Und seine Näh’ scheucht irre Geister fort
Zum Totenacker: banger Seelen Heere,
Am Scheideweg begraben und im Meere;
Man sieht ins wurmbenagte Bett sie gehn.
Aus Angst, der Tag möcht’ ihre Schande sehn,
Verbannt vom Lichte sie ihr eigner Wille,
Und ihnen dient die Nacht zur ew’gen Hülle.
William Shakespeare, »Ein Sommernachtstraum«
Ein feiner, stechender Regen hatte eingesetzt, während Cordelia vor den Toren des Friedhofs wartete. Die Tropfen fühlten sich auf ihrer Haut an wie kalte Nadeln.
Sie hatte schon zuvor vom Cross Bones Graveyard gehört, diesen Friedhof aber bisher noch nie aufgesucht. Lucie hatte darauf bestanden, dass sie hier ihren Plan ausführen sollten, und Cordelia hatte keine Einwände erhoben – schließlich kannte Lucie die Stadt London wesentlich besser als sie selbst.
Laut Lucie war ihr Vater Will als junger Mann oft hierhergekommen. Auf diesem Friedhof lagen die Ungesegneten, Unbeweinten und Ungeweihten begraben: Tote, die rastlos waren und verzweifelt versuchten, mit der Welt der Lebenden Kontakt aufzunehmen. Wie alle Herondales hatte auch Will die Gabe, Geister zu sehen, und die hier bestatteten Geister gaben ihm Informationen: über Dämonen, geheime Orte in der Stadt und über Teile der Geschichte Londons, an die nur sie sich erinnerten. Seit Wills Jugend war die Zivilisation immer näher an den Cross Bones Graveyard herangerückt, und die Stadt hatte sich langsam um ihn geschlossen. Inzwischen ragten zwei hässliche Armenschulgebäude aus rotem Ziegel über dem rechteckigen Stück Land auf, auf dem sich der Friedhof befand.
Cordelia wusste nicht genau, wie spät es war, aber auf den Straßen war niemand zu sehen. Die Irdischen schienen nachts weniger aktiv zu sein, und außerdem fragte sie sich, ob sie in ihrem verzauberten Zustand auf Orte wie den Cross Bones Graveyard empfindlicher reagierten als zuvor.
Den Wächtern würden natürlich weder die Zeit noch der Ort etwas ausmachen. Deshalb hielt sie wachsam nach ihnen Ausschau, eine Hand an Cortanas Heft. Sie hoffte, dass sie ihr Schwert erst dann ziehen musste, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, auch wenn sie es genoss, dass Cortana wieder an ihrer Hüfte lag – und das Gefühl der Rechtmäßigkeit, das mit seiner Gegenwart verbunden war.
Cordelia warf einen Blick über die Schulter auf den Friedhof. Sie konnte Lucie nur als einen Schatten ausmachen, der sich zwischen den Gräbern bewegte. Sie schien sich Erde von den Händen zu klopfen, und einen Moment später näherte sie sich den verrosteten Toren. Ihr Gesicht war ein bleicher Fleck in der Dunkelheit. Lucie trug ihre Montur, hatte das Haar zu einem Zopf geflochten und sich einen kleinen Rucksack über die Schulter geschwungen.
»Daisy.« Lucie holte ihr Elbenlicht hervor, schirmte es mit der Hand ab und beschäftigte sich mit dem Schließmechanismus auf ihrer Seite des Tores. »Irgendwelche Wächter? Wurden wir verfolgt?«
Cordelia schüttelte den Kopf, als Lucie das Tor aufzog. Es quietschte in den Angeln, und Cordelia quetschte sich rasch durch den entstandenen Spalt in den Lichtkegel von Lucies Elbenlicht. »Ist alles vorbereitet?«, flüsterte sie, während Lucie das Tor sorgfältig hinter ihnen schloss.
»So gut, wie es nur geht«, antwortete Lucie in ihrer normalen Sprechstimme, die in der Stille unnatürlich laut klang. »Hier entlang.«
Cordelia folgte ihr, während Lucies Elbenlicht vor ihr her tanzte wie ein Irrlicht, das einen ahnungslosen Reisenden einem düsteren Schicksal entgegenführte. Trotzdem war sie dankbar für dieses Licht, das sie sicher über den steinigen, unebenen Boden dirigierte, aus dem hier und dort Unkraut herausragte. Sie hatte zumindest Grabsteine erwartet, doch sie konnte keinen einzigen entdecken. Der Lauf der Zeit hatte jedes Anzeichen für die Anwesenheit der ungeweihten Toten, die tief unter ihren Füßen lagen, ausgelöscht. Der Friedhof erinnerte eher an ein verlassenes Baugrundstück – mit verrottenden Holzstapeln in den Ecken, alten Bleistiften, Notizbüchern und anderen Abfällen von den Armenschulen.
»Grausig, nicht wahr?«, bemerkte Lucie und führte Cordelia zwischen zwei konisch zulaufenden Steinhaufen hindurch. Möglicherweise kleine Grabhügel? »Hier liegen die gefallenen Mädchen begraben und die Armen, deren Verwandte sich kein Begräbnis erlauben konnten. Leute, die nach Ansicht der anderen Londoner möglichst schnell in Vergessenheit geraten sollten.« Sie seufzte. »Auf einem gewöhnlichen Friedhof gibt es immer ein paar Seelen, die nicht zur Ruhe kommen wollen. Aber hier ist nicht eine einzige Seele zur Ruhe gekommen. Alle, die hier liegen, waren entweder unerwünscht oder ungeliebt. Ich weiß, dass mein Vater oft hierherkam – er war mit dem Geist einer alten Frau namens Molly befreundet. Aber ich weiß nicht, wie er das ausgehalten hat. Ich finde die ganze Umgebung unerträglich traurig.«
»Musstest du … du weißt schon, musstest du es ihnen befehlen?«, fragte Cordelia.
»Nein.« Lucie klang, als wäre sie selbst überrascht. »Sie wollten helfen. Also gut … wir sind da.« Sie blieb an einem Punkt in der Nähe der hinteren Friedhofsmauer stehen. Cordelia fiel nichts Bemerkenswertes auf, aber Lucie schien sich ihrer Sache sicher zu sein. Sie hob ihr Elbenlicht. »Kein Grund, noch länger zu warten. Versuch es, Daisy«, sagte sie aufmunternd.
»Hier?«, fragte Cordelia. »Jetzt?«
»Ja. Du stehst genau am richtigen Platz.«
Cordelia holte tief Luft und zog Cortana aus der Scheide. Eine Woge der Kraft durchfuhr ihren Arm, gefolgt von einem Glücksgefühl: Ganz offensichtlich wollte Cortana noch immer von ihr geführt werden und sah sie noch immer als rechtmäßige Trägerin. Wie sehr sie dieses Gefühl vermisst hatte – die Einheit von Schwert und Trägerin. Cortana schimmerte in einem schwachen, goldenen Glanz, ein Lichtstrahl in der dämonischen Dunkelheit. Cordelia hob die andere Hand und zog dann die Klinge über die geöffnete Handfläche. Sie war so scharf, dass sie kaum spürte, wie ihre Haut aufgetrennt wurde. Dicke Blutstropfen fielen auf den Boden.
Die Erde erbebte. Lucie riss die Augen auf, als sich ein schwarzes Schimmern manifestierte – wie ein Loch in der Nacht – und die Mutter aller Dämonen daraus auftauchte.
Sie trug ein Gewand aus silberner Seide, und ihre Füße steckten in Slippern aus dem gleichen silbrigen Material. Ihr Haar lag in Zöpfen um ihren Kopf und hatte die Farbe von Hämatit. Die schwarzen, glänzenden Schuppen der Schlangen in ihren Augen glitzerten, während sie vor und zurück schossen und die Szenerie in sich aufnahmen.
»Also wirklich«, sagte Lilith in verärgertem Tonfall. »Nachdem du diese Blackthorn-Frau getötet hattest, nahm ich an, dass dies deinen Hunger nach Blut geweckt hätte. Allerdings wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass es sich dabei um dein eigenes Blut handeln würde.« Sie schaute sich um, betrachtete den Friedhof und den Himmel voll wirbelnder, grauschwarzer Wolken. »Belial hat sich wirklich selbst übertroffen, nicht wahr?«, bemerkte sie, mit einer Art widerstrebender Bewunderung in der Stimme. »Ich nehme mal an, dass ich etwas dagegen unternehmen soll und dass du mich deswegen belästigst, richtig?«
»Nicht ganz«, erwiderte Cordelia. Sie spürte, wie ihr Herz raste, und biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. Sie würde Lilith gegenüber keine Angst zeigen. »Ich habe dir etwas zu erzählen, was für dich von Interesse sein wird.«
Lilith taxierte Lucie, während die Schlangen in ihren Augen träge züngelten. »Und wie ich sehe, hast du eine Freundin mitgebracht. Ist das wirklich vernünftig?«
Lucie funkelte sie finster an. »Ich habe keine Angst vor dir.«
»Das solltest du aber«, sagte Lilith. Dann wandte sie sich wieder an Cordelia: »Und du … du hast viel zu lange gewartet, Paladin. Belial steht kurz vor der Vollendung seines Plans. Danach werde ich für dich keine Verwendung mehr haben, und der Gedanke gefällt mir ganz und gar nicht. Abgesehen davon werde ich dich jetzt nicht aus London fortschicken. Dies ist der Ort, den Belial aufsuchen wird, wenn er seine Vorbereitungen abgeschlossen hat.«
»Ich habe dich nicht gerufen, weil ich London verlassen will«, setzte Cordelia an. »Ich …«
»Du hast mich gerufen, weil Belial dir deine Liebhaber genommen hat«, höhnte Lilith grinsend.
Cordelia biss die Zähne zusammen. »James ist mein Ehemann, und Matthew mein Freund. Ich will, dass sie gerettet werden. Dafür bin ich bereit, dein Paladin zu sein. Ich werde in deinem Namen kämpfen, wenn du sie aus Edom zurückbringst.«
Liliths Grinsen erlosch. »Ich könnte noch nicht einmal dann in Edom eindringen, wenn ich es wollte. Die beiden sind außerhalb meines Einflussbereichs. Wie ich schon sagte: Du hast zu lange gewartet …«
»Vielleicht kannst du Edom ja nicht besuchen. Aber du könntest mich dorthin schicken«, entgegnete Cordelia.
»Versuchst du etwa zu verhandeln?« Lilith klang amüsiert. »Oh, Paladin. Ein Ritter verhandelt nicht mit seiner Lehnsherrin. Der Ritter ist der fleischgewordene Wille seiner Lehnsherrin – sonst nichts.«
»Nein.« Cordelia hob Cortana in die Höhe. Die Klinge schien jetzt zu brennen, wie eine Fackel in der Nacht. »Ich bin mehr. Und du bist nicht so mächtig, wie du denkst. Du bist gebunden, Mutter aller Dämonen. Gebunden und gefangen.«
Lilith lachte laut. »Hältst du mich wirklich für eine solche Närrin, dass ich dir erlauben würde, mich zu binden? Schau dich um, mein Kind. Ich sehe kein Pentagramm. Ich sehe keinen Kreis aus Salz. Nur nackten Erdboden, Schmutz und Steine. Welche Macht sollte mich hier binden?«
Cordelia blickte zu Lucie, die tief Luft holte.
»Erhebt euch«, sagte Lucie. »Das ist kein Befehl, nur eine Bitte. Erhebt euch.«
Strahlen aus silbrigem Licht schossen aus dem Erdboden hervor und verdichteten sich zu durchscheinenden menschlichen Gestalten. Dutzende kamen um Cordelia herum zum Vorschein, bis sie das Gefühl hatte, dass sie in einem Wald aus leuchtenden Bäumen stand.
Es waren die Geister von Frauen, blutjung und schäbig gekleidet, mit traurigen, leeren Augen; Cordelia hätte nicht sagen können, ob ihr Leben oder ihr Tod der Grund für diese Trauer war. Auch ein paar durchscheinende Männer waren darunter, die meisten von ihnen ebenfalls jung. Sie standen, die geisterhaften Hände miteinander verschränkt, in einer langen Menschenkette da, die sich kreuzte und gabelte und so ein Pentagramm bildete. Und im Zentrum des Pentagramms befand sich Cordelia … und Lilith.
»Diese Geister sind mir treu ergeben«, sagte Lucie, die sich ihrerseits ein paar Schritte außerhalb des Pentagramms positioniert hatte. Cordelia sah, wie sich die leuchtenden Gestalten der Geister des Cross-Bones-Friedhofs in Lucies Augen spiegelten. »Sie werden dieses Pentagramm so lange aufrechterhalten, wie ich sie darum bitte. Und selbst wenn ich diesen Ort verlasse, wirst du hier gefangen sein.«
Zischend wirbelte Lilith herum und schlug nach dem Geist, der ihr am nächsten war – doch ihre Hand fuhr mit einem leichten Knistern durch den transparenten Körper hindurch. Im nächsten Moment verzerrte sich Liliths Gesicht, Fangzähne zuckten aus ihrem Maul hervor und ihr Haar verwandelte sich in ein elegantes Schuppenmuster. Die silbernen Slipper fielen von ihren Füßen, und unter ihrem Gewand kroch ein gewaltiger Schlangenschwanz hervor. »Lass mich sofort frei«, zischte sie. »Sonst werde ich Cordelia Carstairs Glied für Glied zerreißen und ihr sämtliche Knochen brechen. Und denk ja nicht, dass ich dazu nicht in der Lage wäre.«
Lucie wurde bleich, wich aber nicht zurück. Cordelia hatte sie gewarnt, dass Lilith so reagieren würde; allerdings hatte sie mit keinem Wort erwähnt, ob Lilith ihre Drohung möglicherweise wahr machen könnte. Lucie stand außerhalb des Pentagramms und war damit in Sicherheit – alles Weitere interessierte Cordelia nicht. Ihr ging es nur um ihren Plan, um James und Matthew. Und ihr Plan musste einfach funktionieren.
»Ich glaube nicht, dass du mich töten wirst«, erwiderte Cordelia ruhig. »Dafür bist du viel zu schlau. Schließlich bin ich dein Paladin und die Trägerin des Schwerts Cortana. Ich bin die Einzige, die Belial eine dritte Wunde zufügen und sein Dasein beenden kann. Ich bin die Einzige , die dir dein Reich zurückerobern kann.«
»Du versuchst noch immer zu verhandeln.« Liliths Fangzähne gruben sich in ihre eigene Unterlippe, und Blut lief ihr das Kinn hinab. »Du behauptest, dass du Belial töten willst.«
»Nein. Ich will James und Matthew retten«, sagte Cordelia. »Und dafür bin ich bereit, Belial zu töten. Ich habe den Willen, und ich habe die Waffe. Schick uns nach Edom, mich und Lucie. Schick uns nach Edom, und ich werde dein Reich zurückerobern, indem ich Belial beseitige. Bevor er London einnimmt. Bevor er von James Besitz ergreift. Bevor er nicht mehr aufzuhalten ist.«
»Ist das alles? Mehr willst du nicht? Nur eine Chance, deine Freunde zu retten?«, fragte Lilith verächtlich.
»Nein. Ich will außerdem deine Zusage, dass du mich aus deinen Diensten entlässt, sobald Belial durch mein Schwert gefallen ist. Danach werde ich nicht länger dein Paladin sein. Und ich will dein Wort darauf, dass du weder mir noch den Mitgliedern meiner Familie Schaden zufügst.«
Die Schlangen waren verschwunden, und Liliths Augen wirkten wieder glatt und schwarz, so wie auf dem Wandgemälde. »Du verlangst sehr viel von mir.«
»Dafür erhältst du auch sehr viel«, erwiderte Cordelia. »Eine ganze Welt.«
Lilith zögerte einen Moment. »Deine Freunde in Edom leben noch«, sagte sie schließlich. »Sie werden in Idumea festgehalten, der berühmten Hauptstadt von Edom, in der mein Palast steht.«
Idumea. Die Stadt, die in jener Parallelwelt einst wie Alicante gewesen war, und in der die dortigen Schattenjäger vor eintausend Jahren den Kampf gegen die Dämonen verloren hatten. Wo Lilith einst geherrscht hatte, bis Belial erschien.
»Ich kann euch nicht in die Stadt bringen«, sagte Lilith. »Belial hat viele Bereiche von Edom für mich blockiert. Aber ich kann euch in die Nähe schicken. Danach …« Sie bleckte ihre Fangzähne. »Einmal in Edom angekommen, werden weder ich noch euer Erzengel euch schützen können. Ich kann nicht über euch wachen, solange Belial dort herrscht. Und eure Engelsrunen werden in Edom schneller verblassen, als ihr sie auftragen könnt. Du magst zwar Cortana an deiner Seite haben, aber Edom ist kein einladender Ort für Menschen. Dort wachsen keine Pflanzen, und alles Wasser, das ihr findet, wird für euch giftig sein. Außerdem könnt ihr nicht während der Nacht reisen: Sobald die Monde aufgehen, müsst ihr euch einen Unterschlupf suchen. Anderenfalls werdet ihr in der Dunkelheit sterben.«
»Klingt reizend«, murmelte Lucie. »Jetzt verstehe ich, warum du unbedingt dorthin zurückwillst.«
»Wenn wir in Edom sind und James und Matthew gefunden haben … wie kommen wir wieder nach London zurück?«, fragte Cordelia.
»In Idumea gibt es eine Garnison – ein dunkles Spiegelbild eurer Garnison in Idris. Sie hat einst mir gehört, aber Belial hat sie während der Aneignung meines Reichs zu seiner Festung ausgebaut. Innerhalb dieser Garnison befindet sich ein Portal, das ich selbst erschaffen habe. Durch dieses Portal werdet ihr wieder in eure Welt zurückreisen können.«
Es war reine Torheit, Lilith zu vertrauen, das wusste Cordelia. Andererseits würde die Mutter aller Dämonen wollen , dass sie erfolgreich waren und zurückkehrten, denn Lilith wünschte sich nichts sehnlicher als Belials Tod – ganz gleich wo.
»Dann haben wir eine Abmachung«, sagte Cordelia. »Aber zuerst musst du es beschwören. Schwöre, dass du uns sicher nach Edom bringst. Schwöre, dass du mich von meinem Eid als Paladin entbindest, wenn Belial durch mein Schwert stirbt. Schwöre, in Luzifers Namen.«
Lilith zuckte zusammen, aber sie leistete ihren Schwur, im Namen Luzifers. Cordelia achtete sehr genau auf jedes ihrer Worte, um sicherzugehen, dass Lilith ihren Schwur exakt so leistete, wie sie es von ihr verlangt hatte. Niemand legte mehr Wert auf die Genauigkeit der Wortwahl als Dämonen – das hatte sie ihr Eid als Paladin gelehrt, und sie würde sich nicht noch einmal austricksen lassen.
Als der Schwur geleistet war, verzog Lilith das Gesicht zu einem grausigen, schlangenhaften Grinsen. »Es ist vollbracht«, sagte sie. »Entfernt das Pentagramm.«
»Nein«, erwiderte Lucie fest. Dann wandte sie sich an die Geister: »Wenn ich das Portal passiert habe, könnt ihr euch zerstreuen und den Dämon freilassen – aber erst, wenn ich tatsächlich verschwunden bin.«
Lilith zischte wütend. Doch dann hob sie die Hände, spreizte sie, und ihre Finger schienen nach Lucie und Cordelia zu greifen.
Dunkelheit quoll aus ihren Handflächen hervor. Cordelia musste unwillkürlich an die Schatten denken, die James und Matthew verschluckt hatten. Dann wurden Lucie und sie von einer tiefen Finsternis umschlungen, die ihr die Sicht und den Atem nahm. Rasch schob sie Cortana zurück in die Scheide und spürte dann, wie sie gepackt, in die Höhe und ins Weite gewirbelt wurde, während Liliths Lachen in ihren Ohren widerhallte. Sie sah das Licht dreier seltsamer Monde am Himmel, während ein sengend heißer, trockener Wind sie immer höher hob und dabei ihren Körper verdrehte, als wollte er ihr das Rückgrat brechen.
Sie rief nach Lucie … und dann fiel sie, stürzte durch eine heiße, erstickende Dunkelheit, den salzigen Geschmack von Blut im Mund.
Jesse drückte seine Zimmertür auf. Er hatte die Kerzen brennen lassen – eigentlich hatte er den ganzen Raum in einer fürchterlichen Unordnung zurückgelassen. Was das betraf, sah er selbst fast genauso unordentlich aus: Sein Hemd war falsch zugeknöpft, und seine Schuhe passten nicht zueinander.
Als er Lucies Nachricht gelesen hatte, war er sofort aus dem Zimmer gestürzt. Er wusste nicht, wie lange sie schon verschwunden war. Dabei hatte er das Gefühl, als hätte er kaum geschlafen – also konnte bestenfalls eine halbe Stunde vergangen sein, bis er sich auf dem Bett herumgedreht hatte und durch das Knistern von Lucies Zettel aufgewacht war.
Hastig streifte er ein paar Kleidungsstücke über, dann rannte er auch schon aus dem Haus. Doch er hatte kaum die Hälfte des Innenhofs durchquert, als er sich erinnerte: Er war ein Schattenjäger. Ihm würde mit Sicherheit etwas Besseres einfallen, als ohne Straßenkarte und ohne Plan in die Nacht hinauszustürmen. Mit Lucies goldenem Kamm in der Hand zeichnete er sich eine Ortungsrune auf den Handrücken und wartete.
Und spürte nichts, absolut nichts.
Ein eisiger Schauer jagte ihm über den Rücken. Er fragte sich, ob er die Rune falsch aufgetragen hatte – obwohl er tief in seinem Inneren wusste, dass das nicht der Fall war. Erneut zeichnete er die Rune. Wartete wieder.
Nichts. Er hörte nur den Wind, der Eis und Rußpartikel durch die Straßen fegte, und die schreckliche Stille der Stadt London, ohne Vogelgezwitscher, Verkehr oder die Rufe der Straßenhändler.
Lucie war verschwunden.
Langsam ging er wieder zurück in sein Zimmer und hatte den größten Teil des Wegs zu seinem Bett zurückgelegt, als ihm auffiel, dass jemand dort lag. In der Mitte der Matratze war eine Art Nest aus Decken aufgehäuft worden, durchmischt mit verstreuten Bogen Papier, und in der Mitte des Nests entdeckte er Grace. Sie lag zusammengerollt da, trug ein sauberes Nachthemd aus Leinen und hatte die Füße bandagiert. Ihr helles Haar war zu Zöpfen geflochten, und sie wirkte viel jünger, als sie eigentlich war – weniger wie die junge Frau, zu der sie sich entwickelt hatte, und mehr wie das junge Mädchen, das er vor so vielen Jahren unterrichtet und nach Kräften beschützt hatte.
»Sie sind verschwunden, oder?«, fragte sie.
Jesse setzte sich ans Fußende des Betts. »Woher weißt du das?«
Grace zupfte an einem ihrer Zöpfe. »Ich konnte nicht schlafen. Also habe ich aus dem Fenster geschaut und gesehen, wie sie zusammen das Haus verließen. Und dann kamst du herausgerannt, und es sah so aus, als ob du versucht hättest, sie zu orten.« Sie runzelte die Stirn. »Wo sind sie hingegangen?«
Jesse zog Lucies Nachricht aus seiner Hosentasche und gab sie Grace, die den Zettel neugierig auseinanderfaltete.
Als sie den Inhalt gelesen hatte, musterte sie Jesse besorgt. »Ich wusste, dass sie etwas planten«, sagte sie. »Allerdings nicht, worum es dabei genau ging. Edom, und Lilith – ich weiß nicht recht …«
»Woher wusstest du, dass sie etwas planten?«, fragte Jesse.
»Es lag an der Art, wie sie einander ansahen«, antwortete Grace. »Als ob sie ein Geheimnis hätten.«
Jesse seufzte. »Ich komme mir so dumm vor. Mir ist nichts aufgefallen.«
»Ich habe lange ein Geheimnis mit Lucie geteilt: dich. Ich weiß, wie sie aussieht, wenn sie etwas plant. Cordelia ist schwerer zu durchschauen, aber …« Grace blickte zu Boden. »Es tut mir leid, dass ich nicht erkannt habe, worum es ging. Sonst hätte ich etwas gesagt. Als sie das Haus verließen, habe ich nur angenommen, dass sie Wächter jagen gehen oder sich auf die Suche nach weiteren Schattenweltlern machen wollten.«
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte Jesse. Ihre Augen waren riesengroß, spiegelblank und sahen ihn unverwandt an. Doch er meinte es ernst: Er machte ihr keine Vorwürfe, zumindest nicht in dieser Hinsicht.
»Es ist eigenartig«, sagte er. »Als ich noch ein Geist war, konnte ich Lucie spüren. Ich konnte einfach … in die Schatten hineingreifen und sie finden. Dort auftauchen, wo auch immer sie sich gerade befand. Aber das ist jetzt vorbei.«
»Jetzt bist du am Leben«, sagte Grace leise. »Jetzt musst du mit deinen menschlichen Grenzen leben. Und innerhalb dieser Grenzen gibt es nichts, was du hättest tun können.«
»Ich wünschte, Lucie hätte mir davon erzählt.« Jesse blickte auf seine Hände. »Dann hätte ich versuchen können, es ihr auszureden …«
»Ich habe Lucie in den letzten Monaten recht gut kennengelernt«, erwiderte Grace, gar nicht mal unfreundlich. »Sie war vermutlich das, was einer Freundin am nächsten kommt. Und ich weiß – und zweifellos weißt du das auch –, dass sie sehr entschlossen sein kann. Sie hat ihre Entscheidung getroffen, und sie hätte sich von niemandem darin beeinflussen lassen. Nicht einmal von dir.«
»Selbst wenn ich sie nicht aufgehalten hätte, dann hätte ich sie zumindest begleiten können«, wandte Jesse ein.
»Nein«, widersprach Grace. »Ich meine … Jesse, wenn sie tatsächlich nach Edom gereist sind, dann ist das nur möglich, weil Cordelia durch ihren Bund mit Lilith geschützt wird, und Lucie durch ihre Verbindung zu Belial. Es handelt sich um ein Dämonenreich, und somit würdest du dort in schrecklicher Gefahr schweben. Genau deshalb hat Lucie weder dir noch irgendjemand anderem davon erzählt. Vermutlich hat Cordelia noch nicht einmal Alastair eingeweiht. Sie wussten genau, dass niemand anderes mitkommen konnte.«
»Es wäre mir egal gewesen«, entgegnete Jesse und ballte die Hände zu Fäusten. »Das Risiko, meine ich.«
»Aber mir wäre es nicht egal gewesen, dass du dein Leben aufs Spiel setzt. Ich weiß, dass du böse auf mich bist, Jesse. Und ich weiß auch, dass du mich möglicherweise nie mehr so gern haben wirst wie früher. Aber du bist noch immer mein Bruder. Du bist ein Teil meines Wesens, und wenn auch nur ein Fünkchen Gutes in mir steckt, neben all dem Bösen, dann habe ich das dir zu verdanken.«
Jesses Züge entspannten sich. Er streckte einen Arm aus, ergriff Grace’ Hand, und eine Weile saßen sie einfach nur schweigend da.
»Falls es dir ein Trost sein sollte: Ich glaube, dass Lucie auch deshalb ohne dich abgereist ist, weil sie wusste, dass wir dich brauchen«, sagte Grace schließlich. »Zurzeit sind nur sechs von uns hier – sechs Schattenjäger, die zwischen London und der ewigen Finsternis stehen.«
»Es ist mir tatsächlich ein kleiner Trost«, bestätigte Jesse. »Und … es steckt viel Gutes in dir, Gracie«, fügte er nach einem Moment hinzu. »Nachdem du aus der Stadt der Stille entkommen warst, bist du als Erstes hierhergeeilt und hast uns vor Tatiana gewarnt. Du hättest genauso gut auch fliehen können. Das wäre einfacher und vielleicht sogar sicherer gewesen. Aber du hast das Risiko auf dich genommen.«
»Ich wollte verhindern, dass sie gewinnt«, erklärte Grace. »Mama. Sie hat mir so vieles genommen. Ich wollte zusehen, wie sie verliert. Ich kann nur hoffen, dass ich es aus Rechtschaffenheit getan habe; aber ich befürchte, dass es sich eher um Starrköpfigkeit handelte. Wir sind nämlich beide ziemlich starrköpfig, du und ich.«
»Ist das gut oder schlecht?«, fragte Jesse. »Vielleicht wird uns unsere Starrköpfigkeit ja umbringen.«
»Aber vielleicht macht sie ja auch den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage aus«, meinte Grace. »Vielleicht ist es genau das, was wir gerade jetzt brauchen: dass wir uns starrsinnig weigern aufzugeben. Dass wir niemals aufgeben. Dass wir bis zum Ende kämpfen.«
Als die Sonne langsam unterging, hatte bei Matthew ein unkontrolliertes Zittern eingesetzt, obwohl er sich in seinen und in James’ Mantel einwickelte: Seine Zähne klapperten so sehr, dass er sich die Unterlippe blutig biss. Er keuchte, dass der Geschmack des Blutes ihm Übelkeit bereite, kroch ein paar Meter zur Seite und übergab sich – spuckte Wasser und Apfelstücke und, wie James befürchtete, den letzten Rest von Christophers Beruhigungsmittel.
James fragte sich grimmig, wie viel schlechter Matthews Zustand wohl wäre, wenn er nicht bereits damit begonnen hätte, seinen Alkoholkonsum zu reduzieren. Er hatte schon vor ihrer Reise nach Edom unter Entzugserscheinungen gelitten, und James konnte nur hoffen, dass ihm das die kommenden Tage etwas erleichtern würde.
Ein unheimlicher, grauweiß schimmernder Mond stieg am Himmel auf … und dann ein zweiter und ein dritter. Der Innenhof war so hell erleuchtet wie am Tag, auch wenn die Schatten zwischen den abgestorbenen Bäumen etwas länger wirkten. Als James etwas Wasser holen ging, konnte er die Reflexion der drei Monde auf der Wasseroberfläche in der Steinschale zittern sehen.
Er dachte an seine Eltern, weit entfernt in Alicante, im Schatten der wahren Garnison. Sie mussten inzwischen erfahren haben, was mit London geschehen war. Und mit ihm. Irgendjemand würde ihnen die Nachricht überbracht haben. Nicht Lucie – sie würde London niemals freiwillig seinem Schicksal überlassen.
Als er zur Mauer zurückkehrte, lehnte Matthew zitternd mit dem Rücken dagegen. James versuchte, ihm den Becher mit Wasser zu reichen, aber Matthew bibberte zu sehr, um ihn anzunehmen. Vorsichtig hielt James ihm das Gefäß an die Lippen und ermunterte ihn zu trinken, bis der Becher leer war.
»Ich will mich nicht wieder übergeben«, krächzte Matthew, doch James schüttelte nur den Kopf.
»Immer noch besser, als zu verdursten«, sagte er und stellte den Becher ab. »Komm mal her.«
Er zog Matthew grob an sich, bis dessen Rücken an seiner Brust lag, und schlang die Arme um seinen Parabatai. Natürlich hatte er angenommen, dass Matthew dagegen protestieren würde, doch der schien über diesen Punkt hinaus zu sein: Er ließ sich einfach zurücksinken – ein beängstigend leichtes Gewicht an James’ Brust.
»Das tut gut«, sagte Matthew erschöpft. »Du bist besser als jeder Mantel.«
James legte sein Kinn auf Matthews Schulter. »Es tut mir leid«, sagte er.
Er spürte, wie Matthew sich versteifte. »Was tut dir leid?«
»Alles«, antwortete James. »Paris. Der Streit, den wir auf dem Schattenmarkt hatten. Als du mir gesagt hast, dass ich Cordelia freigeben sollte, wenn ich sie selbst nicht liebe … damit ein anderer sie lieben kann. Damals war ich zu blind, um zu erkennen, was du damit gemeint hast.«
»Du warst im Bann eines Zaubers«, brachte Matthew mühsam hervor. »Und wie du schon sagtest: Dieser Zauber hat dich geblendet.«
»Tu das nicht«, sagte James. »Entschuldige mein Verhalten nicht. Du hast damals im Institut gesagt, dass du nicht in der Lage wärst, mir böse zu sein … Aber ich wünschte, du wärst dazu in der Lage. Und selbst wenn du mir nicht die Schuld geben willst für irgendetwas, das ich unter dem Einfluss des Armbands getan habe … Was ist mit den Dingen, die nach dem Zerbrechen des Armreifs passiert sind? Ich hätte viel mehr auf deine Gefühle Rücksicht nehmen müssen.«
»Und ich hätte nie mit Cordelia nach Paris durchbrennen dürfen«, erwiderte Matthew.
»Ich weiß, wie ich auf dich gewirkt haben muss«, sagte James leise. »Verantwortungslos, launisch, unnötig grausam gegenüber Cordelia – ohne all das überhaupt zu bemerken. Im Namen einer blinden Leidenschaft, die für niemanden einen Sinn ergab außer für mich.«
»Und trotzdem war es selbstsüchtig von mir. Ich dachte … Ich habe mir eingeredet, dass du sie nicht lieben würdest. Und dass ich sie liebte … liebend gern mit ihr zusammen war, weil …«
»Weil sie so ist, wie sie ist«, sagte James.
»Aber auch weil sie mich nie so kennengelernt hat, wie du mich noch kennst – aus den Zeiten, bevor ich mit dem Trinken angefangen habe. Nicht wirklich. Wie du weißt, hatte ich einst Gefühle für Lucie, aber jedes Mal, wenn sie mich ansah, konnte ich in ihren Augen erkennen, dass sie darauf wartete, dass ich zu meinem früheren Ich zurückkehrte. Zu dem Matthew, der ich war, bevor ich zur Flasche gegriffen habe. Cordelia kannte mich nur als den Matthew, der ich danach war.« Matthew umschlang seine Knie mit den Armen. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was für eine Person ich sein werde, wenn ich nüchtern … vollkommen trocken bin. Ich bin mir noch nicht mal sicher, dass ich diese Person selbst mögen werde – falls ich lange genug lebe, um sie kennenzulernen.«
James wünschte, er könnte Matthews Miene sehen. »Math, der Alkohol hat dich nicht witziger, charmanter oder liebenswerter gemacht als zuvor. Definitiv nicht. Er hat dir nur geholfen zu vergessen. Das ist schon alles.«
»Was zu vergessen?« Matthew klang atemlos.
»Das, weshalb du so wütend auf dich bist – was auch immer das ist«, antwortete James. »Und bevor du fragst: Cordelia hat mir nichts erzählt. Ich nehme an, dass du ihr dein Geheimnis anvertraut hast; meiner Meinung nach ist das einer der Gründe, warum du dich so sehr nach ihr gesehnt hast. Schließlich verzehren wir uns alle verzweifelt nach denen, die uns und unsere Wahrheit kennen. Unsere Geheimnisse.«
»Das alles hast du selbst herausgefunden?«, sagte Matthew leicht verblüfft.
»Wenn ich nicht gerade unter einem Zauberbann stehe, kann ich überraschend scharfsinnig sein«, meinte James trocken. »Außerdem bist du die andere Hälfte meiner Seele, mein Parabatai – wie hätte ich es also nicht herausfinden können?« Er holte tief Luft. »Ich kann nicht verlangen, dass du mir alles erzählst; schließlich habe ich dir auch mehr als genug vorenthalten. Nur … Wenn du mir etwas erzählen willst, dann schwöre ich, dass ich dir zuhören werde.«
Eine Weile herrschte Stille. Dann setzte Matthew sich auf. »Ihr Herondales – ihr seid immer so verdammt überzeugend«, murmelte er, legte den Kopf zurück und starrte hinauf zu den eigenartigen drei Monden. »Also gut. Ich werde dir erzählen, was passiert ist.«
»London war zwar noch nie meine Lieblingsstadt, aber ich muss sagen, dass mir die Stadt in ihrem früheren Zustand sehr viel besser gefallen hat als jetzt«, meinte Alastair.
Es musste um die Mittagszeit sein, auch wenn sich das nur schwer feststellen ließ, und Alastair und Thomas streiften auf der Jagd nach Wächtern durch Bayswater.
Das Ganze hatte als Erkundungsmission begonnen. Folgt den Wächtern, ohne gesehen zu werden, hatte Anna ihnen aufgetragen; findet heraus, wo sie sich versammeln, und wenn möglich, wie man sie verletzen oder töten kann.
Das war vor einigen Stunden gewesen. Zwar hatten sie mehrere Wächter gesehen und versucht, ihnen auf ihren Streifzügen zu folgen, aber es war ihnen nicht gelungen herauszufinden, wie man sie besiegen konnte. Denn alle anderen Bewohner der Stadt – Irdische, Schattenweltler und sogar Tiere – machten einen weiten Bogen um die Wächter. Und nur durch Beobachtung aus sicherer Entfernung würden sie nie feststellen können, wozu die Wächter in einem Kampf in der Lage waren und wie man sie aufhalten konnte.
Also hatten sie beschlossen, den nächsten Wächter, der ihnen begegnete, anzugreifen. Sie beide waren schwer bewaffnet: Thomas trug eine Hellebarde und Alastair einen langen Shamshir , einen persischen Krummsäbel. Dazu führte jeder von ihnen mehrere Seraphklingen und Dolche an seinem Gürtel mit sich. Unter normalen Umständen hätte Thomas sich relativ sicher gefühlt, aber in diesem London würde es sich sofort rächen, wenn sie auch nur eine Sekunde unaufmerksam waren.
Vorsichtig schlichen sie durch Westbourne Grove, vorbei an den dunklen, schmutzigen Fenstern von Whiteleys, einem Kaufhaus, das die Hälfte der Straßenfront einnahm. Normalerweise drängten sich hier elegante Kutschen, Lieferwagen und aufgeregte Kauflustige, aber heute war keine einzige Kutsche zu sehen. Ein einsamer älterer Herr mit Gehrock und schiefem Hut auf dem Kopf saß zusammengesunken wie ein Bettler auf dem Gehweg vor dem Fenster für Herrenstrickwaren und murmelte etwas über Socken. Eine plötzliche Bewegung hinter dem Mann ließ Thomas kurz zusammenzucken – doch es handelte sich nur um einen weggeworfenen und völlig verschmutzten Damenschirm, der früher einmal rosa gewesen sein musste. Er flatterte wie ein sterbender Vogel neben einer teuer aussehenden Auslage mit Hüten und war durch das schlammverschmierte Schaufenster nur schwer zu sehen. Auch die Hüte wirkten schmutzig. Das Ganze bot keinen besonders aufmunternden Anblick, und Thomas konnte nicht anders, als Alastair beizupflichten.
»Meinst du damit, dass dir London besser gefallen hat, als es noch nicht vom Rest der Welt abgeschnitten war? Oder dass du die Stadt bevorzugt hast, als sich die Irdischen noch frei bewegt haben, statt wie Marionetten von einem Dämon gelenkt zu werden?«, fragte er höflich.
»Ich meine damit, dass ich ein London mit offenen Geschäften bevorzugt habe«, antwortete Alastair trocken. »Ich möchte wieder Hüte kaufen können. Kommt schon, zeigt euch, Wächter!«, rief er, dieses Mal etwas lauter. »Zeigt euch, damit wir euch genau unter die Lupe nehmen können!«
»Ich glaube nicht, dass hier in diesem Viertel überhaupt Wächter sind«, sagte Thomas. »Schließlich haben wir uns überall umgesehen. Aber wir könnten es im Hyde Park versuchen. Als ich Jesse und Grace zum Grosvenor Square gebracht habe, habe ich eine ganze Gruppe Wächter dort gesehen.«
Sie gingen weiter durch den Queensway. Die Straße lag ebenfalls völlig verlassen und trist vor ihnen. Der Wind hatte einen halben Meter hohen Müllhaufen gegen das Geländer an der Ostseite der Straße geweht. Alastair und Thomas hielten abrupt inne, als sie eine Gestalt in einer weißen, flatternden Robe entdeckten. Doch dann entspannten sie sich: Es handelte sich nicht um einen Wächter, sondern um ein junges, irdisches Kindermädchen in einer weißen Schürze, die einen großen, weißen, eleganten Kinderwagen schob. »Es war einmal«, sang sie fröhlich. »Es war einmal. Es war einmal …«
Als sie an ihr vorbeikamen, warf Thomas einen kurzen Blick unter das Verdeck des Kinderwagens und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass kein Säugling darin lag, sondern eine Sammlung von Abfällen, die die Frau von der Straße aufgelesen haben musste: schmutzige, alte Lumpen, zerknittertes Zeitungspapier, Blechdosen, Laub. Außerdem hatte er das Gefühl, dass ihm die glänzenden Augen einer Ratte aus diesem Müllnest entgegenstarrten.
Thomas fragte sich, wie lange die Irdischen wohl so weiterleben konnten. Wie ernährten sie sich und ihre Kinder? Würden sie verhungern oder eines Tages still stehen bleiben – wie eine Uhr, die man nicht mehr aufzog? Belial hatte behauptet, er wolle über ein neues London herrschen … Würde das ein London voller Leichen sein? Oder würde er weitere Dämonen in die Stadt holen, um die Häuser und die Straßen zu bevölkern?
Schließlich erreichten sie die Bayswater Road und den Eingang zum Hyde Park. Die schwarzen, schmiedeeisernen Torflügel standen offen und flankierten einen breiten Weg, der von laublosen Buchen gesäumt war: eine Allee, die sich bis weit in die neblige Düsternis erstreckte. Von den sonst üblichen Besuchergruppen, Hundeausführern oder mit Papierdrachen spielenden Kindern war nichts zu sehen. Die einzigen Lebewesen weit und breit waren eine Gruppe von Pferden, die friedlich ein paar Grasbüschel zupften – eine Szenerie, die eigentlich sehr idyllisch hätte sein können, wenn die Tiere nicht allesamt Zaumzeug, Scheuklappen und Kopfgeschirr getragen hätten. Eines der Pferde zog die gebrochene Deichsel einer Hansom-Kutsche hinter sich her. Während Thomas die Pferde vor ihm betrachtete, sah er plötzlich aus dem Augenwinkel, wie eine rotköpfige Gestalt hinter eine Eiche huschte – ein Blinzeln, und das Wesen war verschwunden.
»Thomas«, sagte Alastair. »Hör auf zu grübeln.«
»Ich grüble nicht«, log Thomas. »Also, was ist mit Cordelia und Lucie passiert? Wusstest du, dass sie nach Edom wollten?«
Am Morgen hatte Jesse ihnen allen die Nachricht gezeigt, die Lucie ihm hinterlassen hatte. Darin schrieb sie, dass Cordelia und sie eine Möglichkeit entdeckt hatten, in Belials Reich nach Edom zu reisen, um dort hoffentlich James und Matthew zu retten.
Die anderen hatten so reagiert, wie Thomas es erwartet hatte: Anna wirkte zornig, aber resigniert, Ari und Thomas hatten versucht, optimistisch zu bleiben, Jesse war ruhig, aber entschlossen, und Grace schwieg. Nur Alastairs Reaktion hatte ihn verblüfft: Er hatte den Eindruck erweckt, als ob ihn nichts an dieser Nachricht überraschte.
»Ich wusste nicht genau, was sie vorhatten«, sagte er jetzt. »Aber Cordelia hat mich gestern nach Cortana gefragt, und ich habe ihr das Schwert gegeben. Damit war klar, dass sie irgendeine Art von Plan hatte.«
»Und du hast nicht versucht, sie aufzuhalten?«, fragte Thomas.
»Eines habe ich gelernt«, sagte Alastair. »Wenn meine Schwester sich etwas vorgenommen hat, ist es sinnlos, sie davon abhalten zu wollen. Abgesehen davon: Mit welcher Begründung hätte ich sie aufhalten wollen? Damit sie noch mehr von dem hier erleben kann?« Er deutete um sich herum. »Wenn sie wie eine Schattenjägerin im Kampf sterben will, bei der Verteidigung ihrer Familie, kann ich ihr das nicht verwehren.«
Die Worte klangen trotzig, doch Thomas konnte Alastairs Sorge und Kummer deutlich heraushören. Am liebsten hätte er Alastair an sich gezogen, obwohl sie einander seit Christophers Tod kaum berührt hatten. Thomas war seitdem nicht dazu in der Lage gewesen: Sein ganzer Körper fühlte sich so empfindlich an wie eine offene Wunde. Aber der verzweifelte Unterton in Alastairs Stimme …
»Was ist das denn?«, fragte Alastair plötzlich, blinzelte angestrengt in die Ferne und zeigte in Richtung des Lancaster Gate, durch das man aus dem Park hinaus und wieder in die Stadt gelangte.
Thomas folgte seinem ausgestreckten Finger, und nach kurzem Spähen sah er es auch – das schnelle Aufleuchten einer weißen Robe hinter den Eisengittern.
Hastig liefen sie durch das Tor, hielten sich aber in sicherer Entfernung. Und tatsächlich: Eine einzelne Kreatur in weißer Robe und mit weißer Kapuze lief zielstrebig Richtung Norden und hatte ihnen den Rücken zugewandt. Thomas und Alastair warfen einander wortlos einen Blick zu und folgten dem Wächter dann so schnell und leise, wie sie konnten.
Thomas achtete kaum darauf, wohin sie unterwegs waren, bis Alastair ihm auf die Schulter tippte. »Ist das nicht Paddington Station?«, flüsterte er.
Er hatte recht. Der Bahnhof hatte weder eine besondere Beschilderung noch einen imposanten Haupteingang: Es handelte sich einfach um ein reizloses, lang gezogenes, verrußtes viktorianisches Gebäude, das man über einen leicht abfallenden Gehweg erreichte, an dessen Ende ein überdachter Bogengang mit der Aufschrift GREAT WESTERN RAILWAY wartete.
An normalen Tagen hätten sich Zeitungsverkäufer und jede Menge Passagiere an den Eingangstüren gedrängt. Heute lag der Bahnhof jedoch völlig verlassen da – bis auf den Wächter, der eilig die Rampe hinunterschritt.
Thomas und Alastair folgten ihm leise und zügig in den Bogengang. Der Wächter schwebte vor ihnen her, anscheinend, ohne sich ihrer Gegenwart bewusst zu sein, und fegte durch einen Eingang, der zum Fahrkartenschalter für die zweite Klasse führte. Die Räume lagen dunkel und verlassen vor ihnen; die Schalter entlang der Mahagonitheke waren geschlossen, und auf dem Marmorboden standen überall zurückgelassene Reisekoffer herum, von denen einige aufgeplatzt waren. Der Bogengang zu den Bahnsteigen wurde von einem großen braunen Lederkoffer blockiert, aus dem ein rot-weiß gestreifter Pyjama und ein Stoffbär halb heraushingen. Thomas und Alastair sprangen über das Chaos hinweg, bis sie im höhlenartigen Gewölbe der eigentlichen Bahnhofshalle standen.
Sie befanden sich auf Bahnsteig eins, der genau wie der Fahrkartenschalter mit zurückgelassenen Gepäckstücken und einer willkürlichen Auswahl persönlicher Gegenstände von Reisenden übersät war. Das Ganze wirkte wie ein Marktstand in einem gigantischen Basar. An der gewaltigen Bahnhofsuhr, deren Zeiger auf Viertel vor vier stehen geblieben waren, hing ein roter Wollschal; ein wagenradgroßer Hut mit Federn thronte in einem kecken Winkel auf der oberen Kante eines Schokoladenautomaten; und fünf Groschenromane, die aus einer samtenen Reisetasche gefallen waren, lagen auf dem Boden wie umgestürzte Dominosteine.
Über all dem erhob sich der riesige, dreifache Bogen des gigantischen Dachs aus Eisen und Glas: eine imposante Kathedrale, gestützt von langen Reihen eleganter, kunstvoll verzierter Säulen aus Gusseisen, wie die metallenen Rippenbogen eines Riesen. Unter normalen Umständen wäre die Halle voller Züge gewesen, mit Wolken aus Dampf und Rauch und jeder Menge Menschen und Geräuschen : das unaufhörliche Dröhnen von Stimmen und Zugansagen und Schaffnern, die in ihre Pfeifen bliesen und Türen zuschlugen; das ohrenbetäubende Rasseln, Puffen und Zischen der Züge.
Jetzt war alles leer. Belials dämonisches Zwielicht fiel durch das verrußte Glasdach und hüllte die Halle in einen nebligen Dunst – nur gelegentlich durchbrochen von flackernden Leuchten, die ein eigenartiges, elektrisches Brummen erzeugten, das schaurig in der riesigen Leere widerhallte. Der schwache Lichtschimmer am offenen Ende des Bahnhofs, durch das die Züge in die Halle einfuhren, legte einen unheimlichen Schein über die entgegengesetzten Enden der Bahnsteige und tauchte alles andere in eine Düsternis, die die dunklen Schatten nur noch vertiefte. Gelegentlich schienen sich diese Schatten zu bewegen, begleitet von leisem Rascheln – wahrscheinlich Ratten. Hoffentlich Ratten.
Thomas und Alastair machten sich auf den Weg zu Bahnsteig zwei, die Hände kampfbereit an den Waffen, die Schritte durch Unhörbarkeitsrunen gedämpft. Die Bahnsteige waren leer, bis auf einen einsamen Zug, etwa in der Mitte von Bahnsteig drei. Seine Türen standen offen und warteten auf Fahrgäste, die nie eintreffen würden. Und … dort war auch der Wächter, der jetzt an den Abteilen vorbeischwebte. Als Thomas ihn entdeckte, drehte er sich um und schien ihm direkt ins Gesicht zu blicken. Dann trat die Gestalt zwischen zwei Wagen hindurch und verschwand.
Alastair fluchte und lief los. Thomas folgte ihm und sprang am Ende des Bahnsteigs hinunter auf den gefährlichen Untergrund der Schienenstränge: unebene, hölzerne Bahnschwellen, die auf groben, scharfkantigen Schottersteinen lagen und von eisernen Schienen gekreuzt wurden.
An der Stelle, an der der Wächter verschwunden war, hielt Alastair inne und wartete, bis Thomas zu ihm aufgeschlossen hatte. Suchend blickten sie sich um, entdeckten aber nichts. Der Bereich rund um den Zug lag völlig verlassen da, und es herrschte eine bedrückende Stille.
»Wir haben ihn verloren«, sagte Alastair verärgert. »Beim Erzengel …«
»Ich wäre mir da nicht so sicher«, erwiderte Thomas mit bewusst gesenkter Stimme. Die Stille wirkte nicht beruhigend, sondern irgendwie bedrohlich – genau wie die Schatten etwas Bedrohliches hatten. »Halt dich bereit«, flüsterte er und griff nach seiner Hellebarde.
Alastair musterte ihn mit gerunzelter Stirn. Dann schien er den Beschluss zu fassen, dass er Thomas vertrauen konnte, und griff nach seinem Shamshir … als auch schon eine ganz in Weiß gekleidete Gestalt vom Dach des Zugs sprang und Alastair zu Boden warf.
Der Shamshir flog Alastair aus der Hand, und im nächsten Moment rollten er und der Wächter über den unebenen Grund. Schließlich gelang es dem Wächter, Alastair zu Boden zu drücken, sodass er keine Chance mehr hatte, zu seinem Waffengurt zu greifen. Stattdessen bäumte er sich auf und schlug dem Wächter ins Gesicht.
»Alastair!« , brüllte Thomas. Er rannte zu der Stelle, an der Alastair mit dem Wächter rang: Sein Freund schlug den falschen Bruder der Stille wieder und wieder, bis der Wächter blutete und schwarzrote Tropfen über den Schotter des Bahngeländes spritzten. Aber das Wesen schien davon völlig unbeeindruckt: Thomas konnte nicht sagen, ob ihm die Schläge Schmerzen bereiteten oder nicht. Stattdessen legte der Wächter seine lange weiße Hand um Alastairs Kehle und begann zuzudrücken.
Irgendetwas explodierte hinter Thomas’ Augen. Er wusste im Nachhinein nicht mehr, wie er zu dem Wächter gelangt war … wusste nur noch, dass er plötzlich über ihm stand und seine Hellebarde schwang. Die Waffe prallte gegen den Wächter, und das Beil grub sich in dessen Schulter. Das Monster knurrte wütend, würgte Alastair jedoch weiter, dessen Lippen inzwischen blau anliefen. Panisch riss Thomas die Hellebarde aus der Wunde – und zerrte dabei die Hälfte der Robe vom Körper des Wächters. Dabei sah er dessen haarlosen Schädel und den Nacken, der mit einer scharlachroten Dämonenrune versehen war.
Instinktiv schwang Thomas die Hellebarde erneut, trieb deren Spitze geradewegs in die Rune und zerstörte das Symbol.
Der Wächter sprang auf die Füße und gab Alastair frei. Er stolperte auf Thomas zu und packte ihn mit Händen so hart wie Eisenklauen. Dann schleuderte er ihn mit voller Wucht von sich, und Thomas flog durch die Luft und krachte gegen die Seite eines Waggons. Benommen sank er zu Boden; er hatte seine Hellebarde verloren, aber sein Kopf dröhnte zu laut, als dass er nach der Waffe suchen konnte.
Trotz des metallischen Geschmacks im Mund wollte er sich zwingen, aufzustehen und sich zu bewegen. Doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Stattdessen beobachtete er mit verschwommenem Blick, wie der Wächter zuckte und seltsame Krämpfe bekam. Dann fiel er auf die Knie, und ein eigenartiges Wesen tauchte aus der blutigen Wunde in seinem Nacken auf. Lange Spinnenbeine mit Fühlern tasteten durch die Luft und schoben schließlich den Körper eines Chimären-Dämons ins Freie. Mit pulsierendem Unterleib kroch der Dämon aus dem erschlafften Körper des Stillen Bruders und richtete seine grünlich glühenden Augen auf Thomas. Und dann machte er einen Satz auf ihn zu, als sich im selben Moment eine gnädige Dunkelheit wie ein Vorhang über Thomas senkte.