon zu ihm und umarmten ihn fest. Ihre Stimmen überschnitten sich, während sie ihm erklärten, dass Alexander nichts Ernsthaftes widerfahren war, dass man Tatiana gefangen genommen hatte, dass sein kleiner Bruder auf der Krankenstation versorgt wurde. Dass es ihm bald wieder gut gehen würde.

»Ich verstehe das einfach nicht«, sagte Christopher, während langsam wieder Farbe in sein Gesicht zurückkehrte. Er hielt sich mit einer Hand an Matthews Ärmel fest und lehnte mit der anderen Schulter an James. »Warum Alexander? Wer will schon ein kleines Kind verletzen?«

»Tatiana will uns verletzen, Kit«, sagte Tessa. »Und sie weiß, dass ihr das am ehesten gelingt, indem sie unsere Familien verletzt. Das ist ihrer Meinung nach der größte Schmerz, den sie jemandem zufügen kann. Jeder von uns würde mit Freuden Qualen erleiden, um unsere Kinder zu schützen. Aber sie an unserer Stelle leiden zu sehen, ist … entsetzlich.«

»Sie ist in das Gefängnis der Gebeinstadt gebracht worden«, sagte Will kalt. »Wir werden also ausreichend Gelegenheit bekommen, sie danach zu fragen.«

Christophers Augen wurden groß. »Sie halten sie in der Stadt der Stille fest?«, fragte er und wirkte unerklärlicherweise traurig über diese Entwicklung.

Jesse schien über diese Nachricht ebenfalls beunruhigt – als ob ihm plötzlich irgendetwas klar geworden wäre. Denn er fragte in scharfem Ton: »Dort bringen sie die Gefangenen doch voneinander getrennt unter, oder? Sie müssen unbedingt darauf achten, dass Tatiana nicht in Grace’ Nähe kommt.«

»Das würden die Brüder nie zulassen«, setzte Will an.

Doch in diesem Moment erschien Cecily in der Tür, stürmte zu Christopher und umarmte ihn. »Komm mit nach oben, mein Schatz«, sagte sie. »Alexander schläft, aber er könnte jeden Moment aufwachen, und dann wird er dich sehen wollen.« Anschließend wandte sie sich mit einem warmen Lächeln Ari zu. »Und Anna bittet dich darum, ebenfalls mitzukommen, meine Liebe. Wir würden dich wirklich sehr gern bei uns haben.«

Ari begann zu strahlen. Sie erhob sich, ging zu Christopher und Cecily und verließ gemeinsam mit ihnen den Raum. Jesse schaute ihnen nach, mit einem düsteren Ausdruck in den Augen. Cordelia fragte sich, ob er gerade an Grace dachte oder – was wahrscheinlicher war – an Tatiana und daran, was als Nächstes passieren würde.

»Mein ganzes Leben lang hat meine Mutter mir erzählt, wie sehr sie euch hasst – jeden Einzelnen von euch«, sagte Jesse. Er lehnte an einer Wand, als ob er sich nur mit ihrer Hilfe aufrecht halten konnte. »Jetzt, da sie weiß, dass ich mich euch angeschlossen und an eurer Seite gegen sie gekämpft habe, wird sie das als einen noch größeren Verrat betrachten.«

»Spielt das noch eine Rolle?«, fragte Matthew. »Sie ist verrückt. Wenn sie keinen Grund für ihren Hass hat, wird sie einen erfinden.«

»Ich denke nur laut nach«, sagte Jesse. »Sie weiß, wer ich bin und dass ich bei euch bin. Nichts wird sie davon abhalten, bei ihrem Verhör dem Rat all das zu erzählen. Vielleicht könnte ich euch dadurch helfen, dass ich der Brigade als Erster davon erzähle. Wenn ich gestehe, wer ich wirklich bin, nämlich Jesse Blackthorn, könnte ich ihnen von dem Wahnsinn und den Lügen meiner Mutter erzählen, von ihrem Hass auf euch und ihrem Verlangen nach Rache.«

»Nein«, sagte James sehr sanft. »Das ist ein äußerst großzügiges Angebot … vor allem, wenn man bedenkt, was das für dich bedeuten würde. Aber wenn die Brigade Lucie der Nekromantie verdächtigte, würde das ihre Meinung über uns nur noch weiter verschlechtern.« Als Lucie protestieren wollte, hielt er abwehrend die Hand hoch. »Ich weiß, ich weiß: Es war keine Nekromantie. Aber so wird man es nicht sehen. Außerdem stehen die Chancen gut, Jesse, dass Tatiana nicht sofort mit der Wahrheit über dich herausrücken wird. Denn das würde zu viele unangenehme Fragen über ihre eigenen Verbrechen nach sich ziehen. Und über ihr Verhältnis zu Belial.«

»Wo wir gerade von Belial sprechen«, sagte Will. »Ich danke dir dafür, dass du uns schützen willst, Jesse. Aber es ist längst überfällig, dass wir uns all den Fragen stellen, anstatt sie wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen schweben zu lassen. Wir haben dieses Geheimnis viel zu lange bewahrt … und meiner Meinung nach dabei vergessen, welche Macht es anderen über uns verleiht.«

Tessa nickte. »Ich wünschte, wir hätten allen in dem Moment davon erzählt, als wir es selbst erfuhren. Jetzt müssen wir die Wahrheit von der Wahnvorstellung trennen, dass wir mit Belial im Bunde stehen.« Sie schnaubte verächtlich, was Cordelia ein Lächeln entlockte: Für Tessa war das ein äußerst undamenhaftes Verhalten. »›Im Bunde stehen.‹ Allein die Vorstellung ist mittelalterlich und dumm. Steht Magnus ›im Bunde‹ mit seinem dämonischen Vater? Oder Ragnor Fell? Malcolm Fade? Nein, natürlich nicht: Diese Fragen wurden schon vor Jahrhunderten beantwortet.«

»Immerhin steht nur dein Wort gegen Tatianas«, sagte Cordelia, »und ich glaube, die meisten Leute wissen, dass ihr Wort nicht viel wert ist.«

»Was wird eurer Meinung nach bei der morgigen Versammlung passieren?«, fragte Alastair.

Will legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Das lässt sich nur schwer sagen. Genau für diese Art von Fragen ist das Engelsschwert gedacht, und natürlich werden Tessa und ich mit Freuden nach Idris reisen, um die Wahrheit zu bezeugen. Aber selbst für jemanden wie Bridgestock wäre eine solche Befragung ein extremer Schritt. Ich schätze, es hängt alles davon ab, wie viel Ärger Bridgestock uns bereiten will.«

Matthew stöhnte. »Er liebt es, anderen Ärger zu bereiten.«

»Ach, du meine Güte«, sagte Tessa nach einem Blick auf die Uhr am Kaminsims. »Es ist schon ein Uhr in der Früh. Wir müssen uns alle für den morgigen Tag ausruhen, denn er verspricht, sehr unerfreulich zu werden.« Dann seufzte sie. »Cordelia, Alastair, ich werde euch nach unten zu eurer Kutsche begleiten.«

Alastair und Cordelia tauschten einen Blick – das war ein seltsames Angebot. Zum einen hätten sie den Weg zur Eingangstür natürlich auch selbst gefunden, zum anderen boten normalerweise Will oder James an, sie zur Tür zu bringen. Aber Tessa schien fest entschlossen zu sein.

Alastair ging zu Thomas, um ihm schnell und leise etwas mitzuteilen. Cordelia wollte die beiden nicht stören, deshalb ließ sie sich Zeit damit, ihre ruinierten Handschuhe einzustecken und sich den Schal um den Hals zu binden. Während sie sich den Staub abklopfte, spürte sie eine sanfte Hand auf ihrer Schulter.

James stand neben ihr. Die Schnittwunde über seinem Auge war nahezu verheilt. Allerdings vermutete Cordelia, dass möglicherweise eine Narbe quer durch seine Augenbraue zurückbleiben würde. Natürlich würde das James nur umso verwegener aussehen lassen – so schien es bei ihm nun mal immer der Fall zu sein. »Du hast recht«, sagte er leise.

»Wahrscheinlich«, antwortete Cordelia. »Nur … womit genau?«

»Es war viel zu einfach«, sagte James. »Tatiana wollte gefunden werden. Sie hat sich Alexander gegriffen, ist ein kurzes Stück geflohen und hat dann darauf gewartet, dass man sie festnimmt. Allerdings kann ich beim besten Willen nicht sagen, warum sie das getan hat.« Er stockte. »Daisy«, setzte er an. »Die Sache, die du noch erledigen wolltest, vorhin … hast du sie erledigt?«

Cordelia zögerte. Das Gespräch mit Matthew im Spielsaal schien eine gefühlte Ewigkeit hinter ihr zu liegen – genau wie die Weihnachtsfeier. Obwohl seitdem nur wenige Stunden vergangen waren, kam es ihr so vor, als ob sie damals eine völlig andere Person gewesen wäre.

»Ja, das habe ich«, bestätigte sie. »Es war schrecklich.«

James machte den Eindruck, als ob er sie noch etwas anderes fragen wollte. Doch dann trat Tessa zu ihnen, fasste Cordelia mit der für sie üblichen Effizienz am Ellbogen und führte sie, gemeinsam mit Alastair, die Treppen hinab.

Nach der Wärme des Salons traf sie die kalte Luft vor der Eingangstür wie ein Schock. Die Kutsche wurde sofort vorgefahren, und Alastair kletterte hinein. Er schien zu spüren, dass Tessa einen Augenblick mit seiner Schwester allein sprechen wollte, und spürte wahrscheinlich auch, dass dieses Gespräch unangenehm verlaufen könnte. Rasch zog er die Vorhänge der Kutsche zu und schenkte Cordelia und Tessa damit so viel Privatsphäre wie möglich.

»Cordelia, es gibt da etwas, das ich dir mitteilen muss«, sagte Tessa sanft.

Cordelia holte in der Eiseskälte tief Luft. Sie verspürte eine Einsamkeit, die sie immer nur mit London verband: Sie war eine unter Millionen im Dunkel der Großstadt, und zugleich ganz allein in derselben Dunkelheit.

»Ich weiß, dass es einen guten Grund gibt, warum du jetzt bei deiner Mutter sein musst«, fuhr Tessa fort. »Aber ich bin nicht völlig blind. Ich weiß, dass das nicht der einzige Grund ist. Zwischen dir und James steht nicht alles zum Besten. Oder zwischen dir und Matthew, was das betrifft.«

»Oder zwischen James und Matthew«, sagte Cordelia. »Es tut mir so leid: Du hast darauf vertraut, dass ich James glücklich mache, und nun tue ich das genaue Gegenteil.«

Tessa schwieg einen Moment und sagte dann: »Ich weiß, dass Leute einander wehtun. Und ich weiß auch, dass Beziehungen kompliziert sind. Das kannst du mir glauben. Aber meiner Erfahrung nach … Na ja, wenn jeder den anderen genug liebt, wird sich immer ein Weg finden, wie sich die Probleme letztendlich lösen lassen.«

»Das ist ein wunderbarer Gedanke«, sagte Cordelia. »Ich hoffe, dass du recht behältst.«

Tessa lächelte. »Das ist mir bisher immer gelungen.«

Und damit drehte sie sich um und ging zurück ins Institut. Cordelia griff gerade nach der Klinke der Kutschentür, als sie schnelle Schritte hinter sich hörte. Vielleicht hatte Tessa vergessen, ihr noch etwas mitzuteilen, oder Thomas …

Doch an der Eingangstür stand Lucie. Lucie, in ihrer Monturjacke und dem lavendelfarbenen Kleid, dessen Rüschen am Saum sie umwehten wie Meerschaum. Sie stürmte die Stufen der Eingangstreppe hinunter und warf sich in Cordelias Arme. Und Cordelia spürte, dass sie zitterte, als wäre ihr eiskalt.

Cordelias Herz schmolz dahin. Sie zog Lucie fest an sich und wiegte sie hin und her wie ein kleines Kind.

»Danke«, flüsterte Lucie, das Gesicht an Cordelias Schulter vergraben. »Für das, was du gesagt hast.«

»Nicht der Rede wert«, sagte Cordelia. »Ich meine, es stimmte. Es stimmte und war nicht der Rede wert.«

Lucie stieß ein kurzes Lachen aus. »Daisy«, sagte sie, »es tut mir so leid. Und ich habe solche Angst.« Ihr Atem stockte. »Nicht um mich. Um meine Familie. Um Jesse.« Cordelia küsste Lucie auf den Scheitel. »Ich werde dich nie verlassen«, sagte sie. »Ich werde immer an deiner Seite sein.«

»Aber du hast doch gesagt …«

»Es tut nichts zur Sache, was ich gesagt habe«, erwiderte Cordelia bestimmt. »Ich werde an deiner Seite sein.«

Die Tür der Kutsche schwang auf, und Alastair musterte sie gereizt. »Ich muss schon sagen«, murrte er. »Wie viele Treffen willst du auf diesen Stufen noch abhalten, Layla? Muss ich mich darauf einrichten, die Nacht in der Kutsche zu verbringen?«

»Das wäre wirklich außerordentlich zuvorkommend von dir«, erwiderte Cordelia. Und obwohl diese Antwort nicht übermäßig lustig war, begannen Lucie und sie zu lachen, während Alastair mürrisch vor sich hin brummte. Und für einen kurzen Moment schien es so, als ob alles wieder in Ordnung kommen würde.