Das Feuer fällt zusammen, alles hat sich verändert,
Ich bin nicht länger ein Kind, und was ich vor mir sehe,
ist kein Märchen, sondern Leben – mein Leben.
Amy Lowell, »A Fairy Tale«
Alastair setzte sich tatsächlich schneller mit Cordelia in Verbindung, als sie erwartet hatte, und zwar dadurch, dass er einfach direkt ins Institut kam.
Will und Tessa waren durch das Portal in der Krypta verschwunden, und die allgemeine Stimmung war bedrückt, als es an der Eingangstür klingelte. Lucie hatte geöffnet und sofort Cordelia geholt, die ihren Bruder in der Eingangshalle vorfand, wo er sich den Schnee von den Stiefeln stampfte. Er hielt eine kleine Reisetasche in der Hand und zog eine leidgeprüfte Miene. »Da draußen braut sich ein Gewitter zusammen«, sagte er. Und tatsächlich sah Cordelia durch die offene Haustür, dass sich der Himmel verdüstert hatte und Gewitterwolken wie große, kollidierende Blöcke aus Rauch über den Horizont zogen. »Diese Situation«, fuhr er fort, »ist absolut lächerlich.«
»Da gebe ich dir recht«, sagte Cordelia, schloss die Tür und warf einen Blick auf Alastairs Reisetasche. »Aber … hast du vor, zu bleiben ?«
Er war gerade dabei, den Mantel abzulegen, hielt jetzt jedoch inne. »Mâmân meinte, ich solle aufhören, hin und her zu laufen und zu dir fahren. Glaubst du … sie wollen mich nicht hierhaben?«, fragte er mit einem plötzlichen Zögern. »Vermutlich hätte ich zuerst fragen sollen …«
»Alastair, joon «, entgegnete Cordelia. »Wenn du bleiben willst, dann bleibst du. Das hier ist das Institut. Sie können dich nicht abweisen, und das würde ich auch nicht zulassen. Es ist nur so, dass …«
»Dass man Charles zum vorläufigen Leiter des Instituts ernannt hat? Ich weiß.« Er schaute sich um, als wollte er sichergehen, dass niemand in der Nähe war, der ihnen zuhörte. »Deshalb bin ich hier. Ich kann Thomas nicht auf so engem Raum mit Charles allein lassen. Wer weiß, wie unangenehm Charles sich ihm gegenüber zeigen wird, und Thomas ist zu gutmütig, um …« Er verstummte und runzelte die Stirn. »Sieh mich nicht so an.«
»Du solltest mit Thomas reden .«
»Mikoshamet«, erwiderte Alastair und machte dabei ein furchterregendes Gesicht, das Cordelia erschreckt hätte – wenn sie noch sieben Jahre alt gewesen wäre. »Wo sind denn alle?«
»In der Bibliothek«, antwortete Cordelia. »James hat allen etwas mitzuteilen. Komm, ich zeige dir, wo die Zimmer sind, und wenn du ausgepackt hast, kommst du zu uns.«
»Es macht dir doch nichts aus, oder?«, fragte Cordelia und legte eine Hand auf James’ Schulter. »Dass Alastair hier ist?«
James saß am Kopf des langen Bibliothekstisches. Im Moment waren sie noch allein, aber die anderen waren auf dem Weg. Alle bis auf Charles natürlich: Er war kurz nach Wills und Tessas Abreise eingetroffen, hatte niemanden begrüßt und war direkt in Wills Büro gegangen, wo er sich einschloss. Irgendwann hatte Cordelia gesehen, dass Bridget ihm Tee brachte. Selbst Bridget hatte verkniffen gewirkt, als würde sie diese Aufgabe eher widerwillig erledigen.
James legte seine Hand auf ihre. »Er ist dein Bruder. Familie. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was er wohl denkt, wie ich dich behandelt habe. Er muss es unbedingt erfahren.«
Matthew kam als Erster herein. Cordelia hatte sich zwar gefragt, ob die anderen überhaupt merken würden, dass sich etwas in ihrer Beziehung zu James geändert hatte. Aber bei Matthew war sie sich sicher: Er registrierte es sofort. Sie bezweifelte, dass er genau wusste, wie weit die Veränderung reichte. Doch er setzte sich mit misstrauischem Blick an den Bibliothekstisch, die Schultern leicht gekrümmt, als erwartete er schlechte Nachrichten.
Wir müssen auf jeden Fall eine Gelegenheit finden, mit ihm allein zu reden, dachte sie. Allerdings würde sich keine Chance dazu bieten, bevor James seine Geschichte erzählt hatte; dafür war es jetzt zu spät. Inzwischen trafen auch die anderen ein: Anna und Ari, Jesse und Lucie – die James mit großer Sorge musterte, bevor sie sich zu seiner Rechten niederließ –, Thomas und Christopher und schließlich Alastair, den Thomas eindeutig nicht erwartet hatte. Thomas setzte sich leicht unbeholfen; eigentlich war er etwas zu groß für die Bibliotheksstühle, und seine langen Beine ragten an den Seiten heraus. Ansonsten hielt er sich jedoch zurück. Alastair nahm demonstrativ lässig neben ihm Platz.
Cordelia versuchte, Christophers Blick quer über den Tisch aufzufangen. Sie war sich nicht ganz sicher, warum er Grace überredet hatte, ihr alles zu erzählen. Aber sie war ihm unglaublich dankbar dafür. Er lächelte sie an, allerdings nur auf seine normale, freundliche Art, nicht so, als wüsste er, dass er etwas Besonderes getan hatte. Sie nahm sich vor, ihm persönlich zu danken, sobald sie Gelegenheit dazu hatte.
»Also, dann weih uns mal ein, James«, forderte Matthew, als alle saßen. »Man kommt sich ja vor wie in einer dieser Szenen aus einem Roman von Wilkie Collins … wenn das Testament eröffnet wird, das Licht ausgeht und dann jemand stirbt.«
»Oh, die liebe ich«, sagte Lucie. »Nicht dass ich will, dass jemand stirbt«, fügte sie hastig hinzu. »James, was ist los? Ist irgendetwas passiert?«
James war sehr blass. Er faltete die Hände und verschränkte die Finger miteinander. »Ja, es ist etwas passiert«, bestätigte er, »aber nicht erst heute. Sondern vor langer Zeit. Allerdings habe ich selbst erst vor Kurzem davon erfahren.«
Und dann erzählte er ihnen alles: angefangen von seiner ersten Begegnung mit Grace in Blackthorn Manor in Idris bis hin zu ihrer Ankunft in London, der Zersplitterung des Armbands und der Erkenntnis, dass man seinen Geist gegen seinen Willen manipuliert hatte. Sein Ton klang ruhig und gleichmäßig, aber Cordelia konnte die darunterliegende Wut wahrnehmen – wie ein Fluss, der unter den Straßen einer Stadt verlief.
Diejenigen unter den Anwesenden, die die Geschichte bereits kannten – Cordelia, Christopher und Jesse –, hörten ausdruckslos zu und beobachteten die Reaktionen der anderen. Cordelia schaute vor allem zu Matthew. James’ Worte würden so vieles für ihn verändern, dachte sie. Vielleicht würde es ihm helfen. Beim Erzengel – sie hoffte inständig , es würde helfen.
Im Laufe der Erzählung wurde Matthew immer stiller und weißer um den Mund. Lucie machte den Eindruck, als müsste sie sich jeden Moment übergeben. Thomas schaukelte heftig auf seinem Stuhl vor und zurück, bis Alastair eine Hand auf seinen Arm legte. Annas Augen blitzten wie blaues Feuer.
Nachdem James seinen Bericht beendet hatte, herrschte langes Schweigen. Cordelia hätte so gern etwas gesagt und die Stille beendet, aber sie wusste, dass das nicht ging. James hatte sich vor der Reaktion seiner Freunde und seiner Familie gefürchtet. Einer von ihnen musste als Erster das Wort ergreifen.
Lucie fand als Erste ihre Sprache wieder. Sie hatte während James’ Erzählung gezittert und platzte jetzt heraus: »Oh … Jamie … Es tut mir so leid, dass ich jemals mit ihr zusammengearbeitet habe, dass ich nett zu ihr war …«
»Ist schon gut, Luce«, sagte James sanft. »Du wusstest es nicht. Niemand wusste davon, nicht einmal Jesse.«
Lucie wirkte schockiert, als wäre sie gar nicht auf die Idee gekommen, dass Jesse davon gewusst haben könnte. Sie wandte sich ihm zu: »Nach deinem letzten Besuch in der Stadt der Stille warst du sehr bedrückt. Hat sie es dir da gesagt?«
Jesse nickte. »Dort habe ich zum ersten Mal von der ganzen Geschichte erfahren.« Er wirkte so aschfahl wie damals, als Belial von ihm Besitz ergriffen hatte, dachte Cordelia. Das übliche ruhige Licht war aus seinen Augen verschwunden. »Ich habe Grace immer geliebt, mich immer um sie gekümmert. Sie ist meine kleine Schwester. Doch als sie mir gestand, was sie getan hatte … Da bin ich aus der Zelle gegangen. Und habe seitdem nicht mehr mit ihr gesprochen.«
Christopher räusperte sich. »Was Grace getan hat, ist unverzeihlich. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie noch ein Kind war, als sie diesen Auftrag erhielt. Und sie hatte Angst vor ihrer Mutter … davor, was Tatiana tun würde, wenn sie sich weigerte.«
»Das spielt keine Rolle «, sagte Thomas. Seine braunen Augen leuchteten mit einer ungewöhnlichen Wut. »Wenn ich jemanden umgebracht hätte und dann behaupten würde, ich hätte es nur getan, weil ich Angst hatte … wäre ich dann etwa kein Mörder?«
»Hier geht es nicht um Mord, Thomas.«
»Aber es ist genauso schlimm«, entgegnete Matthew. Er hielt eine der Flaschen in der Hand, die Christopher ihm gegeben hatte, trank aber nicht daraus. Stattdessen fuhr er wieder und wieder mit dem Finger über die Gravur. »Grace hat James die Dinge genommen, die wir an ihm so gut kennen, seine liebevolle Güte, sein Vertrauen und seinen Idealismus, und hat sie wie ein Messer gegen ihn gerichtet. Wie ein Elbenfluch.«
James versuchte, Matthews Blick auf sich zu lenken – Cordelia konnte es deutlich beobachten. Aber so entsetzt Matthew auch sein mochte, er konnte seinem Parabatai nicht in die Augen sehen. Er saß da und hielt die billige Flasche umklammert, als wäre sie ein Talisman.
»Sie hat ihm die Möglichkeit geraubt, selbst Entscheidungen zu treffen«, sagte Ari. Auch sie machte den Eindruck, als wäre ihr schlecht. »Als ich mit ihr unter einem Dach gelebt habe, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass sie so etwas auf dem Gewissen hat.«
»Aber James geht es jetzt gut«, sagte Christopher sanft. »Am Ende ist alles gut ausgegangen. Das ist meistens der Fall.«
»Weil er sich gewehrt hat«, fauchte Matthew. »Weil er Cordelia so sehr liebte, dass er dieses schreckliche Armband zerbrach.« Von seinem Ausbruch offenbar selbst überrascht, schaute er endlich zu James. »Du liebst sie wirklich. Genau wie du gesagt hast.«
» Matthew «, tadelte Lucie empört.
Doch James sah Matthew nur mit festem Blick an. »Ja, das stimmt. Ich habe sie immer geliebt.«
»Und was ist mit Grace?«, fragte Thomas leise.
»Ich hasse sie«, antwortete James. Christopher zuckte zusammen, und Jesse wandte den Blick ab. »Zumindest … Vor ein paar Tagen ist sie ein letztes Mal zu mir gekommen, als sie auf der Flucht vor ihrer Mutter war. Und hat ein letztes Mal versucht, mich zu verführen. Ihr war nicht bewusst, dass das Armband zerbrochen war. Es war seltsam mit anzusehen, wie sie versuchte, dieses Spiel zu spielen, das in der Vergangenheit immer funktioniert hatte. Ich hatte das Gefühl, als würde ich neben mir stehen und erkennen, dass ich mich bei jeder vorherigen Begegnung mit ihr selbst verloren hatte. Dass mein ganzes Leben eine Lüge gewesen war … dass sie es dazu gemacht hatte. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie verachte, dass ich ihr niemals verzeihen würde und sie nichts tun könnte, um ihre Verbrechen wiedergutzumachen. Sie ist jetzt in der Stadt der Stille, weil ich verlangt habe, dass sie sich stellt.« Er klang ein wenig verwundert, als wäre er von seiner eigenen Fähigkeit zu Wut und Rache überrascht. »Ich habe sie dorthin gebracht.« Er schaute zu Jesse. »Du hast es gewusst, oder?«
»Ja.« Jesse klang müde und verzweifelt. »Sie hat es mir gesagt. Ich mache dir nicht den geringsten Vorwurf.«
»Sie hat eine Menge Schaden angerichtet«, bestätigte Christopher, »und sie hat gewusst, was sie tat. Dafür hasst sie sich. Aber ich glaube, sie will einfach nur irgendwo weit weg leben und nie wieder mit irgendwem Kontakt haben.«
»Dafür ist die Kraft, die sie besitzt, zu gefährlich«, wandte Alastair ein. »Das ist so, als würde sie eine gefährliche Giftschlange oder einen ungezähmten Tiger besitzen.«
»Was wäre, wenn die Stillen Brüder ihr diese Kraft nehmen?«, fragte Christopher. »Dann wäre sie harmlos.«
»Warum verteidigst du sie, Kit?«, fragte Anna. Sie klang nicht wütend, nur neugierig. »Liegt es daran, dass sie irgendwann zur Brigade zurückkehren wird und wir lernen müssen, mit ihr zu leben? Oder daran, dass sie Wissenschaft mag?«
»Nein … ich … Ich glaube einfach, dass jeder eine zweite Chance verdient«, antwortete Christopher. »Wir alle haben nur ein Leben bekommen und müssen mit den Fehlern leben, die wir gemacht haben.«
»Wohl wahr«, murmelte Alastair.
»Trotzdem«, setzt Thomas an. »Wir können ihr nicht verzeihen.« Alastair zuckte zusammen, und Thomas fügte hastig hinzu: »Ich meine damit, wir können ihr nicht in James’ Namen vergeben. Das kann nur James.«
»Ich bin noch immer wütend … sehr wütend«, sagte James, »aber ich stelle fest, dass ich das nicht sein möchte. Ich möchte nach vorn schauen, aber meine Wut zieht mich zurück. Und …« Er holte tief Luft. »Und mir ist bewusst, dass Grace irgendwann zur Brigade zurückkehren wird. Allerdings weiß ich nicht, wie ich dann mit ihr umgehen soll. Wie ich ihren Anblick ertragen werde.«
»Das wirst du nicht müssen«, sagte Jesse knapp. »Meine Familie besitzt viel Geld. Es wird ihr zukommen, da meine Mutter jetzt im Gefängnis ist. Wir werden ein Haus für Grace kaufen, irgendwo auf dem Land. Ich werde sie lediglich bitten, nie wieder in die Nähe von einem von euch zu kommen – oder von Personen, die euch nahestehen.«
»Aber, bitte, gib sie nicht ganz auf«, sagte Christopher. »Jesse … du bist alles, was sie noch hat. Der Einzige, der freundlich zu ihr war. Lass sie nicht allein in der Dunkelheit.«
»Kit«, seufzte Anna mit einem wehmütig liebevollen Unterton in der Stimme, »du hast ein zu weiches Herz.«
»Ich sage das nicht, weil ich naiv oder töricht bin«, erklärte Christopher. »Sondern weil ich auch Dinge sehe, die nicht in Messbechern und Reagenzgläsern sind. Ich sehe, wie Hass die Person vergiftet, die hasst – und nicht diejenige, gegen die sich der Hass richtet. Wenn wir Grace mit der Gnade begegnen, mit der sie James nicht behandelt hat und die ihr selbst nie entgegengebracht wurde, dann wird das, was sie getan hat, keine Macht über uns haben.« Er schaute zu James. »Du bist unglaublich stark gewesen, das alles so lange allein zu ertragen. Lass uns dir helfen, damit du die Wut und Verbitterung hinter dir lassen kannst. Denn andernfalls … Wenn wir uns von dem Verlangen hinreißen lassen, Grace ihre Taten heimzuzahlen, inwiefern unterscheiden wir uns dann von Tatiana?«
»Verdammt, Kit«, sagte Matthew. »Seit wann bist du so einsichtig? Ich dachte, du wärst nur gut darin, den Inhalt eines Reagenzglases in ein anderes Reagenzglas zu schütten und ›Heureka!‹ zu rufen.«
»Das trifft ja auch die meiste Zeit auf mich zu«, pflichtete Christopher ihm bei. Thomas, Christopher und Matthew waren jetzt im Salon, da Matthew eine unerklärliche Aversion gegen die Vorstellung hatte, sich nach der langen Sitzung in der Bibliothek in den Spielsaal zurückzuziehen. Letztendlich war nichts Konkretes beschlossen worden, aber Thomas konnte sehen, dass es James deutlich besser ging als zuvor. Er hatte mit einer Leichtigkeit lächeln können, von der Thomas geglaubt hatte, er hätte sie vor langer Zeit verloren, in seinem ersten Jahr an der Akademie. Alle hatten James vorbehaltlose Unterstützung bei allem versprochen, was er tun würde. Und natürlich absolute Verschwiegenheit. James würde alles seiner Familie erzählen, sobald Tessa und Will aus Idris zurückkamen. Darüber hinaus hatte er sich noch nichts überlegt, aber das brauchte er jetzt auch nicht. Es blieb ihm genügend Zeit, über alles nachzudenken.
»Und lass mich dir sagen, wie schön es ist, James, dich so glücklich mit Cordelia zu sehen«, hatte Ari gesagt, als sie alle aufgestanden waren. »Ein echtes Beispiel dafür, dass die Liebe letztendlich siegt.«
James und Cordelia hatten beide leicht verlegen, aber auch erfreut gewirkt. Nur Matthew hatte auf seine Hände auf dem Tisch gestarrt, und Thomas hatte schnell einen Blick mit Christopher getauscht. Während die anderen in der Bibliothek darüber diskutierten, was man tun konnte, um den Namen der Herondales reinzuwaschen, und wie sich Cordelias Paladin-Bund vielleicht aufheben ließ, schlich sich Matthew aus dem Zimmer, dicht gefolgt von Thomas und Christopher. Christopher schlug eine Partie Whist vor, womit Matthew einverstanden war, und Thomas schlug den Spielsaal vor, was Matthew ablehnte.
Und als sie es sich im Salon bequem gemacht hatten und Matthew ein Kartenspiel auf den Tisch legte, war zu Thomas’ großer Überraschung Alastair hereingekommen.
Er hatte ein großes Buch mit Ledereinband in der Hand gehalten und – statt mit den anderen Karten zu spielen – sich auf eines der Sofas gesetzt und darin zu lesen begonnen. Thomas hatte erwartet, dass Matthew eine finstere Miene ziehen oder eine bissige Bemerkung machen würde. Doch er hatte nichts dergleichen getan.
Während sie spielten, holte Matthew gelegentlich die Flasche heraus, die Christopher ihm gegeben hatte, und fuhr mit dem Finger über die Gravur. Offenbar eine neue nervöse Angewohnheit. Allerdings trank er nicht daraus.
Als Thomas und Matthew das meiste ihres Geldes wie üblich an Christopher verloren hatten, klopfte es an der Tür und James steckte den Kopf herein. »Matthew«, sagte er, »könnte ich dich kurz sprechen?«
Matthew zögerte.
»Keine gute Idee«, murmelte Alastair, der noch immer in sein Buch starrte.
Matthew warf Alastair einen Blick zu und legte dann seine Karten auf den Tisch. »Tja, ich habe hier ohnehin schon alles verloren. Vermutlich sollte ich mal nachsehen, was ich in dieser Welt sonst noch verlieren kann.«
»Das ist ein wenig theatralisch«, fand Thomas. Aber Matthew war bereits aufgestanden und folgte James hinaus auf den Gang.
Cordelia konnte James ansehen, wie sehr ihn sein Bericht erschöpft hatte. Trotzdem musste er sich hinterher den wohlmeinenden, aber schwierigen Fragen der anderen stellen: über seine Gefühle damals und heute; was mit Grace und Tatiana geschehen würde; ob er sich jetzt an Dinge, kleine Details oder Vorkommnisse erinnerte, die er vergessen hatte. Und natürlich entschuldigten sich alle, dass sie nichts gemerkt hatten – auch wenn James immer wieder geduldig erklärte, dass die Magie des Armbands dafür gesorgt hatte, dass die anderen es übersahen. Wie ein Zauberglanz, der bewirkte, dass die Blicke der Irdischen an Schattenweltlern oder Schattenjägern in ihrer Montur vorbeiglitten. Sie waren alle verzaubert worden, zumindest ein wenig, hatte er gesagt. Sie waren alle betroffen gewesen.
Während all dieser Fragen hatte Cordelia versucht, Matthew im Auge zu behalten. Aber er hatte sich schon bald aus dem Zimmer gestohlen, gefolgt von Thomas und Christopher, und Alastair hatte sich ein Buch aus dem Regal genommen, bevor auch er sich ihnen angeschlossen hatte.
Nachdem sich alle an verschiedene Orte im Institut begeben hatten – einige, darunter auch Lucie, hatten sich an den Fenstern der Bibliothek versammelt, um das Fortschreiten des Gewitters zu beobachten –, ging James zu Cordelia und nahm ihre Hand.
»Was glaubst du, wo er ist?«, fragte er und brauchte nicht zu erklären, wer damit gemeint war. Sie schloss die Finger um seine Hand und hatte das Gefühl, Matthew und James gleichermaßen beschützen zu müssen. Wenn Matthew wütend war, wenn er auf James losging, nachdem dieser sein Herz geöffnet und seine Geheimnisse preisgegeben hatte, dann konnte er ihn schwer verletzen. Aber Matthew konnte ebenso sehr verletzt werden – jetzt, da er erfahren hatte, dass all das, was er bei seiner Abreise mit Cordelia nach Paris über James gedacht hatte, eine Lüge gewesen war.
»Christopher und Thomas werden Matthew auf andere Gedanken bringen wollen«, sagte sie. »Matthew wird nicht in den Spielsaal wollen … Ich habe eine Idee, wo sie sein könnten.«
Sie hatte richtiggelegen: Alle vier befanden sich im Salon. Cordelia wartete nervös mit James auf dem Gang, als Matthew zu ihnen kam.
Er wirkte zerzaust, müde und extrem nüchtern. Als bedeutete der Verzicht auf Alkohol, eine Art Schutzpanzer abzulegen. Nur Stolz konnte ihn jetzt noch panzern – der Stolz, der ihn vor dem Hell Ruelle aufrechterhalten hatte, während er sich sorgfältig die Hände mit einem monogrammierten Taschentuch abwischte … so als hätte er sich nicht gerade in den Rinnstein übergeben. Ein Stolz, der sein Kinn hocherhoben hielt und seinen Blick festigte, als er von Cordelia zu James schaute. »Schon gut: Es ist alles in Ordnung. Ich weiß, was ihr mir sagen wollt, und ihr braucht es nicht auszusprechen.«
Schmerz blitzte in James’ Gesicht auf – eine scharfe, oberflächliche Wunde.
»Nein, es ist nicht alles in Ordnung, Matthew«, widersprach Cordelia. »Nichts von alldem ist so, wie wir es gern hätten. Was Tatiana getan hat – die Wirkung des Armbands –, hat nicht nur James’ Leben verändert, sondern auch meines. Und deines genauso. Wir alle haben Entscheidungen getroffen, die wir nicht getroffen hätten, wenn wir die Wahrheit gekannt hätten.«
»Das mag sein«, entgegnete Matthew. »Aber es ändert nichts daran, wo wir jetzt stehen.«
»Doch, das tut es«, sagte James. »Du hattest allen Grund zu der Annahme, dass ich Cordelia nicht liebe. Du hast unmöglich wissen können, was ich selbst nicht wusste.«
»Das spielt keine Rolle. Es ist nicht wichtig«, erwiderte Matthew mit einer Stimme, so scharf wie eine Klinge. Cordelia spürte eine eisige Kälte in der Brust. Matthews Stimmungen waren wechselhaft. Er konnte in einem Moment so und im nächsten ganz anders empfinden; trotzdem hätte sie sich nie einen Matthew vorstellen können, der eine solche Angelegenheit für unwichtig hielt.
»Es ist sehr wohl wichtig«, sagte sie entschlossen. »Wir lieben dich. Wir wissen, dass es ein schrecklicher Zeitpunkt für diese Enthüllungen ist, für all das …«
»Stopp.« Matthew hob beide Hände. Sie zitterten leicht im schwachen Licht des Gangs. »Als ich dir eben in der Bibliothek zugehört habe, James, musste ich die ganze Zeit daran denken, dass ich all das an deiner Seite erlebt habe. Aber ich habe nichts davon bemerkt, nichts davon geahnt.«
»Ich habe es doch schon erklärt«, sagte James. »Das Armband …«
»Aber ich bin dein Parabatai «, unterbrach Matthew ihn, und Cordelia erkannte, dass sich die Klinge in seiner Stimme gegen ihn selbst richtete. »Ich war so sehr in mein eigenes Elend verstrickt, dass ich die Wahrheit nicht sehen konnte. Mir war bewusst, dass deine ›Liebe‹ zu Grace wenig Sinn ergab. Schließlich kenne ich dein Herz, deine Ansichten. Grace hatte nichts an sich, was in einer vernünftigen Welt deine Zuneigung gewonnen hätte. Und dennoch ließ ich es geschehen … tat es als rätselhaftes, menschliches Verhalten ab. Die Fehler, die ich gemacht habe, die Fehler, die ich übersehen habe …«
»Math«, sagte James verzweifelt. »Nichts von alldem ist deine Schuld.«
Doch Matthew schüttelte den Kopf. »Verstehst du denn nicht? Cordelia hatte mir ja schon bei der Weihnachtsfeier gesagt, dass sie dich liebt. Und ich dachte: Gut, ich darf enttäuscht sein, ich darf eine Weile wütend sein. Das steht mir zu. Aber jetzt … Wie kann ich jetzt zornig oder frustriert sein? Ich kann nicht enttäuscht sein, dass du dein Leben zurückhast und deine unerschütterliche Liebe. Ich kann nicht wütend sein, wenn du nichts falsch gemacht hast. Ich kann nur auf mich selbst wütend sein.«
Und damit wandte er sich ab und ging zurück in den Salon.
Christopher und Thomas hatten so getan, als würden sie Karten spielen, während Matthew sich mit James und Cordelia unterhielt. Zumindest Thomas tat so. Er war sich nicht ganz sicher, was Christopher da machte. Vielleicht hatte er ja sein eigenes Spiel erfunden, ohne es Thomas zu sagen, und spielte zufrieden nach dessen Regeln.
Alastair las unverdrossen in seinem Buch, zumindest, bis Matthew in den Salon zurückkehrte. Thomas sank der Mut, denn er vermutete, dass die Unterhaltung mit James nicht gut verlaufen war. Matthew wirkte fiebrig: Seine Wangen waren stark gerötet und seine Augen glänzten. »Für mich keine Karten mehr«, verkündete er. »Ich werde Charles jetzt zur Rede stellen … warum er sich erpressen lässt.«
Alastair warf sein Buch mit einem dumpfen Knall auf den Tisch. »Ich habe schon geahnt, dass du so etwas vorhast.«
»Dann bist du also nicht nur hier, um ein Buch über …«, Matthew warf einen Blick auf den Einband, »… über Hexenmeisterverbrennungen im sechzehnten Jahrhundert zu lesen?«
»Nein«, sagte Alastair. »Ich habe es wahllos aus dem Regal gezogen. Eine Schande, dass so viele Bücher mit schrecklichen Dingen gefüllt sind.«
»Warum hast du dir gedacht, dass ich meinen Bruder zur Rede stellen will?«
Alastair zählte die Gründe an seinen Fingern ab. »Weil Charles hier ist. Weil er sich in Wills Arbeitszimmer eingeschlossen hat. Weil die anderen Erwachsenen weg sind und er nicht einfach verschwinden kann, da er sich um das Institut kümmern soll.«
»Tja, damit hast du vollkommen … recht«, sagte Matthew eher widerstrebend. »Du hast zusammengefasst, warum es sich um einen hervorragenden Plan handelt.«
»Math«, wandte Thomas ein. »Ich bin mir nicht so sicher, dass das wirklich der Fall ist …«
»Ich habe die positiven Gründe genannt«, unterbrach ihn Alastair. »Es gibt auch negative. Wir sitzen alle mit Charles in diesem Gebäude fest. Und er kann uns das Leben verdammt schwer machen, wenn du ihn verärgerst – was du sicherlich tun wirst.«
Matthew schaute die drei der Reihe nach an. Mit einem direkten und sehr nüchternen Blick, im doppelten Wortsinn. Nicht bloß ernst … Thomas hatte Matthew oft ernst erlebt, aber jetzt war irgendetwas anders an ihm. Als wüsste er, dass er ein großes Risiko auf sich nehmen würde; als würde er nicht mehr glauben, dass Konsequenzen nur andere Leute betrafen und nicht ihn oder seine Freunde.
Es erschütterte Thomas ein wenig, als er erkannte, dass dieser Matthew, diese plötzlich besonnene Person, ein anderer Matthew war als der, den er die letzten Jahre gekannt hatte. Wer bist du gewesen?, dachte er. Und zu wem wirst du jetzt?
»Mein Bruder ist unglücklich«, sagte Matthew, »und wenn er unglücklich ist, dann macht er anderen das Leben schwer. Ich will ihm sagen, dass ich von der Erpressung weiß. Aber nicht nur, damit er es nicht länger zulässt, sondern auch, um ihm ein wenig von der Last abzunehmen. Um unser aller willen.«
Nach einem Moment nickte Alastair. »In Ordnung. Ich werde mich dir nicht in den Weg stellen.«
»Dem Erzengel sei Dank, denn ich hatte schon ganz verzweifelt auf deine Zustimmung gewartet«, sagte Matthew, allerdings ohne wirkliche Boshaftigkeit in der Stimme.
Schließlich wurde der Beschluss gefasst, dass Matthew zu Charles gehen sollte und Thomas ihn begleiten würde, um zu verhindern, dass das Ganze in einen Familienzwist ausartete. Charles musste begreifen, dass die Erpressung eine ernste Angelegenheit war … dass nicht nur Matthew davon wusste und dass sie nicht unter den Teppich gekehrt werden konnte.
Thomas folgte Matthew die Treppe hinauf und fürchtete sich vor der bevorstehenden peinlichen Situation. Ohne anzuklopfen, stieß Matthew die Tür zu Wills Arbeitszimmer auf, wo Charles am Schreibtisch saß, offenbar ganz vertieft in einen Stapel Geschäftsbücher.
Mit ausdrucksloser Miene blickte er auf, als sie hereinkamen. »Thomas, Matthew. Stimmt irgendetwas nicht?«
»Charles«, sagte Matthew ohne Umschweife, »du wirst erpresst, um deine Unterstützung für Bridgestock zu sichern. Und das muss aufhören. Du kannst Bridgestock nicht so sehr fürchten, dass du jeden verrätst, dem du je etwas bedeutet hast. Selbst du kannst nicht so tief sinken.«
Charles lehnte sich langsam auf seinem Stuhl zurück. »Vermutlich hätte ich mit einer solch abstrusen Anschuldigung von dir rechnen müssen, Matthew«, sagte er. »Aber es überrascht mich, dass du da mitmachst, Thomas.«
Thomas war dieser ganzen Geschichte plötzlich überdrüssig. »Er hat Beweise, Charles«, sagte er.
Etwas flackerte in Charles’ Augen auf. »Was für Beweise?«
»Ein Brief, den Bridgestock geschrieben hat«, sagte Matthew.
»Wie üblich hast du voreilige Schlüsse gezogen, die auf nichts als Mutmaßungen beruhen«, seufzte Charles. »Darf ich mal fragen, wie du an einen solchen Brief kommst? Vorausgesetzt, er befindet sich in deinem Besitz und er stammt vom Inquisitor – was im Übrigen eine ziemlich wilde Anschuldigung ist.«
»Hier ist er«, sagte Matthew, zog den Brief aus der Innentasche seiner Jacke und hielt ihn hoch. »Ari hat ihn gefunden. Deshalb hat sie ihr Zuhause verlassen. Der Brief ist eindeutig für dich bestimmt. Es besteht nicht der geringste Zweifel daran, was da vor sich geht.«
Charles’ Gesicht wurde bleich. »Warum hast du dann nicht schon vorher mit mir darüber gesprochen?«
»Aus dem Brief ging nicht hervor, was du für Bridgestock tun solltest«, erklärte Thomas. »Aber nach deinem Auftritt bei der Versammlung gestern wissen wir Bescheid. Du hast dich gegen Will und Tessa ausgesprochen, gegen deine eigene Familie, weil er dich bedroht hat und du zu große Angst hattest, um dich zu weigern.«
»Und was könnt ihr eurer Meinung nach tun, um das Problem zu lösen?«, fragte Charles mit einem gespenstischen Lächeln.
»Dir Mut machen«, sagte Matthew. »Bridgestock hat also vor, allen mitzuteilen, dass du Männer liebst. Na und? Einige werden es verstehen, und diejenigen, die kein Verständnis haben, sind es nicht wert, dass du sie kennst.«
»Du verstehst das nicht.« Charles legte den Kopf in die Hände. »Wenn ich in dieser Welt Gutes tun und im Rat in eine Führungsposition aufsteigen will, dann … kann ich nicht …« Er zögerte. »Dann kann ich nicht so sein wie du, Matthew. Du hast keinen Ehrgeiz und kannst deshalb sein, wer auch immer du sein willst. Du kannst tanzen, mit wem du willst, mit Männern, Frauen oder wem auch immer … in deinen Salons und Clubs, bei deinen Orgien.«
»Du gehst zu Orgien?«, wollte Thomas von Matthew wissen.
»Schön wär’s«, murmelte Matthew. »Charles, du bist ein Idiot, aber du warst immer ein anständiger Idiot. Wirf das nicht weg – nicht wegen dieses verdammten Maurice Bridgestock.«
»Und wie genau soll eure Hilfe aussehen? Wenn ich meine Meinung über die Herondales revidiere, bedeutet das nur, dass ich mit ihnen verurteilt werde.«
»Wir werden für dich bürgen«, sagte Thomas. »Wir werden bezeugen, dass du erpresst und gezwungen worden bist, Bridgestock zu unterstützen.«
»Das ist nicht möglich, ohne den Erpresserbrief und seinen Inhalt offenzulegen«, wandte Charles ein. »Ihr wisst, dass er nicht nur damit droht, allen zu erzählen, dass ich Männer liebe, sondern dass ich Alastair liebe … dass ich Alastair geliebt habe. Ich beschütze also auch Alastair.«
In diesem Moment flog die Tür auf und Alastair stürmte herein. Seine schwarzen Augen funkelten. Er wirkte aufgebracht und auch irgendwie großartig, dachte Thomas. Stolz und stark, wie die persischen Herrscher von einst. »Dann hör damit auf«, teilte er Charles mit. »Ich brauche deinen Schutz nicht. Nicht, was das betrifft. Mir ist es lieber, alle erfahren davon, als dass du ein Dutzend guter Leute durch Lügen in den Abgrund reißt, nur weil du Angst vor Bridgestock hast.«
Charles’ Gesicht schien sich zu verziehen. »Keiner von euch kann sich vorstellen, wie es ist, ein solches Geheimnis zu bewahren …«
»Wir alle können das«, entgegnete Thomas energisch. »Ich ebenfalls. Denn ich bin wie du, du Idiot. Solange ich mich erinnern kann. Und, Charles, du hast recht: Es ist nicht so einfach wie für Matthew, der sich nie darum geschert hat, was die anderen denken. Den meisten von uns ist das nicht egal. Und dein Geheimnis ist sicherlich deine Angelegenheit. Es ist ekelhaft, dass Bridgestock es auf diese Art gegen dich verwendet. Aber es geht auch nicht an, dass Will und Tessa und unsere Eltern einen so schrecklichen Preis für seine Verbrechen zahlen.«
»Sie werden durch das Engelsschwert rehabilitiert«, erwiderte Charles heiser. »Und dann ist das alles vorbei.«
»Charles«, sagte Alastair. »Weißt du denn nicht, wie Erpressung funktioniert? Es ist nie vorbei. Bridgestock wird nicht damit aufhören. Er wird dich mit deinem Geheimnis so lange wie möglich manipulieren wollen. Glaubst du ernsthaft, dass er demnächst nicht noch andere Dinge verlangt? Dass er sein Druckmittel einfach aufgeben wird? Er wird dich ausbluten .«
Charles schaute nervös von Alastair zu Matthew und wieder zurück.
Thomas fühlte mit ihm; Charles war ein Feigling, aber er wusste selbst nur zu gut, wie schwer Tapferkeit in einer solchen Situation sein konnte. »Wenn wir versuchen, Bridgestock zur Strecke zu bringen, wirst du uns dann helfen?«, fragte er. »Selbst wenn du den Grund der Erpressung nicht nennen kannst?«
Charles schaute sie hilflos an. »Es würde darauf ankommen, was ihr tut und welche Konsequenzen das haben könnte …«, setzte er an.
Matthew schüttelte heftig den Kopf. »Charles, du bist ein Weichling und ein Sturkopf. Ich möchte zu Protokoll geben, dass ich es versucht habe. Ich habe es versucht, auch wenn du es nicht verdienst.«
Mit diesen Worten stolzierte er aus dem Salon.
Charles schaute zu Alastair, als wäre sonst niemand im Raum. Niemand sonst auf der Welt. »Alastair, ich … du weißt, dass ich nicht kann.«
»Du kannst es sehr wohl, Charles«, entgegnete Alastair müde. »Und auf der Welt gibt es viele Leute wie uns, die nicht das haben, was du hast: eine Familie, die dich niemals im Stich lassen wird. Geld. Sicherheit. Da draußen existieren viele Menschen, die ihr Leben verlieren könnten, wenn sie so etwas zugeben. Dagegen würdest du nur an Prestige verlieren. Und trotzdem willst du nicht das Richtige tun.«
Thomas hatte den Eindruck, dass dem nichts mehr hinzuzufügen war. Charles schien sichtlich geschrumpft, schüttelte aber noch immer den Kopf, als könnte er damit die Wahrheit abwehren. Alastair machte auf dem Absatz kehrt und ging. Und Thomas folgte ihm nach einem Moment.
Dann fand er sich allein mit Alastair auf dem Korridor wieder. Matthew war längst fort. Alastair lehnte mit dem Rücken an der Wand; sein Atem ging schwer. »Ahmag«, knurrte er. Thomas war sich ziemlich sicher, dass das Idiot bedeutete und dass Alastair nicht ihn damit meinte.
»Alastair«, setzte er an. Er wollte ein paar vage, freundliche Worte sagen, etwas in der Art, dass nichts von alldem Alastairs Schuld war. Doch Alastair packte ihn, zog ihn an sich und schob die Finger in seinen Nacken. Seine Augen waren weit aufgerissen, schwarz und fiebrig. »Ich muss hier raus«, sagte er. »Begleite mich auf eine Kutschfahrt. Ich muss an die frische Luft.« Er lehnte seine Stirn an Thomas’. »Komm mit, bitte. Ich brauche dich.«
»Daisy, du hast einen Dämon heraufbeschworen? Ganz allein?«, rief Lucie. »Wie kühn und tapfer … und auch eine schreckliche Idee«, fügte sie hastig hinzu, als sie James’ finstere Miene sah. »Eine sehr schlechte Idee. Aber auch kühn.«
»Tja, es war auf jeden Fall interessant «, sagte Cordelia. Sie hockte auf der Tischkante und knabberte an einem Butterkeks. »Aber ich würde es nicht noch mal tun. Es sei denn, mir bliebe keine andere Wahl.«
»Was nicht der Fall sein wird«, meinte James. Er warf ihr einen gespielt ernsten Blick zu. Sie schenkte ihm ein Lächeln, woraufhin der ernste Teil des Blickes dahinschmolz. Jetzt sahen sie einander verliebt an.
Lucie war begeistert. Sie hatte das Gefühl, als hätte James die ganze Zeit etwas gefehlt, ein kleines Stück seiner Seele, und jetzt war es wieder da. Natürlich war er nicht grenzenlos glücklich. Verliebtheit bedeutete ja nicht, dass man nicht mitbekam, was sonst noch in der Welt passierte. Sie wusste, dass er sich Sorgen um Matthew machte – der gerade in einem der Erker saß, in einem Buch las und keine der servierten Speisen anrührte. Sorgen um ihre Eltern, Sorgen wegen Tatiana und Belial und wegen dem, was in Idris geschah. Aber jetzt konnte er sich diesen Dingen wenigstens mit einem intakten Selbst stellen, überlegte sie.
Alle hatten sich in der Bibliothek versammelt, wo Bridget Sandwiches, Wildpasteten, Tee und Gebäck für sie bereitgestellt hatte. Dabei hatte sie sich lautstark darüber beschwert, dass sie keine Zeit gehabt hatte, so kurzfristig ein richtiges Abendessen für so viele Leute zu kochen. Außerdem, so hatte sie hinzugefügt, bereitete ihr das aufziehende Gewitter Sorgen, und sie konnte sich nicht richtig auf das Kochen konzentrieren.
Alle waren hier, bis auf Thomas und Alastair, die laut Matthew seltsamerweise wegen irgendeiner Besorgung mit einer Kutsche des Instituts weggefahren waren. Selbst Charles war kurz aufgetaucht, hatte sich ein Stück Wildpastete genommen, war wieder hinausgestürmt und hatte die anderen einer unvermeidlichen Diskussion über Belials Pläne überlassen.
»Jetzt, da wir die ganze schreckliche Geschichte dieses Armbands kennen, können wir Rückschlüsse auf Belials Ziele ziehen«, sagte Anna, die im Schneidersitz in der Mitte eines Tisches neben einem Regal mit Büchern über Meerdämonen saß. »James das Herz zu brechen und ihn zu quälen, gehörte sicherlich dazu, aber ich glaube nicht, dass es Belials eigentliches Ziel war. Eher eine amüsante Beigabe.«
»Schrecklich.« Cordelia schauderte. »Tja, auf jeden Fall wollte er James in seine Gewalt bringen. Das hat er schon immer gewollt – er möchte, dass James mit ihm zusammenarbeitet. Dass er ihm seinen Körper anbietet, damit er davon Besitz ergreifen kann. Er hat zweifellos gehofft, dass er ihn mit Grace’ Hilfe dazu überreden kann.«
»Das Ganze ist eine grausame Geschichte, aber irgendwie hat sie auch etwas Ermutigendes«, meinte Christopher, der ein Hähnchensandwich so vorsichtig in der Hand hielt, als würde es sich um einen Messbecher mit Säure handeln. »Das Armband war Belials manifestierter Wille – und James hat diesem Willen erfolgreich standgehalten.«
James runzelte die Stirn. »Ich fühle mich nicht gerüstet für ein mentales Kräftemessen mit Belial. Allerdings habe ich mich gefragt, ob mein Training mit Jem mir geholfen hat, mich gegen ihn zu behaupten.«
Der Innenhof leuchtete blau und scharlachrot auf, als Blitze aus den Wolken zuckten. Und die Wolken … Lucie hatte noch nie solche Wolken gesehen: dicht, aber mit zerklüfteten Rändern, als wären sie mit einer Rasierklinge aus geschmolzenem Geschützmetall an den dunkler werdenden Himmel gezeichnet worden. Als die Wolken sich auftürmten und miteinander kollidierten, spürte sie, wie ihre Haut prickelte, als hätte man sie mit einem Dutzend Gummibänder traktiert.
»Alles in Ordnung?« Jesse musterte sie fragend. Nach James’ Bericht war er schweigsam gewesen. Und Lucie konnte verstehen, warum. Obwohl sie ihm wieder und wieder versichert hatte, dass ihm unmöglich jemand die Schuld geben konnte, wusste sie, dass er ihr nicht voll und ganz glaubte – nicht glauben konnte .
»Ich fühle mich schrecklich«, sagte Lucie. »James ist mein Bruder, und trotzdem habe ich mich mit Grace verbündet, sogar heimliche Treffen mit ihr abgehalten. Ich wusste nicht, was sie getan hatte, aber ich wusste, dass sie ihn verletzt hatte. Mir war klar, dass sie ihm das Herz gebrochen hatte. Ich dachte nur …«
Jesse schwieg, lehnte sich ans Fenster und gab ihr Zeit, ihre Gedanken zu sammeln.
»Ich dachte, es wäre kein richtiger Herzschmerz … und dass er sie nicht wirklich liebt«, sagte sie schließlich. »Ich dachte immer, er würde irgendwann zur Vernunft kommen und erkennen, dass er Daisy liebt.«
»Na ja, in gewisser Hinsicht stimmte das ja auch.«
»Das spielt keine Rolle«, entgegnete Lucie. »Sie mag ihm vielleicht nicht im klassischen Sinn das Herz gebrochen haben – aber das, was sie getan hat, war viel schlimmer. Und trotzdem …« Sie schaute zu Jesse hoch. »Wenn ich nicht gehandelt hätte, weiß ich nicht, ob ich dich zurückbekommen hätte.«
»Glaub mir.« Jesses Stimme klang heiser. »Was meine Schwester betrifft, bin auch ich hin- und hergerissen.«
Draußen donnerte es so laut, dass die Fenster in ihren Rahmen klirrten. Der Wind fegte ums Institut und heulte im Kamin. Normalerweise hätte Lucie so einen Abend genossen, mit einem Buch im warmen Bett, während draußen ein Gewitter tobte. Doch jetzt stellte sie fest, dass sie sich unbehaglich fühlte. Vielleicht lag es daran, dass dieses Gewitter für die Jahreszeit so ungewöhnlich war. Denn wann war Schnee je von Blitz und Donner begleitet worden?
Plötzlich flog die Bibliothekstür auf. Charles, dessen rote Haare sich aus der üblichen Pomadenfrisur gelöst hatten, schob jemanden vor sich her – jemanden in einem zerrissenen, nassen Kleid, mit wirrem Haar in der Farbe von Milch.
Lucie sah, wie James sich versteifte. »Grace«, sagte er.
Alle erstarrten, bis auf Christopher, der sich mit verhärteter Miene erhob. »Charles, was in aller Welt …?«
Charles’ Gesicht war vor Wut verzerrt. »Ich fand sie, wie sie um den Eingang zum Sanktuarium herumschlich«, knurrte er. »Sie ist offenbar aus der Stadt der Stille ausgebrochen.«
Wusste er davon, fragte sich Lucie – wusste er, was Grace mit ihm gemacht hatte? Dass sie ihn verzaubert hatte, damit er ihr einen Heiratsantrag unterbreitete? James hatte gesagt, dass seine Erinnerungen an Grace’ Machenschaften allmählich wiederkehrten. Vielleicht war es bei Charles ja genauso. Er wirkte auf jeden Fall wütend genug.
Lucie hatte Grace immer für kalt und beherrscht gehalten, hart und strahlend wie ein Eiszapfen. Aber jetzt wich Grace zurück. Sie sah furchtbar aus. Ihre Haare hingen in nassen Strähnen herab, ihre nackten Arme waren zerkratzt, und sie zitterte heftig. »Lass mich gehen, Charles. Bitte, lass mich gehen …«
»Dich gehen lassen?«, fragte Charles ungläubig. »Du bist eine Gefangene. Eine Kriminelle.«
»Ich sage es nur ungern, aber Charles hat recht«, meinte Matthew, der sein Buch weggelegt hatte und ebenfalls aufgestanden war. »Wir sollten die Stadt der Stille informieren.«
»Sie existiert nicht mehr«, flüsterte Grace. »Alles ist weg.«
Lucie schaute unwillkürlich zu James. Als er ihnen seine Geschichte erzählt hatte, war klar geworden, dass er nicht damit rechnete, Grace in absehbarer Zeit – oder jemals – wieder zu begegnen. Doch jetzt wirkte er wie versteinert und starrte sie an, als wäre sie ein zum Leben erwachter Albtraum.
Schließlich legte Cordelia ihm eine Hand auf den Arm und fragte: »Grace, was meinst du damit? Was existiert nicht mehr?«
Grace zitterte so heftig, dass ihre Zähne klapperten. »Die Stadt der Stille. Sie ist …«
»Lass diese Lügen«, unterbrach Charles sie. »Hör zu …«
»Charles, es reicht !«, rief Jesse und lief durch den Raum. »Lass sie los«, befahl er, und zur Überraschung aller folgte Charles seiner Aufforderung, wenn auch mit widerstrebender Miene. »Gracie«, sagte Jesse behutsam, zog seine Jacke aus und legte sie um Grace’ schmächtige Schultern. Jesse war wirklich nicht besonders kräftig, aber seine Jacke schien seine Schwester regelrecht zu verschlucken. »Wie bist du aus der Stadt der Stille entkommen?«
Grace schwieg, umklammerte nur Jesses Jacke und zitterte. In ihren Augen lag ein entsetzter Blick, der Lucie erschreckte. Sie kannte diesen Ausdruck, hatte ihn in den Augen von Geistern gesehen, deren letzte Erinnerungen etwas Schrecklichem galten.
»Sie braucht Runen«, sagte Jesse. »Heilrunen und wärmende Runen. Ich weiß nicht, wie …«
»Ich mache das«, sagte Christopher. Ari und Anna standen ebenfalls auf, um ihm zu helfen. Sie setzten Grace auf einen Stuhl, und sofort bearbeitete Christopher ihren linken Arm mit seiner Stele. Grace wollte Jesses Jacke nicht ausziehen und hielt sie weiterhin mit der anderen Hand umklammert.
»Grace«, sagte James schließlich. Er hatte wieder etwas Farbe im Gesicht, und seine Stimme klang fest. »Du musst uns verraten, was passiert ist. Warum du hier bist.«
»Ich sage es nur ungern«, meinte Anna, »aber sollte sie nicht gefesselt sein, während wir sie befragen? Sie besitzt eine sehr gefährliche Kraft.«
Grace strich sich ein paar nasse Strähnen aus dem Gesicht. »Meine Kraft ist verschwunden«, sagte sie dumpf. »Sie wurde mir genommen.«
»Und warum sollten wir das glauben?«, fragte Charles stirnrunzelnd.
»Weil es stimmt«, erklärte Christopher. »Sie hat dich aufgefordert, sie gehen zu lassen. Aber das hast du nicht getan.«
»Er hat recht«, bestätigte Matthew. »Ich habe gesehen, wie sie ihre Kraft benutzt hat. Charles hätte tun sollen, was immer sie verlangt.«
Charles wirkte verwirrt. Auch Lucie war verwundert. Wann hatte Matthew denn gesehen, wie Grace ihre Kraft einsetzte? Aber jetzt war nicht der richtige Moment, ihn danach zu fragen.
»Tja, das ist doch gut, oder nicht?«, sagte Cordelia. »Die Brüder der Stille sollten sie ihr ja wegnehmen.«
»Aber die Stillen Brüder waren nicht diejenigen, die sie mir genommen haben«, sagte Grace und begann erneut, heftig zu zittern. »Sondern meine Mutter. Die Brüder haben sie in die Stadt der Stille gebracht. Ich habe ihnen gesagt, dass sie mich finden würde, und genau das ist passiert …«
Sie hob die Hände, als wollte sie etwas abwehren, etwas Schreckliches und Unsichtbares. Christopher nahm ihr Handgelenk, als Jesses Jacke von ihren Schultern herunterrutschte und auf den Boden fiel. Zu Lucies Überraschung schien seine Berührung Grace zu beruhigen. Sie beugte sich zu ihm vor – scheinbar instinktiv und unbewusst. »Meine Mutter hat die Kraft aus mir herausgerissen. Nicht mit ihren eigenen Händen. Sie hatte irgendeine Kreatur bei sich, eine Art Dämon.«
»Das ist Unsinn«, meinte Charles. »Tatiana ist in der Stadt der Stille eingesperrt; Grace hat sich die Geschichte ausgedacht, um zu erklären, warum sie aus dem Gefängnis geflohen ist.«
»Ich glaube nicht, dass das Unsinn ist«, widersprach Cordelia scharf. »Wenn sie wirklich aus der Stadt der Stille geflüchtet wäre, dann ist dies wohl der letzte Ort, den sie aufsuchen würde.«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, sagte James. »Charles, wir müssen in die Gebeinstadt.«
Im Raum breitete sich Stille aus. »Also gut«, sagte Charles schließlich. »Ich rufe die Patrouille zusammen. Wir reiten raus nach Highgate und sehen nach, was da los ist. Wenn überhaupt irgendetwas los ist«, fügte er mit einem gehässigen Unterton hinzu.
Dann stürmte er hinaus und schlug die Bibliothekstür hinter sich zu. Jesse hatte sich an die andere Seite von Grace gestellt, gegenüber von Christopher. Jetzt legte er eine Hand auf die Schulter seiner Schwester. Lucie konnte ihm ansehen, wie viel Überwindung es ihn kostete, sie so zu behandeln wie früher. Aber Grace schien sich bei der Berührung zu entspannen; sie wischte sich rasch übers Gesicht, und Lucie erkannte, dass sie weinte.
»Grace, keine Sorge«, sagte Christopher. »Du bist hier in Sicherheit. Erzähl uns einfach, was passiert ist, eins nach dem anderen.«
»Ich hatte es ihnen gesagt«, setzte Grace mit leiernder Stimme an. »Dass meine Mutter mich überall finden würde. Und dann kam sie in meine Zelle. Sie hatte eines von diesen Wesen bei sich. Sie sehen aus wie Stille Brüder, sind aber keine. Seine Augen waren … offen. Ein schreckliches Licht strahlte daraus hervor.«
James straffte die Schultern. »Seine Augen leuchteten? Hatten sie eine Farbe?«
»Grün«, antwortete Grace. »Ein hässliches, schreckliches Grün. Der Stille Bruder legte die Hände auf mein Gesicht, und meine Mutter befahl ihm, mir meine Kraft zu nehmen, sie aus mir herauszureißen.«
»Hat es wehgetan?«, fragte Jesse sanft. Lucie konnte den Schmerz in seiner Stimme hören. Und die Angst. Vermutlich stieg ein Gefühl der Furcht in ihm auf, genau wie in Lucie. Wie in ihnen allen.
Grace nickte. »Sie lachte und sagte, ich sei nicht mehr wichtig. Ich sei ein Nichts, eine leere Hülle. Als sie mir den Rücken zugekehrt hat, bin ich losgerannt. Durch die Stadt der Stille – dort wimmelte es von diesen Kreaturen .« Ihre Stimme wurde lauter, die Worte überschlugen sich. » Sie sahen aus wie Stille Brüder und Eiserne Schwestern. Aber das waren sie nicht. Sie hatten Waffen und diese schrecklichen Augen. Und sie griffen die echten Stillen Brüder an. Ich sah, wie Bruder Enoch auf einen von ihnen mit einem Langschwert einstach, aber dieses Wesen fiel nicht um. Es starb nicht, dabei hätte es sterben müssen . Selbst ein Stiller Bruder wäre an dieser Wunde gestorben. Schließlich sind sie nicht unsterblich.« Sie rang ihre nackten, vom Frost roten Hände. Und Lucie musste daran denken, wie glamourös sie Grace einst gefunden hatte, wie unglaublich elegant. Jetzt hing ihr helles Haar in nassen Strähnen herab, und Lucie sah erst in diesem Moment, dass ihre Füße nackt waren – nackt und schmutzig und mit getrocknetem Blut bedeckt.
»Die echten Brüder der Stille liefen die Treppe hinauf. Bruder Enoch sah mich und zog mich mit sich. Ich hatte das Gefühl, als würde ich von einer Flut erfasst. Sie trug mich fort. Enoch versuchte, mich abzuschirmen. Er sagte mir wieder und wieder, ich müsse dem Institut etwas übermitteln …«
»Was hat er gesagt?«, fragte James. »Was müssen wir erfahren?«
Grace zuckte zusammen. Sie fürchtete sich vor James, erkannte Lucie plötzlich. Weil er wütend auf sie gewesen war? Weil er sie ins Gefängnis der Gebeinstadt gebracht hatte? Lucie wusste, dass er Grace kein Haar gekrümmt hätte. Sie erinnerte sich daran, was ihr Vater ihr einmal gesagt hatte: Es gibt auf der Welt niemanden, vor dem wir mehr zurückschrecken als vor denjenigen, denen wir Schaden zugefügt haben . Vielleicht war das ja die Ursache. Vielleicht war Grace ja zu Schuldgefühlen fähig.
»Grace«, sagte Ari sanft, aber bestimmt, wie ein Kindermädchen zu einem Kind. »Was hat Bruder Enoch gesagt?«
»Er meinte, dass meine Mutter den Schlüssel gefunden haben muss«, flüsterte Grace. »Dass sie ihn aus der Zitadelle genommen hat.« Sie schluckte. »Er sagte, diese Kreaturen seien vom Pfad der Toten gekommen. Dann schob er mich durch eine Tür, und ich stürzte hinaus in die Nacht. Ich war allein. In London, allein auf einem Friedhof.«
»Was ist mit den anderen Stillen Brüdern?«, fragte Matthew. »Jem ist in Idris, aber Enoch, Shadrach …«
Grace schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich konnte nicht wieder zurück in die Stadt, konnte nicht mal mehr die Tür sehen. Also bin ich losgerannt, bis ich die Straße fand. Eine Hansom-Kutsche hielt an, und der Fahrer fragte, ob alles in Ordnung sei. Er hatte Mitleid mit mir. Und brachte mich hierher …«
Sie wurde vom Geräusch des Institutstors unterbrochen, das mit einem lauten, metallischen Klirren aufflog. Lucie drehte sich zum Fenster um und blickte durch die halb vereiste Scheibe nach draußen. »Das war Charles«, sagte sie erleichtert, als sie die rothaarige Gestalt auf dem Pferd sah. »Er reitet mit Balios hinaus nach Highgate.«
Das Tor schloss sich hinter ihm, während zahlreiche kleine Objekte vom Wind aufgewirbelt wurden und durch die Luft flogen: Zweige und Laub und Reste alter Vogelnester. Am Himmel schienen die Wolken zu wogen wie eine aufgewühlte Meeresoberfläche.
»Der Schlüssel«, sagte Anna stirnrunzelnd. »Was hat es zu bedeuten, dass Tatiana ihn aus der Adamant-Zitadelle genommen hat?«
»Meine Mutter hat nach einem Schlüssel gesucht«, berichtete Jesse finster. »Sie und Belial. Es stand in ihren Notizen.«
»Vielleicht ein Schlüssel zu den Zellen der Stadt der Stille?«, fragte Matthew. »Tatiana muss sich selbst aus ihrer Zelle befreit haben und dann diese … diese Wesen hereingelassen haben. Diese falschen Stillen Brüder und Eisernen Schwestern.«
»Wir wissen aus den Visionen, die James im Spiegel gesehen hat, dass Belial versucht, von jemandem Besitz zu ergreifen«, überlegte Jesse laut. »Dass er Chimären-Dämonen benutzt hat. Offenbar haben sie von diesen Stillen Brüdern Besitz ergriffen, auf Belials Geheiß.«
»Stille Brüder können nicht besessen sein«, wandte Cordelia ein. »Sie haben den gleichen Schutz wie wir alle. Ihrer ist sogar noch stärker.«
Christopher hielt noch immer Grace’ Handgelenk umklammert. »Es hört sich an, als hätten sie gegeneinander gekämpft, nicht wahr, Grace?«, fragte er. »Als hätten einige von ihnen dich und die Stadt verteidigt?«
Grace nickte. »Enoch war noch er selbst. Genau wie die anderen, die ich erkannte. Aber diese Dunklen, Leuchtenden … das waren Fremde. Ich hatte sie noch nie gesehen.«
»Tatsächlich …?«, sagte James. »Waren sie auch anders gekleidet? Versuch, dich zu erinnern, Grace. Es ist wichtig.«
Lucie musterte ihn aufmerksam. James hatte eindeutig an irgendetwas gedacht, aber sein Blick war nach innen gerichtet. Im Moment war er im Netz seiner eigenen Gedanken gefangen und arbeitete sich durch das Problem vor ihm, als würde er ein Wollknäuel entwirren.
Grace schaute auf ihre Füße. »Ja. Ihre Roben waren weiß und mit anderen Runen bedeckt.«
»Weiße Roben.« Lucie tauschte einen Blick mit James. Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde vor Aufregung. »Begräbniskleidung.«
»Die Eiserne Gruft«, sagte James. »So hat Belial das gemacht: Die meisten Stillen Brüder sind davor geschützt, dass jemand von ihnen Besitz ergreift, aber nicht die in der Gruft . Ihre Seelen haben ihre Körper verlassen, und ihre Körper wurden unter der vulkanischen Ebene bestattet, in der Nähe der Adamant-Zitadelle. Sie sind leere Gefäße.«
Anna fluchte heftig, während Ari verkündete: »Es gibt tatsächlich einen Schlüssel zur Eisernen Gruft. Ich habe Zeichnungen davon gesehen. Er wird …« Bestürzt schlug sie eine Hand vor den Mund. »O Gott, er wird in der Adamant-Zitadelle aufbewahrt …«
»Meine Mutter muss ihn gestohlen haben«, sagte Jesse benommen. »Sie hat die Gruft für Belial aufgeschlossen und ihn hineingelassen. Er hat die Chimären-Dämonen dorthin gebracht und von den Körpern der Eisernen Schwestern und Stillen Brüder Besitz ergriffen, die dort schutzlos lagen. Und dann ist er mit ihnen zur Stadt der Stille marschiert, um sie anzugreifen.«
»›Sie erwachen‹«, flüsterte Cordelia. »›Sie erheben sich.‹ Und: ›Sie marschieren.‹ All diese Botschaften, sie haben uns gesagt, in welcher Phase sich Belials Plan befand. Aber wir haben es nicht verstanden.«
»Wir wurden ausgetrickst«, sagte James leise. »Als Tatiana bei der Weihnachtsfeier auftauchte, diese Anschuldigungen ausstieß und sogar Alexander entführte …«
»Es war zu einfach, sie zu ergreifen«, bestätigte Cordelia. »Tatiana wollte gefangen genommen werden. Wollte in die Stadt der Stille gebracht werden, damit sie handeln konnte … was auch immer sie damit beabsichtigt.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich ihr Wunsch war«, wandte Jesse ein. »Es ist das, was Belial will. Er hat sie als Figur in seinem Schachspiel benutzt. Eine Figur, die er in die Stadt der Stille schieben konnte – eine Art trojanisches Pferd, erfüllt von seinem bösen Geist, seinem Willen …«
Plötzlich ertönte ein heftiger Donnerschlag. Er erschütterte das Institut so stark, dass ein paar Lampen umfielen und die brennenden Holzscheite im Kamin verrutschten. Lucie umklammerte die Fensterbank, während die anderen aufkeuchten … und sah dann durch die Scheibe, dass das Tor des Instituts offen stand.
Aber Charles konnte unmöglich schon wieder aus Highgate zurück sein. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte hinunter.
Und erstarrte.
Im Innenhof stand Tatiana Blackthorn, eine todbringende Vogelscheuche in einem blutverschmierten Kleid. Der Wind peitschte ihr schlohweißes Haar um ihr Gesicht. Sie hatte die Arme in die Luft gereckt, als wollte sie die Blitze herbeirufen.
Und sie war nicht allein. In einem Halbkreis um sie herum standen genau die Gestalten, die Grace beschrieben hatte: Stille Brüder in weißen Roben, die Kapuzen zurückgeschoben, sodass ihre Augen zum Vorschein kamen … Augen, die wie von giftgrünem Feuer erfüllt leuchteten.
Tatiana warf den Kopf zurück, und schwarze Blitze zuckten durch die Wolken. »Kommt heraus!«, rief sie mit einer Stimme, die wie ein gewaltiges Glockengeläut durch das Institut hallte und die Mauern in ihren Grundfesten erschütterte. »Kommt heraus, Lightwoods! Kommt heraus, Carstairs! Kommt heraus, Fairchilds! Kommt heraus, Herondales! Kommt heraus und stellt euch eurem Schicksal! «