25

Vom lauten Sturm geplagt

Wild, öde, finster, sternenlose Nacht,

Des Chaos Stürme brausen rund herum,

Ungünstiger Himmel rings bis auf die Seite,

Die von den Himmelszinnen, wenn auch fern,

Den matten Schein der Strahlenlust empfängt,

Die minder wird vom lauten Sturm geplagt.

John Milton, »Das verlorene Paradies«

»Laanati« , murmelte Alastair. Verdammt. Er starrte schon die ganze Zeit aus dem Fenster der Kutsche – seit er und Thomas aus dem Innenhof des Instituts gerollt waren. Thomas hatte gehört, wie er Davies, dem Kutscher, die Anweisung gegeben hatte: »Fahr uns einfach durch die Straßen, es ist mir egal, wohin.« Davies schien sich diese Weisung zu Herzen genommen zu haben. Denn obwohl Thomas sein ganzes Leben in London verbracht hatte, wusste er nicht mehr, wo sie sich gerade befanden.

Anfangs war es in der Kutsche kalt gewesen, und beide hatten sich eine der Decken genommen, die zusammengefaltet auf einer der Bänke lagen. Danach hatte Thomas gespannt darauf gewartet, dass Alastair eine Unterhaltung in Gang brachte. Denn warum hätte er ihn sonst um seine Gesellschaft gebeten, wenn es nicht irgendetwas zu besprechen gegeben hätte? Doch stattdessen hatte Alastair sich in die Polster sinken lassen und gelegentlich einen Fluch in persischer Sprache gemurmelt.

»Alastair«, setzte Thomas schließlich an, wobei er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, »wir sollten zum Institut zurückkehren. Die anderen werden sich fragen …«

»Ich schätze, sie werden sich Sorgen machen, dass ich dich entführt hätte«, sagte Alastair.

Ein Blitz krachte über ihnen wie ein Peitschenknall. Der Wind wehte so stark, dass die Kutsche hin und her schwankte. Trockenes Laub und eisige Schneeflocken wirbelten wie kleine Wind­hosen umher, kratzten über die Kutschfenster und fauchten durch die leeren Straßen. Selbst im Inneren der Kutsche war die Luft drückend und schwer.

»Bist du aufgebracht wegen Charles?«, erkundigte sich Thomas und fragte sich dann, ob dieser Satz zu direkt gewesen war. Aber da Alastair ohnehin die ganze Zeit geschwiegen hatte, machte das nun auch nichts mehr aus.

»Das ist nur einer der Gründe«, sagte Alastair. Das Licht, das durch die Fenster ins Kutscheninnere fiel, schimmerte rötlich, als würde in den Sturmwolken über ihnen ein Feuer brennen. »Als ich Charles kennengelernt habe, sah ich in ihm jemanden, der ich selbst auch sein wollte. Ein selbstsicherer Mann, der seinen Weg, seine Zukunft kannte. Heute weiß ich, dass das nur eine Fassade war. Dass Charles sich völlig machtlos fühlt … so überwältigt von Angst und Scham, dass er davon überzeugt ist, keine Wahl zu haben.« Alastairs Hand in seinem Schoß ballte sich zur Faust. »Und ich fürchte, dass ich mich genauso verhalte.«

Thomas konnte Reihen von Häusern erkennen, die am Fenster vorüberglitten, und schneebedeckte Londoner Platanen. Der Wind klang jetzt wie ein leises Heulen, und die Laternenpfähle entlang der Straßen spendeten nur ein mattes Licht. »Willst du damit andeuten, dass du Angst hast vor dem, was die Leute sagen würden, wenn sie deine wahren Gefühle für …«

»… für dich kennen würden?«, beendete Alastair den Satz. Seine dunklen Augen wirkten düster. »Nein.«

Natürlich nicht. Natürlich hat er nicht von dir gesprochen.

»Nein«, fuhr Alastair fort. »Ich habe den Umzug nach Teheran gegenüber mir selbst, gegenüber dir und gegenüber meiner Schwester als Chance auf einen Neubeginn dargestellt. Dabei habe ich die gleichen Worte benutzt wie mein Vater … jedes Mal, wenn wir einen Ort verließen, den wir zu unserer Heimat gemacht hatten, und an einen neuen Platz weiterzogen. ›Ein Neubeginn.‹« Seine Stimme klang verbittert. »Aber das war immer eine Lüge. Wir sind umgezogen, um den Problemen zu entgehen, die mein Vater verursacht hatte – durch seine Schulden, seine Trunksucht. Als ob man ihnen auf diese Weise entkommen könnte. Und ich …« Ein gequälter Ausdruck zeichnete sich in seinen Augen ab. »Ich wollte nie so werden wie er; ich habe so hart dafür gekämpft, nie so zu werden wie er. Und doch stehe ich gerade kurz davor, selbst wegzulaufen. Und genau das zu tun, was er getan hätte. Weil ich Angst habe.«

Thomas warf die Decke zur Seite. Die Kutsche holperte unter seinen Füßen, als er sich auf die gegenüberliegende Bank neben Alastair setzte. Er wollte seine Hand auf Alastairs legen, hielt sich aber zurück. »Ich habe dich nie als ängstlich eingeschätzt«, sagte er. »Aber es ist keine Schande, Angst zu empfinden. Wovor fürchtest du dich?«

»Vor Veränderungen, schätze ich«, antwortete Alastair, mit einem verzweifelten Unterton in der Stimme. Draußen wurden die Äste der Bäume vom Wind hin und her gepeitscht. Thomas konnte ein dumpfes Röhren wahrnehmen – vermutlich Donner, auch wenn das Geräusch seltsam gedämpft klang. »Ich weiß, dass ich mich ändern muss«, sagte Alastair. »Aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Es gibt keine Anleitung dafür, wie man eine bessere Person wird. Und ich fürchte, wenn ich in London bleibe, werde ich auch weiterhin die Leute verletzen, die ich zuvor schon verletzt habe.«

»Aber du hast dich doch verändert«, sagte Thomas. »Und zwar ganz ohne Anleitung. Der Alastair, der du in unserer gemeinsamen Schulzeit warst, wäre mir bei meiner Verhaftung niemals zu Hilfe gekommen. Er wäre mir gar nicht erst gefolgt, um sich zu vergewissern, dass es mir gut geht. Die Person, die du damals warst, hätte sich nie um Matthew gekümmert. Und sie hätte auch nie ein Buch nach dem anderen über Paladine gelesen, um der eigenen Schwester zu helfen.« Thomas zitterten die Hände. Er hatte das Gefühl, es war schrecklich riskant, so etwas zu Alastair zu sagen – als ob er seine Kampfmontur ablegen und sich damit verwundbar machen würde. Er schluckte schwer und fuhr dann fort: »Und ich hätte heute nicht diese Gefühle für dich, wenn du noch dieselbe Person wärst wie im letzten Jahr.«

Alastair musterte ihn und erwiderte heiser: »Ich dachte, du hättest mich auch letztes Jahr gemocht.«

Sprachlos starrte Thomas ihn an.

Und Alastair begann völlig unerwartet zu lächeln. »Ich hab dich nur aufgezogen«, sagte er. »Thomas, du …«

Thomas beugte sich vor und küsste ihn: Er packte Alastair bei den Mantelaufschlägen und küsste ihn. Ihre Lippen waren kalt … und kurz danach alles andere als kalt. Als die Kutsche einen Satz machte, wurde Alastair gegen ihn geworfen. Seine Hände fuhren durch Thomas’ Haare. Und dann zog er ihn an sich – zuerst fest und dann noch fester.

Thomas spürte seinen fieberhaften Herzschlag in jeder Faser seines Körpers. Alastair presste den Mund auf Thomas’ Mund, und seine Lippen umspielten und erkundeten Thomas’ Lippen, und dann öffneten sich ihre Münder, ihre Zungen spielten miteinander, und die Kutsche machte einen weiteren Ruck und warf sie beide zu Boden.

Doch das kümmerte sie nicht. Sie waren auf der Decke gelandet, die Thomas von sich geworfen hatte, und Thomas zerrte an Alastairs Mantelknöpfen, bis sie nachgaben. Er wollte Alastair spüren, seinen Körper fühlen, statt zerdrückte Wolle in den Händen zu halten. Alastair lag auf ihm; an ihm vorbei konnte Thomas durch die Fenster den Himmel erkennen. Der Sturm hatte die Wolken zerrissen, und dazwischen sah er eine Art blutroten Kanal aus Feuer.

Thomas kämpfte sich mühsam aus seinem eigenen Mantel. Alastair beugte sich über ihn, die Augen so schwarz wie eine sternenlose Nacht. Er öffnete den Kragen von Thomas’ Hemd und küsste ihn auf den Hals. Dann fand sein Mund die Schlüsselbeinbeuge, und als er sie zu lecken begann, explodierten Sterne hinter Thomas’ Augen.

Ungeduldig zerrte Alastair an Thomas’ Hemd, bis die Knöpfe aufsprangen, schob dann dessen Unterhemd hoch und entblößte Thomas’ Brust. »Sieh dich nur an«, sagte Alastair leise. »Wunderschön. Du bist so wunderschön, Tom.«

Thomas spürte, wie ihm Tränen in den Augen brannten. Rasch ermahnte er sich, sich nicht so lächerlich zu verhalten. Aber die kleine, durchdringende Stimme in seinem Hinterkopf, die sich sonst jedes Mal gnadenlos über ihn lustig machte, wenn er sich etwas auf sich selbst einbildete, blieb stumm. Es gab nur Alastair, der knabberte und küsste und leckte, bis Thomas sich unter ihm wand und laut aufstöhnte, Alastairs Hemd aus der Hose zerrte und seine Hände über dessen nackte Haut gleiten ließ, die sich wie Seide über harten Muskeln anfühlte.

Dann rollte er sich auf Alastair und presste ihn unter sich auf den Boden. Seine Haut auf Alastairs nackter Haut ließ ihn fast den Verstand verlieren – und er wollte mehr davon. Mehr von Alastair. Seine nackte Brust war umwerfend schön, von alten Narben übersät und mit vor Kälte steifen Nippeln. Thomas neigte den Kopf und umkreiste eine Brustwarze mit der Zungenspitze.

Alastairs ganzer Körper wölbte sich ihm entgegen. Ein leises Keuchen drang aus seiner Kehle, und er krallte die Finger in Thomas’ Rücken. »Tom. Tom …«

Im nächsten Moment krachte die Kutsche mit einem gewaltigen Ruck gegen ein Hindernis. Thomas hörte die Räder kreischen und das Wiehern der Pferde, als das ganze Gefährt sich zur Seite neigte. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag ertönte über ihnen, während die Kutsche knirschend zum Stehen kam.

Alastair hatte sich bereits aufgesetzt und knöpfte sein Hemd zu. »Was zum Teufel …?«, fragte er. »Was war das?«

»Wir müssen gegen etwas geprallt sein.« Thomas versuchte sich anzuziehen, so gut er konnte, aber die Hälfte seiner Knöpfe waren abgerissen. »Alles in Ordnung?«

»Ja.« Alastair schaute Thomas an, beugte sich zu ihm vor und küsste ihn hart auf den Mund. Dann stieß er die Kutschentür auf und sprang hinaus.

Thomas hörte, wie er auf dem Boden aufkam – und sofort danach überrascht die Luft einsog. Während er Alastair folgte, bemerkte er, dass ein bitterer Geruch in der Luft lag, der ihn an Holzkohle erinnerte.

»Beim Erzengel«, stieß Alastair hervor. »Was ist das alles?«

Einen Moment später sprang auch Thomas aus der Kutsche.

»Tja«, sagte Matthew, während Tatianas Schrei in der Luft verhallte, »wir sind uns wohl alle darin einig, dass wir diese Einladung getrost ablehnen sollten.« Er schaute die anderen Anwesenden im Raum an, die allesamt geschockt wirkten – sogar Anna. »Zumindest sollten wir so lange warten, bis Charles mit der Patrouille zurückkehrt.«

»Ich hätte nie gedacht, dass du einmal sagen würdest, wir sollten auf Charles warten«, erwiderte Anna und zog dabei eine Seraphklinge aus ihrem Gürtel.

»Tatiana ist eine Verrückte«, meinte Matthew. »Niemand kann sagen, was sie als Nächstes tun wird.«

»Sie wird die Türen aufbrechen«, antwortete Jesse. »Diese Kreaturen an ihrer Seite … das sind Schattenjäger . Dämonen in den Körpern von Schattenjägern. Sie können ins Institut eindringen.«

»Jesse hat recht«, sagte Grace, die wieder zu zittern begonnen hatte. »Mama hat diese Forderung nur gestellt, weil es ihr gefällt, dass ihr euch ihrem Willen beugen müsst.«

»Mit anderen Worten: Wenn wir nicht hinausgehen, werden sie und ihre Dämonenbegleiter hier eindringen«, sagte Cordelia.

»Dann werden wir eben alle gemeinsam gehen und sie an der Eingangstür aufhalten«, sagte James. »Das Sanktuarium ist verschlossen; es gibt keinen anderen Weg ins Institut.« Er wandte sich den anderen zu, die bereits damit beschäftigt waren, alle Waffen zusammenzusuchen, die sie finden konnten. Die meisten trugen eine oder zwei Seraphklingen, Ari hatte ihr Khanda und Jesse das Blackthorn-Schwert. »Ich denke, dass Jesse und ich vor die Tür gehen und ihr im Innenhof gegenübertreten sollten. Ihr anderen bleibt als Verteidigung am Eingang. Haltet die falschen Stillen Brüder davon ab, sich ins Innere zu schleichen. Ich werde versuchen, Tatiana zum Reden zu bringen, bis Charles und die Patrouille wieder hier sind.«

»Jesse ist nicht als Schattenjäger ausgebildet«, warf Matthew ein und legte seinen Waffengurt um. »Lass mich mitkommen. Sie wollte schließlich einen Fairchild sehen, oder?«

»Jesse ist derjenige, den sie wahrscheinlich am wenigsten verletzen will«, sagte James. »Und der Einzige von uns, der sie nachdenklich stimmen könnte.«

»Ich sollte Tatiana gegenübertreten«, sagte Cordelia.

James wandte sich ihr zu. Mit erhobenem Kopf erwiderte sie seinen Blick. »Ich bin ein Paladin. Tatiana sollte mich fürchten. Sie sollte Lilith fürchten.«

»Aber sie wird es erst herausfinden, wenn der Kampf beginnt«, protestierte Lucie. »Es sei denn, Lilith wird heraufbeschworen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass das die Situation verbessern würde.«

»Wir könnten an einen Punkt kommen, an dem es die Situation aber auch nicht mehr verschlechtert«, erwiderte Cordelia leise. »Ich verspreche, dass ich erst dann zu einer Waffe greifen werde, wenn mir keine andere Möglichkeit bleibt. Aber ich werde ebenfalls nach draußen gehen.«

James wollte den Kopf schütteln, wollte protestieren und Cordelia überreden, dass sie im Institut blieb, in Sicherheit. Doch er wusste, dass Cordelia diese Art von Schutz niemals akzeptieren würde. Er hätte sie darum bitten können zu bleiben, und vielleicht wäre sie seiner Bitte auch nachgekommen – aber das wäre so, als ob er sie bitten würde, jemand anderes zu sein als die Person, die sie tatsächlich war.

»Kommt raus!« , kreischte Tatiana, und Lucie spürte den Schrei bis in die Knochen. »Kommt raus, Herondales! Kommt raus, Carstairs! Kommt raus, Lightwoods! Das ist die letzte Aufforderung! «

»Ich gehe nach draußen«, verkündete Cordelia fest und ließ James keine Möglichkeit zu protestieren. Sie alle liefen geschlossen nach unten, bis auf Grace, die ihnen mit ausdrucksloser Miene nachsah – als hätte sie sogar die Fähigkeit verloren, Angst zu empfinden.

Tatiana stand noch immer im Innenhof. Als James, begleitet von Cordelia und Jesse, durch die Eingangstür des Instituts trat, sah er sie am Fuß der Treppe. Sie blickte grinsend zum Institut hinauf, umgeben von Dämonen und Schatten.

Der Himmel über ihnen war ein wirbelndes Chaos aus dunkelgrauen Wolken, durchsetzt mit Schwarz und Scharlachrot. Und der Mond bildete nur ein mattes, flackerndes Licht hinter einer rötlich-weißen Schicht, das den Innenhof in einen blutroten Schimmer tauchte.

Tatianas weißes Haar umwehte sie wie Rauchschwaden. Es schien, als hätte sie das Gewitter und die Dunkelheit mit sich gebracht und wäre auf den Blitzen hierhergeritten, die durch die Wolken zuckten. Rechts und links von ihr ragten je drei Stille Brüder auf, in den weißen Roben, die Grace beschrieben hatte. Bei den Runen auf ihren Ärmeln und Besätzen handelte es sich um Runen des Schweigens und des Todes; Grace hatte sie nicht erkennen können, aber James kannte sie. Jedes dieser Wesen hatte einen Kampfstab, wie ihn die Stillen Brüder normalerweise trugen. Aber diese Stäbe knisterten vor dunkler Energie, und ihr hölzernes Ende war zu einer gefährlichen Spitze angeschliffen worden. Die Brüder flankierten Tatiana wie Soldaten einen General.

James hielt seine Pistole fest in der rechten Hand. Cordelia hatte sich links von ihm postiert, und Jesse stand auf seiner rechten Seite. Die anderen waren an der Eingangstür zurückgeblieben und warteten mit gezückten Waffen.

»Tatiana Blackthorn«, sagte James. »Was willst du?«

Er fühlte sich seltsam ruhig. Er hatte Tatiana schon früher gegenübergestanden, als sie sich ihm im Haus der Lightwoods ergeben hatte. Aber da hatte sie sich verstellt und gelogen. Vielleicht wollte sie das Gleiche jetzt wieder versuchen, doch dieses Mal war er darauf vorbereitet. Er spürte einen metallischen Geschmack im Mund, und heiße Wut kochte in seinen Adern. Er war auf Grace wütend gewesen, war noch immer wütend, aber letztendlich hatte Tatiana ihm diese Qualen zugefügt. Grace hatte nur als Schwert in ihrer Hand gedient.

Tatiana kniff die Augen leicht zusammen und musterte ihn. Ganz offensichtlich hatte sie angenommen, dass ihr Erscheinen ihn schockieren würde, daher überraschte sie wohl seine Ruhe. »Grace«, zischte sie. »Meine treulose Tochter ist vor mir hier eingetroffen, nicht wahr? Sie wird dir erzählt haben, dass ich die Stadt der Stille eingenommen habe. Diese dumme Göre. Ich hätte meinen Wächtern befehlen sollen, sie zu töten, als sich die Chance bot, aber … ich habe ein zu weiches Herz.«

Jesse stieß einen kehligen Laut hervor. Tatiana hat inzwischen völlig den Verstand verloren , dachte James. Seit er sie kannte, war sie verbittert und nicht bei Sinnen gewesen, und dann war Belial erschienen und hatte ihr die Erfüllung ihres größten Wunsches versprochen, wie Rumpelstilzchen im Märchen: genug Macht, um die Vergeltung ausüben zu können, von der sie immer geträumt hatte. Und nun war sie die leere Hülle ihres früheren Selbst, ohne jede Menschlichkeit, ausgehöhlt von Hass und Rachsucht.

»Ich will etwas von jedem von euch«, sagte sie, während ihr Blick rastlos zwischen den drei Schattenjägern auf den Stufen der Eingangstreppe hin und her schweifte. »Sonst werde ich meine Wächter auf euch loslassen.« Sie deutete auf die in Weiß gehüllten Gestalten auf beiden Seiten neben ihr. Mit einem höhnischen Grinsen wandte sie sich an Cordelia: »Von dir will ich Cortana. Das Schwert von Wayland dem Schmied.«

»Auf keinen Fall«, entgegnete Cordelia. Sie stand mit hocherhobenem Kopf da und betrachtete Tatiana wie einen Käfer, den man auf eine Nadel aufgespießt hatte. »Ich bin Cortanas rechtmäßige Trägerin. Das Schwert hat mich ausgewählt; du hast kein Recht, es zu besitzen.«

Tatiana lächelte, als ob sie eine derartige Antwort erwartet hätte und sogar begrüßte. Sie richtete den Blick auf Jesse. »Von dir, mein Sohn, verlange ich, dass du aufhörst, dich zu verstellen. Du musst nicht länger so tun, als ob du einer der Nephilim wärst. Lass diese Verräter fallen und schließe dich mir an. Es wird bald ein neues London geben, und wir werden darüber herrschen. Dein Vater wird wiedererweckt werden, und wir werden wieder eine Familie sein.«

Ein neues London? James warf Jesse einen besorgten Blick zu, doch der starrte Tatiana mit steinerner Miene an. Das Blackthorn-Schwert schimmerte in seiner Hand, als er es hochhob und vor seinen Körper hielt. »Ich wäre lieber tot, als mich dir anzuschließen, Mutter«, sagte er. »Und da ich bereits tot gewesen bin , kann ich das aus fester Überzeugung sagen.«

»Belial kann dir Schlimmeres antun als den Tod«, murmelte Tatiana. In ihren Augen lag ein eigenartiges Leuchten, als würde sie über die Freuden der Hölle nachsinnen. »Du wirst dich eines Besseren besinnen, mein Kind.«

Schließlich wandte sie sich James zu.

»Und nun zu dir, James Herondale«, sagte sie. »Du, der du dich für einen Anführer hältst. Unterwirf dich Belial. Er hat mir sein Wort gegeben, das ich dir hiermit übermittle: Er wird alle, die du liebst, verschonen und am Leben lassen, sofern du dich ihm freiwillig unterwirfst. Er wird sogar das Carstairs-Mädchen am Leben lassen – und es dir schenken . Sie hat dich einst verlassen, doch dazu wird sie nie wieder in der Lage sein. Ihr wird keine andere Wahl bleiben, als an deiner Seite zu stehen.«

James spürte, wie sich seine Lippen verächtlich verzogen. »Es verrät viel über dich, dass du glaubst, mich so in Versuchung führen zu können«, erwiderte er barsch. »Dass du glaubst, Liebe sei die Fähigkeit, eine andere Person zu besitzen, sie an deine Seite zu zwingen, selbst wenn diese Person dich hasst und diesen Zustand kaum ertragen kann. Du bietest mir das, was Grace an mir hatte: keinen Partner, sondern einen Gefangenen.« Er schüttelte den Kopf und bemerkte, dass Tatiana zornig wurde – was ihm nur recht sein konnte. Schließlich hatte er vor, sie eine Weile hinzuhalten. »Belial kann das nicht verstehen, und du auch nicht, Tatiana. Ich wünsche mir eine Cordelia, die mich verlassen kann. Denn wenn sie dann bei mir bleibt, weiß ich, dass sie es aus freien Stücken tut.«

»Ein bedeutungsloser Unterschied«, schnaubte Tatiana. »Du sprichst von Grundsätzen, die aus einer Welt stammen, welche bald der Vergangenheit angehört. Belial wird kommen; es wird ein neues London geben, und seine Bewohner werden entweder Belial dienen oder sterben.«

»Belial wird dich fallen lassen, sobald er keine Verwendung mehr für dich hat«, sagte James.

»Nein.« Tatianas Augen glitzerten. »Denn ich habe Belial eine Armee geschenkt, die er ohne mich nie hätte aufstellen können.« Sie deutete auf die Stillen Brüder, und James stellte erschrocken fest, dass mittlerweile weitere dieser Gestalten hinzugekommen waren – mindestens fünf auf jeder Seite von Tatiana. Irgendwie mussten diese Kreaturen, die Tatiana als »Wächter« bezeichnet hatte, unbemerkt in den Innenhof eingedrungen sein. Ihre Augen waren zugenäht, aber in der Dunkelheit konnte James den Schimmer eines hässlichen grünen Lichts hinter ihren Lidern erkennen. »Eure eigenen Stillen Brüder haben sich von euch abgewandt und sich Belial angeschlossen.«

»Das ist eine Lüge.« James versuchte, nicht zum Tor zu schauen – Charles und die Patrouille würden sicher bald eintreffen. »Soll ich dir erzählen, was wir alles wissen? Du hast veranlasst, dass man dich als Gefangene in die Adamant-Zitadelle bringt, damit du dort den Schlüssel zur Eisernen Gruft stehlen konntest. Dann bist du geflohen und hast den Schlüssel Belial übergeben. Du hast die Gruft für ihn geöffnet. Er hat eine Armee von Chimären-Dämonen heraufbeschworen, die jetzt diese Körper in Besitz genommen haben – Körper, die einst Stille Brüder und Eiserne Schwestern waren. In dem Moment, als du in der Gebeinstadt warst, hast du sie dort hereingelassen und die Stadt übernommen. Wir wissen, dass unsere Stillen Brüder sich niemals willentlich gegen uns stellen würden. Also haben du und dein Gebieter andere dazu zwingen müssen, in eurem Sinne zu handeln – so wie immer. Niemand ist dir gegenüber jemals loyal , Tatiana. Du kennst nur Zwang und Herrschaft, Drohungen und Kontrolle.«

Für den Bruchteil einer Sekunde zuckte der Anflug einer menschlichen Regung über ihr Gesicht. Zorn oder Betroffenheit? James hätte es nicht sagen können. Dann zwang Tatiana sich zu einem verschlagenen Grinsen. »Du bist ein schlauer Bursche«, sagte sie. »Hast unseren Plan durchschaut. Aber leider nicht früh genug, um ihn verhindern zu können.« Sie blickte hinauf zur Turmspitze des Instituts, die in den blutroten Himmel ragte. In den Wolken donnerte und zuckte es mit solcher Macht, dass James fast erwartete, der Boden würde unter seinen Füßen erbeben. »Schon bald wird ganz London fallen. Ich habe die drei Forderungen genannt, die ich an euch habe. Weigert ihr euch noch immer, sie zu erfüllen?«

James, Cordelia und Jesse sahen einander an. »Ja«, bestätigte Cordelia. »Wir weigern uns noch immer.«

Tatiana wirkte entzückt. »Wie wunderbar«, sagte sie. »Dann werdet ihr jetzt am eigenen Leib erfahren, wozu Dämonen in den Körpern von Nephilim fähig sind.« Sie wandte sich den Wächtern zu. »Zeigt es ihnen!«

Die Wächter bewegten sich, als wären sie ein einziges Wesen. Sie ergriffen ihre knisternden Stäbe, schwärmten aus und bewegten sich auf die Eingangstreppe zu. James hob die Pistole und feuerte auf einen Wächter, der getroffen rückwärts umfiel. Doch die anderen drangen weiter vor, während Jesse sein Schwert zog und Cordelia loslief, um die Eingangstür zu öffnen. Die restlichen Schattenjäger drängten durch die Tür ins Freie, glühende Seraphklingen in den Händen.

Der Kampf hatte begonnen.

Die Kutsche des Instituts war gegen den Bordstein gerollt und ruhte nun mit einem Rad auf dem Gehweg. Wahrscheinlich war es den Pferden zu verdanken, die noch immer in ihren Geschirren vor der Kutsche standen, dass das Gefährt nicht gegen einen der Bäume am Straßenrand gekracht war. Ganz sicher lag es nicht am Kutscher: Er war von seinem Bock gestiegen und wanderte nun, anscheinend wie benommen, durch die Straße.

Alastair legte die Hände um den Mund. »Davies!«, brüllte er gegen den heulenden Wind. »Davies, was ist los?«

Der Mann schien ihn nicht zu hören. Er ging einfach weiter … aber nicht in gerader Linie, sondern in einer Art benebeltem Zickzackkurs, und stolperte dabei von einer Seite der Straße zur anderen. Thomas setzte ihm nach, besorgt, dass Davies in den Gegenverkehr geraten könnte – bis ihm auffiel, dass es keinen Gegenverkehr gab . Während Alastair und er eilig die Straße entlangliefen, bemerkte Thomas noch weitere Droschken, die verlassen dastanden. Außerdem entdeckte er einen geparkten Omnibus, durch dessen Fensterscheiben er einige Irdische sehen konnte, die völlig verwirrt hin und her liefen.

Sie befanden sich auf der Gray’s Inn Road, für gewöhnlich eine stark befahrene Durchgangsstraße. Jetzt waren nur ein paar Fußgänger unterwegs, und selbst die Pubs, die um diese Uhrzeit noch geöffnet haben sollten, lagen dunkel und still da. Der Wind heulte durch die Straße wie durch einen Tunnel, und die Wolken über ihnen schäumten und brodelten wie die Strudel am unteren Ende eines Wasserfalls.

Als sie die Kreuzung zu High Holborn erreichten, gelang es ihnen endlich, zu Davies aufzuschließen, der auf der eisigen Straße auf die Knie gesunken war. Allem Anschein nach hatte er einen weggeworfenen Holzreifen gefunden, ein Kinderspielzeug, das er jetzt mit leerem, erstauntem Gesichtsausdruck vor und zurück rollte.

»Davies!« Thomas schüttelte den Kutscher an der Schulter. »Davies, beim Erzengel …«

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte Alastair. »Und damit meine ich nicht nur den armen Davies. Schau dich mal um.«

Thomas warf einen Blick in die Runde. Weitere Irdische erschienen auf der Straße, aber sie alle liefen ziellos und mit leeren Mienen umher. Ein Straßenhändler starrte geistesabwesend in die Ferne, während sich ein reiterloses Pferd, dessen Zügel über die Straße schleiften, an den Früchten in seinem Karren gütlich tat. Ein Mann in einem dicken Mantel taumelte über den Gehweg, als befände er sich auf dem schwankenden Deck eines Schiffs und würde versuchen, das Gleichgewicht zu halten. Eine alte Frau, die nur ein dünnes Kleid trug, stand mitten auf der Straße und starrte hinauf in den blutroten Himmel. Sie weinte bitterlich, doch keiner der anderen Passanten schien davon Notiz zu nehmen oder ihr helfen zu wollen. Und an der Straßenecke schlug ein junger Mann auf einen Laternenpfahl ein, wieder und wieder, während sich seine Handschuhe langsam blutrot färbten.

Thomas wollte weitergehen – unsicher, was er tun sollte, aber mit dem dringenden Gefühl, dass er irgendetwas unternehmen musste . Doch Alastair legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihn auf. »Thomas«, sagte er. Er war grau im Gesicht, und seine Lippen, die Thomas noch wenige Minuten zuvor geküsst hatten, waren vor Furcht zusammengepresst. »Das ist Belials Werk, da bin ich mir absolut sicher. Wir müssen zum Institut zurück, und zwar sofort

Der Kampf verlief nicht zu ihren Gunsten, dachte Lucie grimmig.

Anfangs hatte es noch ganz gut ausgesehen. Sie und die anderen hatten Tatiana und ihr Streitgespräch mit James Wort für Wort verfolgt – und waren dabei langsam immer zorniger geworden. Als Cordelia schließlich die Tür aufriss, waren sie allesamt mit wütendem Kampfeswillen ins Freie geströmt.

Als Erstes hatte sie der Wind überrascht, der wild an ihnen zerrte, während in der Ferne ein mächtiges Donnergrollen ertönte, wie Paukenschläge auf einer gewaltigen Trommel. Lucie war zur Hälfte die Treppe hinuntergestürmt, als sie den Knall von James’ Pistole hörte. Der Schuss verlor sich fast im lauten Dröhnen des Winds, der über den Londoner Himmel fegte.

Dann tauchte irgendetwas Weißes vor ihr auf – ein Wächter, um dessen Stab Blitze zuckten. Mit einem Kampfschrei schwang Lucie ihre Axt, die sich eine Sekunde später in den Rumpf der Kreatur bohrte. Und das Wesen ging lautlos zu Boden, ohne auch nur das geringste Anzeichen von Überraschung.

Als Lucie die Axt wieder zurückzog, bemerkte sie, dass das Blut an deren Schneide dunkelrot, fast schon schwarz war.

Irgendetwas zischte an ihrem Kopf vorbei – einer von mehreren Chakrams . Matthew hatte seine Wurfwaffen mit voller Wucht geschleudert, und die scharfen Metallringe schlugen erst in einen, dann in einen zweiten Wächter, woraufhin der zweite die Stufen hinuntertaumelte. Jesse schwang sein Schwert mit bewundernswertem Können und hätte dem größten der Wächter fast den Arm abgetrennt. Anna versenkte ihre Seraphklinge in eine weitere dieser Kreaturen und hinterließ eine Wunde in der Brust, an deren Rändern Flammen aufloderten. Der Wächter ging auf die Knie, mit brennendem Brustkorb, ohne jede Regung im Gesicht.

Dann rief Ari, die mit ihrer blutigen Waffe um sich hieb, völlig entsetzt: »Sie stehen wieder auf!«

Es stimmte: Der Wächter, den James erschossen hatte, kam wieder auf die Füße und steuerte erneut auf das Institut zu. Dann rappelte sich auch der nächste falsche Stille Bruder auf und zog Matthews Chakrams aus seinem Körper, als würde er Flöhe entfernen. Obwohl ihre weißen Roben zerschnitten und blutbefleckt waren, schlossen sich ihre Wunden bereits wieder.

Tatiana lachte. Lucie konnte ihr irres Kichern hören, während sie herumwirbelte, um nach dem Wächter zu sehen, den sie verwundet hatte. Er kletterte bereits wieder die Stufen hinauf und schwang seinen Stab gegen Christopher, der sich rasch duckte.

Cordelia, die hinter ihm stand, fing den knisternden Stab mit beiden Händen ab. Falls sie sich dabei verbrannte, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken: Sie packte den Stab mit festem Griff, stieß ihn von sich weg und nutzte die Kraft, um die Kreatur die Treppen hinunterzutreiben.

Auch die anderen verwundeten Wächter erhoben sich erneut, wie eine Woge. Einer nach dem anderen kam stolpernd auf die Beine, bereit, das Institut anzugreifen – und damit die kleine Gruppe von Schattenjägern, die den Eingang verteidigte.

Danach entwickelte sich der Kampf zu einem Albtraum. Tatiana tanzte einen eigenartigen, zuckenden Freudentanz, während die Wächter der Reihe nach niedergeschlagen wurden … und sich danach erneut erhoben. Wurfwaffen waren nutzlos geworden: Sie töteten die Wächter nicht und konnten in den Händen der Kreaturen wiederum selbst zu Waffen werden. Matthew und Christopher zogen Seraphklingen, deren Strahlen den Innenhof im dichter werdenden Nebel beleuchteten. James blieb bei seiner Pistole: Sie schien die Wächter länger zu Boden zu zwingen als eine Klinge, auch wenn sie sie nicht tötete. Nichts schien diese Kreaturen töten zu können. Schlimmer noch: Ihre Wunden verheilten . Jesse hatte einem Wesen fast den Arm abgetrennt. Doch Lucie musste feststellen, dass der Arm wieder völlig unversehrt wirkte, während der Wächter nun seinerseits Matthew angriff und mit flammendem Stab auf dessen Seraphklinge einschlug.

Matthew war bereits einmal auf der vereisten Treppe ausgerutscht. Er hatte sich gerade noch fangen können, war zur Seite gerollt und dadurch dem herabfahrenden Stab des Wächters ausgewichen. Doch Lucie wusste, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Sie waren zwar Nephilim, aber auch sterblich, und würden daher irgendwann ermüden. Selbst das Blut des Engels konnte sie nicht ewig vor Feinden schützen, die sich nicht aufhalten ließen.

Und die ersten hatten bereits Verletzungen davongetragen: James’ Ärmel war zerrissen und triefte vor Blut, das aus einer Wunde an seinem Arm strömte; Ari hatte eine böse Verletzung von einem Stab, der gegen ihren Rumpf geprallt war. Und Cordelia … Lucie machte sich größte Sorgen um Cordelia. Sie tat alles in ihrer Macht Stehende und nutzte die Stäbe der Wächter, um sie zurückzutreiben. Offensichtlich zählte das nicht als das Heben einer Waffe, weil Lilith bisher nicht erschienen war. Aber sie hatte bereits eine gefährlich aussehende Brandwunde auf der Wange, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis …

»Cordelia Carstairs!« Tatiana tanzte nicht mehr; sie hatte die Arme verschränkt und wirkte vor lauter Schadenfreude so glücklich wie ein kleines Mädchen am Weihnachtsmorgen. »Das ist also die berühmte Trägerin von Cortana ? Sieh dich doch mal an! Zu ängstlich, um die Waffe im Kampf zu benutzen, weil mein Gebieter dich sonst aufspürt und sie dir wegnimmt.« Sie wandte sich den Wächtern an ihrer Seite zu: »Ergreift sie. Wir brauchen diese Waffe.«

Cordelia erstarrte. Zwei Wächter stürmten die Treppe hinauf, direkt auf sie zu. Die nächsten Sekunden verschwammen wie im Nebel. Lucie rannte auf Daisy zu und sah, dass auch James bereits auf dem Weg war: Er sprintete die Treppen hinunter, hob seine Pistole, im Versuch, ein freies Schussfeld auf die Wächter zu bekommen …

Doch Christopher erreichte Cordelia als Erster. Er schob sich blitzschnell vor Cordelia und empfing die Wächter mit flammender Seraphklinge in der Hand. Einen Moment lang beleuchtete sie die beiden wie Feuerwerk in einer dunklen Nacht: Cordelia und er standen inmitten eines Heiligenscheins aus Engelslicht. Nie zuvor hatte Christopher mehr wie ein Krieger ausgesehen …

Ein metallischer Gegenstand verließ Tatianas Hand und blitzte kurz auf, während er durch die Luft zischte. Christopher zuckte zusammen, schrie auf und taumelte zurück, bis er auf den Stufen zusammensackte.

»Christopher!« , schrie Cordelia und wandte sich zu ihm um. Genau in dem Moment trat James vor sie, die Pistole in der Hand. Zwei laute Schüsse ertönten, und dann zwei weitere. Die angreifenden Wächter wurden zurückgeworfen wie Stoffpuppen, und ihre Körper stürzten mit dem Kopf voran auf die Treppenstufen.

Anna lief im Zickzack durch den Nebel die Treppe hinauf und ging neben Christopher auf die Knie. »Alles in Ordnung«, hörte Lucie ihn sagen, während Anna sich über ihn beugte. »Es ist nur die Schulter.«

Und tatsächlich hatte sich etwas Scharfes und Silbernes knapp über seinem Schlüsselbein in den Körper gebohrt. Ein Wurfmesser. Aber eine Schlacht wurde nicht unterbrochen, nur weil ein Krieger verletzt war – Lucie sah aus dem Augenwinkel etwas Weißes auf sie zuflattern, drehte sich um und hackte auf den vorstürmenden Wächter ein, bis sein schwarzrotes Blut sie bespritzte. Während die Kreatur zu Boden ging, zischte Jesses Schwert durch Nebel und Pulverdampf und schnitt tief in eine Dämonenschulter. Auch Ari, Matthew, James und Cordelia kämpften weiter – nicht nur, um das Institut zu schützen, sondern auch, um die Wächter von Anna fernzuhalten, die sich über ihren Bruder gebeugt hatte. Sie hatte bereits den Dolch aus seiner Schulter gezogen und trug Heilrunen auf seinem Arm auf, obwohl er dagegen protestierte. Lucie konnte seine Worte nicht hören, aber sie wusste, was er sagen würde: dass alles in Ordnung sei und dass er wieder kämpfen könnte. Dass jetzt keine Zeit für Verletzungen blieb.

Der Wächter zu Lucies Füßen regte sich erneut. Sie hieb ihm die Axt ins Rückgrat, zog sie aus dem Körper und rannte mehrere Stufen hinauf. Dadurch war sie zumindest nicht in seiner Nähe, wenn er wieder aufstand. Erschöpft schaute sie die Treppe hinunter. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie einen Eisbrocken verschluckt. Natürlich hatte sie schon zuvor an Schlachten teilgenommen, wie alle anderen auch. Aber dabei hatte sie noch nie den Eindruck gehabt, keine Möglichkeit zum Sieg oder wenigstens einen Ausweg erkennen zu können. Wenn Charles nicht bald mit der Patrouille zurückkehrte – und selbst wenn –, dann würden sehr wahrscheinlich nur wenige von ihnen überleben. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie sich ins Sanktuarium zurückzogen und sich dort einschlossen. Aber eine dieser Kreaturen war in das Sanktuarium in Cornwall eingedrungen. Also würden sie sich auf diese Weise nur freiwillig in eine Falle begeben …

Etwas Kaltes berührte Lucies Arm. Sie wirbelte herum, riss die Axt hoch … und ließ sie dann überrascht wieder sinken. Vor ihr stand Grace, noch immer barfuß und erneut in Jesses Jacke gehüllt. Ihr Gesicht war schmaler, als Lucie es in Erinnerung hatte, und ihre riesigen, grauen Augen glühten förmlich. »Lucie, ich wollte …«

Lucie war zu erschöpft, um höflich zu sein. »Geh wieder rein, Grace. Du bist hier nur im Weg.«

»Du musst mir zuhören«, beharrte Grace, mit einem Anflug ihrer früheren Eindringlichkeit. »Du kannst das alles beenden.«

Lucie schaute sich kurz um und stellte fest, dass sie zumindest für den Moment allein waren oder wenigstens außer Hörweite der anderen. Der Kampf hatte sich ein paar Stufen weiter nach unten verlagert, wo die Schattenjäger eine Art Halbkreis um Christopher und Anna bildeten. »Wie meinst du das?«, fragte sie. »Grace, wenn das eine List ist …«

Grace schüttelte energisch den Kopf. »Sie werden euch töten«, sagte sie. »Ich habe es vom Fenster aus verfolgt. Meine Mutter wird nicht aufhören, bis ihr alle tot seid. Vielleicht wird sie Jesse verschonen, aber …« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Vielleicht auch nicht. Doch es gibt jemanden, auf den sie hören wird.«

»Belial?«

»Nein, aber jemanden, den du erreichen kannst. Den nur du erreichen kannst.« Dann beugte Grace sich vor und flüsterte Lucie etwas ins Ohr, so als ob sie ihr ein Geheimnis verraten würde. Während Lucie zuhörte, wurde ihr eiskalt ums Herz, aber sie erkannte mit großer Bestürzung, dass Grace recht hatte.

Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich von Grace ab und stieg die Stufen hinunter. Sie nahm wahr, dass Grace hinter ihr stand und sie beobachtete; sie nahm das flackernde Leuchten der Seraphklingen wahr, die durch den Nebel tanzten; sie nahm Anna wahr, die Christopher auf die Beine half; sie nahm Cordelia mit ihrem flammend roten Haar wahr, die gerade einem Wächter brutal die Beine unter dem Körper wegtrat; und sie nahm James und Matthew wahr, die Seite an Seite kämpften.

Und obwohl sie all diese Geschehnisse wahrnahm, tastete sie nach der Kraft tief in ihrem Inneren – in das Schweigen und die Dunkelheit und durch den dünnen Schleier hindurch, der das Einzige war, was sie von dem Schattenreich zwischen Leben und Tod trennte.

In der einen Welt war sie von den Kämpfenden umgeben, von Tatianas Gelächter, vom Glühen der dämonischen Feuer an den Stäben der Wächter. In der anderen Welt erhob sich die Dunkelheit rund um sie, als würde sie am Grund eines Brunnens stehen und in den Himmel hinaufblicken. Als sich das Dunkel über ihr schloss, schien sie zu schweben, von Schatten umgeben … von einer tiefen Finsternis, nur durchbrochen von glimmenden Lichtpünktchen.

Lucie nahm nicht an, dass Sterbende den Tod genau so erlebten. Das hier war eine von ihrem Geist erdachte Version – die einzige Art und Weise, die in ihrer Vorstellung einen Sinn ergab. Ebenso gut hätte sie sich einen unendlichen Ozean vorstellen können, einen versteckten Winkel in einem grünen Wald oder eine riesige Ebene ohne bestimmte Merkmale. Aber aus welchen Gründen auch immer, Lucie blickte in ein unendliches Dunkel, das nur von Sternen durchsetzt war.

Sie drang tiefer in dieses Dunkel ein, versuchte, gleichmäßig zu atmen, und rief dann in die Stille: Rupert Blackthorn?

Kurz danach spürte sie eine Bewegung – als ob ein Fisch an einer Angelschnur zappelte.

Rupert Blackthorn. Vater von Jesse. Gemahl von Tatiana. Lucie klammerte sich an die schwache Verbindung, die sie spürte. Zog sie langsam zu sich heran, aus der Dunkelheit hinaus. Zeig dich. Deine Familie braucht dich.

Nichts. Doch dann, plötzlich, kam ruckartig Bewegung in die Verbindung – wie bei einem Seil, das so schnell durch ihre Hände glitt, dass es ihre Haut aufschürfte. Trotz des brennenden Schmerzes hielt sie es eisern umklammert. Sie hielt es fest, während sie ihre Augen weit öffnete und ihren Geist wieder in die Welt des winterlichen London zurückzwang. Eine Welt, in der sie von Kampfgetümmel umgeben war. Eine Welt, die sie bloß für wenige Sekunden verlassen hatte – nur im Geiste, nicht körperlich. Eine Welt, in der es nach Blut und Kordit roch, und in der der weiße Schatten eines Wächters über die Stufen auf sie zukam.

Eine Welt, in der sich direkt vor ihr, auf der Eingangstreppe des Instituts, Rupert Blackthorns Geist verdichtete.

Hier gab es keine versteckten Schatten, die ungesehen bleiben konnten. Das hier war der Geist von Rupert Blackthorn, halb durchscheinend, aber unverkennbar. Unter Lucies Blick begann er sich zu verfestigen: Sie konnte jetzt sein Gesicht erkennen, das dem von Jesse so sehr glich, seine altmodische Kleidung und seine blassen Hände. Selbst kleinste Details, wie die offenen Schnürsenkel seiner Stiefel, traten nun deutlich hervor, als ob sie von schimmernder Tinte in die Luft gezeichnet würden.

Der Wächter, der sich ihr genähert hatte, hielt inne, anscheinend verwirrt, und legte den Kopf auf die Seite, als wollte er fragen: Was geschieht hier? Die anderen Wächter kämpften unbeirrt weiter. Lucie hörte das dumpfe Krachen von Waffen, das Knirschen von Stiefeln auf Eis. Aber sie wagte es nicht, den Blick von Ruperts Geist abzuwenden.

Der Geist hob den Kopf. Seine Lippen öffneten sich, und er sprach, mit einer Stimme, die sogar das Gewitter übertönte: »Tatiana?«

Tatiana drehte sich ihm zu, schaute hoch … und schrie auf. Sie hatte den reglosen Wächter verblüfft betrachtet und sich vermutlich gefragt, warum er nicht mehr kämpfte. Jetzt riss sie die Augen weit auf und starrte ihren Mann mit offenem Mund an.

»Rupert!«, keuchte sie und machte einen Schritt vorwärts, als ob sie auf den Geist zueilen wollte, doch ihre Beine gaben unter ihr nach. Sie sank auf die Knie und rang die Hände – ein Anblick, der erschreckend an eine betende Frau erinnerte. »Oh, Rupert ! Du bist gekommen! Belial hat sein Versprechen eingelöst!« Sie machte eine weit ausholende Geste, um seine Aufmerksamkeit auf die Wächter, die Schlacht und die bewaffneten Schattenjäger zu lenken. »Sieh nur, mein Liebling«, sagte sie. »Endlich bekommen wir unsere Rache.«

»Rache?« Rupert musterte seine Frau mit einem Blick, aus dem blankes Entsetzen sprach. Lucie fragte sich, ob es daran lag, dass Tatiana so viel älter geworden war oder weil Verbitterung, Zorn und Hass so tiefe Spuren in ihren Zügen hinterlassen hatten.

Unwillkürlich schaute Lucie zu Jesse, der reglos dastand, mit dem gesenkten Blackthorn-Schwert an seiner Seite. Der Ausdruck in seinem Gesicht, während er den Geist seines Vaters anstarrte … Lucie ertrug es nicht länger und zwang sich wegzuschauen. Grace war nirgends zu entdecken, aber die anderen kämpften nach wie vor – bis auf Anna und Christopher, die sich auf einen höher gelegenen Bereich der Treppe zurückgezogen hatten. Während Lucie sich umsah, näherte sich ein Wächter Jesse, hob seinen flammenden Stab und schwang ihn. Jesse parierte den Hieb nur mit Mühe, und Lucies Herz machte vor Entsetzen einen Satz.

Sie wollte zu Jesse laufen, Seite an Seite mit ihm kämpfen. Es war ihre Schuld, dass er so langsam reagierte – vermutlich hatte er einen Schock erlitten. Aber sie durfte sich nicht bewegen. Sie war das Einzige, was Rupert Blackthorn auf dieser Erde hielt. Sie spürte, dass das sternendurchsetzte Nichts ihn wieder zurückzuzerren versuchte, ihn aus dieser Welt wieder in die andere Welt schleudern wollte. Es kostete sie all ihre Willenskraft, das zu verhindern.

»Rupert?« Tatianas Stimme erhob sich zu einem Wimmern. »Bist du nicht zufrieden? Hat Belial dir nicht von unserem großen Sieg erzählt? Wir werden die Nephilim vernichten; wir werden über London herrschen, gemeinsam.«

»Belial?«, fragte Rupert aufgebracht. Er wirkte inzwischen weniger durchscheinend – zwar noch immer farblos, wie eine eigenartige, monochrome Gestalt, aber Lucie konnte nicht länger durch ihn hindurchschauen. Und der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ sich leicht deuten: Zorn, vermischt mit Abscheu. »Ich bin nicht auf Geheiß eines Höllenfürsten zurückgekehrt. Der Ruf eines Nephilim im Kampf hat mich aus meiner Ruhestätte geholt – eine Nephilim, die meine Hilfe braucht.«

Sofort zuckte Tatianas Blick in Lucies Richtung. In ihren Augen lagen eine Wut und ein Hass, die so heftig waren, dass es sich kaum ertragen ließ. »Das ist unmöglich«, knurrte sie. »Du kannst nicht wiedererweckt worden sein, nicht von irgendeiner dummen, kleinen Göre.«

»Setz dem sofort ein Ende, Tati«, befahl Rupert. »Schick diese … Kreaturen … fort!«

»Aber sie kämpfen für uns .« Tatiana kam taumelnd auf die Beine. »Sie sind auf unserer Seite. Belial hat uns eine große Zukunft versprochen. Er hat geschworen, dass er dich wiedererwecken wird, Rupert, und dass du wieder an meiner Seite sein wirst.«

»Befiehl ihnen aufzuhören, bevor sie noch unseren Sohn töten!«, donnerte Rupert.

Tatiana zögerte … und streckte dann den Arm aus. »Aufhören!«, rief sie, als würde das Wort aus ihr herausgepresst werden. »Aufhören, Diener des Belial. Es ist genug.«

Die Wächter hielten inne wie ein Mann – so, wie sie auch den Kampf begonnen hatten. Sie standen da wie erstarrte Soldaten; ebenso gut hätten sie auch aus Zinn bestehen können. Aber Lucie sah, dass das unheimliche grüne Licht noch immer hinter ihren Augenlidern flackerte.

Die Nephilim hielten ihre Waffen weiterhin umklammert und starrten verblüfft von Rupert zu Lucie und wieder zurück. Anna stand mit dem Rücken an einem Treppengeländer, und Christopher lehnte an ihrer Schulter. Beide waren kreidebleich. Grace kniete am oberen Ende der Treppe; sie zitterte und hatte die Arme um ihren Körper geschlungen. Lucie hatte das Gefühl, als würde sie Christopher ansehen, doch sie war sich nicht sicher. Und Jesse … Jesse taxierte noch immer seinen Vater und umklammerte den Griff seines Schwerts so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Lucie konnte seine Miene nicht deuten, weil sie sich weiterhin auf Rupert konzentrieren musste. Irgendeine seltsame Magie umgab ihn und versuchte, ihn von ihr wegzuziehen.

»Mein Liebling«, setzte Tatiana mit schmachtender Stimme an, die in der plötzlichen Stille nach dem Ende des Kampfs laut über den Platz hallte. »Wie ist das möglich? Man hat dich gebunden, so lange gebunden, gebunden in den Schatten, in denen nicht einmal die anderen Toten dich sehen konnten. Doch Belial hat mir versprochen: Solange er dich an diesem Ort festhält, wäre er in der Lage, dich zurückzuholen.«

Jesse schüttelte den Kopf, ungläubig und entsetzt. »Nein«, flüsterte er. »Nein, das kann nicht sein.«

Gebunden in den Schatten, dachte Lucie. Was war mit Rupert passiert? Welche Bindung hatte man ihm auferlegt, die andere Geister nicht kannten? Handelte es sich um dieselbe Bindung, die jetzt versuchte, ihn aus dem Innenhof fortzuzerren?

Aber Rupert schien sich nicht zu fragen, was Tatiana damit meinte. Er schüttelte nur langsam den Kopf. Seine dunklen Haare reichten bis über seine Augen – so fein und glatt, dass sie ihren eigenen Willen zu haben schienen, genau wie bei Jesse. Der Anblick tat Lucie in der Seele weh: Rupert musste bei seinem Tod ungefähr so alt gewesen sein wie Jesse. »Erinnerst du dich daran, wann wir uns zum ersten Mal begegnet sind?«, fragte er, den Blick fest auf seine Frau geheftet. »Damals auf dem Weihnachtsball. Du warst so entzückt, dass ich nur mit dir tanzen wollte. Dass ich allen anderen eine Abfuhr erteilt hatte.«

»Ja«, flüsterte Tatiana. Sie betrachtete ihn mit einem Blick, den Lucie nie zuvor an ihr gesehen hatte – offen, liebevoll, verwundbar.

»Ich dachte, du wärst so entzückt gewesen, weil du dich einsam und verletzt gefühlt hast«, fuhr Rupert fort. »Aber ich habe mich getäuscht. Ich habe nicht erkannt, dass du tief in deinem Herzen verbittert und rachsüchtig warst – so sehr auf Vergeltung bedacht, dass du eine Horde Monster auf diese jungen Schattenjäger hetzt.«

»Aber das sind die Kinder derjenigen, die dich haben sterben lassen, Rupert …«

»Dein Vater hat mich ermordet!«, brüllte der Geist, und Lucie hatte das Gefühl, dass die Kraft seiner Stimme den Boden zum Beben brachte. »Die Herondales, die Lightwoods – sie sind nicht für meinen Tod verantwortlich. Sie haben ihn gerächt . Aber sie kamen zu spät, um mich zu retten. Es gab nichts, was sie noch hätten tun können!«

»Das kannst du nicht ernst meinen«, jammerte Tatiana. »All die Jahre habe ich für deine Rache geopfert, für meine Vergeltung …« Sie stieg die Stufen hinauf und streckte die Hände aus, als wollte sie Rupert in die Arme nehmen. Doch nach wenigen Schritten taumelte sie zurück, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Sie hob die Hände und kratzte an einer Barriere, die Lucie nicht sehen konnte.

»Bitte lass mich zu dir«, klagte Tatiana. »Rupert. Lass mich dich berühren. Lass mich dich halten.«

Ruperts Gesicht verzerrte sich vor Abscheu. »Nein.«

»Aber du liebst mich doch«, beharrte sie mit anschwellender Stimme. »Du hast mich immer geliebt. Du bist auf ewig an mich gebunden. Wenn ich diese Welt verlasse, werden wir endlich wieder zusammen sein. Das musst du doch verstehen.«

»Wen auch immer ich einst geliebt haben mag – diese Frau gibt es nicht mehr«, entgegnete Rupert. »Anscheinend ist sie schon vor Jahren von uns gegangen. Tatiana Blackthorn, ich sage mich von dir los. Ich sage mich von jedem Gefühl los, das ich jemals für die Frau hatte, deren Namen du trägst.« Er betrachtete sie mit gleichgültiger Miene. »Du existierst für mich nicht mehr.«

Bei diesen Worten stieß Tatiana einen Schrei aus. Einen schauerlichen Laut, wie das Heulen des Windes. Lucie hatte so etwas schon einmal gehört – von einem Geist, der gerade begriffen hatte, dass er tot war. Ein Schrei des Verlusts, der Verzweiflung. Der Niederlage.

Während Tatiana schrie und schrie, senkten die Wächter langsam ihre Stäbe. Dann stiegen sie die Stufen hinunter – vorbei an Tatiana, als wäre sie eine Salzsäule. In ihren schimmernden weißen Roben marschierten sie über den Innenhof und durch das Eingangstor des Instituts hinaus, bis auch der Letzte von ihnen verschwunden war.

Es hat funktioniert, dachte Lucie verblüfft, es hat tatsächlich funktioniert . Und dann stellte sie fest, dass ihre Beine unter ihr nachgegeben hatten und dass sie auf den Stufen saß. Ihr Puls dröhnte in ihren Ohren – schnell, viel zu schnell. Sie wusste, dass sie Rupert gehen lassen sollte, sonst würde sie vor Anstrengung selbst das Leben verlieren.

Und dennoch: Wenn es ihr gelang, dass Jesse mit seinem Vater sprechen konnte, nur ein einziges Mal …

Blitze zuckten durch den Himmel. Rupert wandte sich Jesse zu, schaute zu ihm hinauf und streckte seine Hand aus, als wollte er Jesse zu sich winken … ihn inständig bitten, näher zu kommen.

Bei diesem Anblick stieß Tatiana einen letzten, gellenden Schrei aus, stürmte aus dem Innenhof und verschwand durch das eiserne Eingangstor.

Zu Lucies großer Überraschung lief eine Gestalt die Treppen hinunter, durch den Innenhof und durch das Tor, Tatiana hinterher. Eine Person in einem zerrissenen Kleid, mit langen weißen Haaren.

O nein, dachte Lucie und rappelte sich mühsam auf. Grace, nein … Du kannst doch nicht ernsthaft gegen sie kämpfen wollen?

Aber Cordelia hatte offenbar den gleichen Gedanken gehabt. Wortlos machte sie auf dem Absatz kehrt, sprintete durch das Tor und nahm Grace’ und Tatianas Verfolgung auf.