31

Leuchtend

Wenn an der Ecke der Wood Street der Tag die Nacht durchdringt,

ertönt der Gesang einer Drossel, die dort seit Jahren singt.

In der Morgenstille hat Susan schon oft sie gehört

und war vom Klang des Vogels gar wunderbar betört.

Die Stimme bezaubert. Was fehlt ihr denn bloß? Dann entsteht

ein Traumbild von Bäumen und Bergen, das schnell wieder vergeht;

Leuchtend weh’n Dunstschwaden durch Lothbury Street

und ein Fluss langsam durchs Tal von Cheapside zieht.

William Wordsworth, »The Reverie of Poor Susan«

»Seid ihr sicher?«, fragte Alastair zweifelnd.

»Ganz sicher«, bestätigte Anna. Ari, Alastair und sie standen in der Eingangstür des Sanktuariums – alle in Montur. Sie hatten sich gerade so viel Zeit genommen, dass Anna einen kleinen Rucksack mit Stadtplänen, einigen Feldflaschen Trinkwasser und einer Packung Kekse packen konnte.

»Aber er ist doch nur ein Hund«, wandte Alastair ein.

Mit einem zutiefst gekränkten Blick ließ Oscar sich auf Aris Füßen nieder. »Oscar ist nicht nur ein Hund«, sagte sie und kraulte den Retriever am Kopf. »Er ist ein Mitglied unseres Teams. Ohne ihn hätten wir das York Watergate passieren müssen.«

»Oscar ist unser kleinstes Problem«, sagte Anna. »Wir müssen den Standort einer Kirche lokalisieren, die vor Hunderten von Jahren abgebrannt ist, und darauf hoffen, dort einen verschollenen Eingang zur Stadt der Stille zu entdecken. Verglichen damit ist Oscars Aufgabe einfach.«

Oscar bellte, und Alastair seufzte. »Ich hoffe, dass der Hund später ebenfalls eine Medaille vom Rat bekommt. Obwohl er wahrscheinlich einen Knochen bevorzugen würde.«

»Wer nicht?«, erwiderte Ari, hob eines von Oscars Schlappohren an und ließ es wieder fallen. »Nicht wahr, mein kleines Hundilein?«

Anna zog eine Augenbraue hoch. »Ich glaube, Ari vermisst Winston«, sagte sie. »Alastair, du musst Grace und Jesse sagen …«

»… dass sie Flammenbotschaften losschicken sollen, die die Brigade anweisen, sich mit euch am Eingang der Eisernen Gruft zu treffen. Ich weiß«, sagte Alastair. »Dir ist aber schon bewusst, dass es ihnen bisher nicht gelungen ist, auch nur eine einzige Nachricht erfolgreich zu verschicken – weder an die Brigade noch an sonst irgendjemanden.«

»Ich weiß«, sagte Anna. »Und wenn wir die Eiserne Gruft erreichen und niemand da ist, wissen wir, dass sie es nicht geschafft haben. Wir brechen in Richtung Adamant-Zitadelle auf; sobald wir dort sind, können wir zumindest versuchen, den Rat von dort aus zu benachrichtigen. Und wir werden so schnell wie möglich zurückkehren, mit so vielen Schattenjägern wie möglich.« Sie bemühte sich um einen zuversichtlichen Tonfall, so als ob beide Optionen für sie gleichwertig wären. In Wahrheit betete sie jedoch zum Erzengel, dass es Grace und Jesse gelang, Christophers Lieblingsprojekt zu vollenden.

»Seid ihr sicher, dass ihr jetzt loswollt?«, fragte Alastair. »In der Stadt der Stille wimmelt es wahrscheinlich von Wächtern. Thomas und ich könnten euch begleiten.«

»Thomas muss sich ausruhen«, entgegnete Anna bestimmt. »Und wir haben keine Zeit zu verlieren. Jeder Moment, in dem wir nicht handeln, könnte der Moment sein, in dem Belial James’ Widerstand bricht oder einen anderen schrecklichen Plan in die Tat umsetzt. Außerdem könnt ihr Jesse und Grace nicht allein hier zurücklassen. Sie werden euch brauchen, insbesondere für den Weg zum Grosvenor Square und zurück.«

»Ich habe nur das Gefühl, dass wir alle nach und nach aus London verschwinden«, sagte Alastair. Er wirkte seltsam verwundbar. Anna vermutete, dass er sich mehr Sorgen um Thomas gemacht hatte, als er zugeben wollte.

»Wenn wir unseren Plan in die Tat umsetzen können, kehren wir in voller Stärke zurück«, erwiderte Anna. »Und wenn nicht, dann wird unser Vorhaben nicht an diesem Ausflug in die Stadt der Stille scheitern.«

»Wenn wir zusammenbleiben …«

»Alastair« , setzte Anna an, hielt einen Moment inne und fuhr dann fort: »Du hast mich wirklich überrascht. Früher habe ich dich für einen gefühllosen Schurken gehalten – aber keinen von der amüsanten Sorte, die in Romanen vorkommt, sondern einen der egoistischen Sorte, denen man im Alltag begegnet.«

»Ich hoffe, dass gleich der Teil kommt, wo du mir erklärst, dass du deine Meinung geändert hast«, murmelte Alastair.

Ari lächelte verstohlen hinter vorgehaltener Hand.

»Meine Meinung von dir hat sich gebessert, als du Thomas nach seiner Verhaftung geholfen hast. Und jetzt, na ja … gibt es niemanden, mit dem ich lieber am Ende der Welt festsitzen würde.« Anna streckte die Hand aus. Alastair zögerte kurz und schüttelte sie dann verwirrt. »Ich bin froh, dass ihr beide hierbleiben und euch um London kümmern werdet«, fügte sie hinzu. »Bis bald!«

Alastair schien es vor Überraschung die Sprache verschlagen zu haben. Und das konnte Anna nur recht sein, denn sie hatte alles gesagt, was sie sagen wollte. Ari und sie stiegen die Stufen hinunter, dicht gefolgt von Oscar.

Obwohl Anna sich bewusst war, dass Alastair ihnen nachsah, schaute sie nicht zurück. In letzter Zeit hatte es zu viele Abschiede gegeben; da brauchte sie keinen weiteren.

»Du hast recht«, sagte Matthew nach langem Schweigen. »Dein Plan gefällt mir nicht.« Er lehnte noch immer an James’ Brust, zitterte allerdings nicht mehr. »Aber vermutlich hast du keine andere, weniger gefährliche Idee?«

»Uns bleiben nicht viele Möglichkeiten«, sagte James. »Hier herrscht Belial; dieses tote Land gehorcht seinen Befehlen. Er will, dass ich mich freiwillig von ihm vereinnahmen lasse, aber langsam verliert er die Geduld. Falls ich es ihm jedoch gestatte , wenn auch nur widerstrebend, wird er das annehmen … mehr kann er nicht bekommen. Er hat zu viele Pläne geschmiedet und zu hart gearbeitet, um jetzt aufzugeben.«

»Er wird denken, dass du aufgegeben hast … dass du der Verzweiflung erlegen bist.«

»Gut«, sagte James. »Er soll glauben, dass mich meine größte Schwäche endgültig eingeholt hat und mir das Wohlergehen anderer zu sehr am Herzen liegt. Seiner Ansicht nach ist das beschämend und schwach. Er wird nicht denken, dass da ein Plan dahintersteckt.«

Matthew drehte sich zu James. Er hatte wieder angefangen zu zittern und zupfte rastlos am Stoff des Mantels, der um seine Schultern lag – wie ein Fleckfieberpatient. »Belial will schon seit so langer Zeit von deinem Körper Besitz ergreifen. Warum hast du es nicht schon früher erlaubt? Warum hast du bis jetzt gewartet?«

»Aus zwei Gründen. Erstens muss Belial glauben, dass ich verzweifelt bin. Und zweitens habe ich schreckliche Angst davor. Die Vorstellung, es ihm zu gestatten, macht mir mehr Angst als alles andere. Und dennoch …«

Matthew zuckte in James’ Armen zusammen. Sein ganzer Körper schien sich zu verkrampfen und wurde steif wie ein Brett. Kurz darauf erschlaffte er wieder und schnappte keuchend nach Luft.

James hielt die ganze Zeit über seine Hand fest. Nachdem Matthew wieder zu Atem gekommen war, murmelte er: »Kit hat es gesagt … Krampfanfälle.«

Und Herzversagen , setzte James in Gedanken hinzu und fühlte sich elend. Doch er sprach die Worte nicht laut aus. »Ich hole dir besser noch etwas Wasser.«

»James, nein … nicht …« Matthew packte James’ Handgelenk. Dann er verdrehte die Augen, und sein Körper begann erneut zu zucken: schnelle, unkoordinierte Bewegungen, wie eine Marionette, deren Fäden zu stark gestrafft wurden.

Panik erfasste James. Kit hatte damals nichts beschönigt: Menschen konnten daran sterben. Und Matthew würde zwei Wochen brauchen, um das Trinken körperlich in den Griff zu bekommen. Aber inzwischen waren noch nicht annähernd zwei Wochen verstrichen. Matthew könnte sterben, dachte James, hier in seinen Armen sterben, und der Tod würde sie trennen. In zwei Hälften teilen. James würde seinen Parabatai nie wieder an seiner Seite haben – diese manchmal nervtötende und zugleich alberne, großzügige, zutiefst loyale andere Hälfte seiner Seele.

Mit zitternden Händen holte er seine Stele hervor, packte Matthews fuchtelnden Arm und hielt ihn fest. Dann senkte er die Spitze der Stele auf Matthews Haut und zeichnete eine Heilrune.

Sie blitzte auf und erlosch wie ein abgebranntes Streichholz. Obwohl James wusste, dass Runen hier keine Wirkung zeigten, gab er nicht auf. Er konnte Jems Stimme in seinem Kopf hören, sanft, aber bestimmt: Du musst eine Festung reiner Willenskraft um dich herum errichten. Du musst dich mit dieser Kraft vertraut machen, damit du sie beherrschst – und nicht sie dich.

James zeichnete eine zweite Iratze , die ebenfalls verschwand, dann eine dritte und eine vierte. Danach verlor er beim Zählen den Überblick, trug nur unablässig Heilrunen auf Matthews Haut auf, konzentrierte sich mit aller Kraft darauf, die Iratze zum Bleiben zu zwingen, sie am Verschwinden zu hindern, sie irgendwie zum Funktionieren zu bringen.

Vergiss nicht, dass du die Sprache des Erzengels bist, dachte er und zeichnete eine weitere Rune. Vergiss nicht, dass es keinen Ort im Universum gibt, an dem du nicht wenigstens etwas Macht hast.

Er erwartete, dass auch diese Rune verschwand, doch sie blieb sichtbar. Nicht länger als etwa eine Minute. Doch während James darauf starrte, leuchtete sie auf Matthews Arm und wurde nur langsam schwächer.

Matthew zuckte nicht länger. Als die Heilrune langsam verblasste, reagierte James blitzschnell und trug noch eine auf. Und noch eine. Und noch eine. Jedes Mal, wenn ein Runenmal an Kraft verlor, zeichnete er ein neues.

Matthew zitterte nicht mehr. Er atmete tief und gleichmäßig und starrte ungläubig auf seinen Unterarm, der von einer Landkarte aus einander überlappenden Heilrunen überzogen war – einige neu, andere bereits verblasst. »Jamie bach «, sagte er. »Du kannst das doch nicht die ganze Nacht lang machen.«

»Ach nein?«, erwiderte James grimmig und stützte sich mit dem Rücken gegen die Mauer, damit er weiterzeichnen konnte … so lange, wie es nötig war.

Grace und Jesse hatten im Labor einen Beutel voller Miniatursprengsätze gefunden und sich fast eine Stunde damit vergnügt, einige davon im Kamin zu zünden. Sie funktionierten im Prinzip wie Feuerwerkskörper. Doch anstatt sie anzuzünden, klopfte man mit einer Stele darauf und warf sie ein Stück von sich weg, wo sie dann mit einem lauten Knall explodierten.

Es war schön, ein bisschen mit Jesse zu lachen, auch wenn das Lachen eigentlich zur Hälfte auf Erschöpfung beruhte. Grace fand es erstaunlich, woran man sich gewöhnen konnte: daran, Wächtern auszuweichen und durch verlassene Häuser zu schleichen. An die Glasscherben und umgestürzten Kutschen in den Straßen. Die leeren Blicke in den Augen der Passanten. Nicht weniger schlimm, als acht Jahre lang mit Tatiana Blackthorn unter einem Dach zu leben.

Woran sich Grace jedoch nicht gewöhnen konnte, war das Gefühl tiefer Frustration. Ihr lagen alle Notizen von Christopher vor – und dazu ihre eigenen. Und während ihrer Zeit in der Stadt der Stille hatte sie den Eindruck gehabt, als würden sie kurz vor dem Durchbruch stehen, als wäre die Lösung des Problems mit den Flammenbotschaften zum Greifen nah. Für sie und Christopher.

Doch jetzt … Mit Jesses Hilfe hatte sie alles versucht, was ihr in den Sinn kam: Wirkstoffe ausgetauscht, andere Runen verwendet. Nichts hatte funktioniert. Sie waren noch nicht einmal so weit wie Christopher gekommen, dem es immerhin gelungen war, halb verbrannte, unlesbare Nachrichten zu verschicken.

Die Flammenbotschaften waren das Einzige, was sie hätte beitragen können, dachte Grace. Jesse und sie hatten die Sprengsätze beiseitegelegt und starrten stattdessen angestrengt auf einen mit Runen bedeckten Pergamentstreifen, der vor ihnen auf dem Arbeitstisch lag. Das einzig Gute, was sie hätte beitragen können, die einzige Möglichkeit zu helfen, nachdem sie so viel Schaden angerichtet hatte. Doch selbst das schien ihr verwehrt zu bleiben.

»Woher wissen wir, ob es funktioniert?«, fragte Jesse und betrachtete kritisch das Pergament auf dem Tisch. »Was genau soll passieren?«

Als deutliches Zeichen der Zurückweisung durch das Universum stieß die Pergamentrolle eine Rauchwolke aus und explodierte dann mit einem lauten Knall. Der Streifen flog vom Tisch und landete zwischen ihnen auf dem Boden, wo die Flammen weiter brannten, allerdings ohne das Pergament zu verzehren.

»Das jedenfalls nicht«, sagte Grace.

Sie holte die Kaminzange, die in der hintersten Zimmerecke an der Wand lehnte, nahm damit das noch immer brennende Pergamentpapier und legte es in den Kamin.

»Du musst es positiv sehen«, sagte Jesse. »Ihr habt … ewig brennendes Pergament erfunden. Christopher wäre stolz. Er hat es geliebt, wenn Sachen immer weitergeglüht haben.«

»Christopher hätte das Problem längst gelöst« , entgegnete Grace. »Christopher war Wissenschaftler . Ich dagegen interessiere mich nur für Wissenschaft. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge.« Sie blickte auf das brennende Pergament im Kamin. Es bot einen ziemlich hübschen Anblick: Die Ränder waren von weißen Flammen gesäumt – wie ein Spitzenbesatz. »Eigentlich ist es reinste Ironie. Belial hat nie von Mutter verlangt, Christopher zu töten. Er kam in seinen Gedanken gar nicht vor. Aber dadurch, dass meine Mutter ihn ermordet hat, hat sie möglicherweise Belials Erfolg gesichert«, stieß sie hervor und schleuderte ihren Bleistift quer durch den Raum, wo er mit einem unbefriedigenden Klappern an einem Aktenschrank abprallte.

Jesse zog eine Augenbraue hoch. Grace neigte nicht zu Wutausbrüchen. »Wie lange hast du eigentlich nichts mehr gegessen?«, fragte er.

Grace blinzelte ihn ratlos an. Sie konnte sich nicht erinnern.

»Das dachte ich mir. Ich werde die Speisekammer durchforsten, in Ordnung? Ich hoffe ja auf ein paar Kekse, aber im Zweifel müssen wir uns mit Dosenbohnen zufriedengeben.« Er war bereits auf dem Weg nach oben. Obwohl Grace wusste, dass er ihr ein bisschen Zeit geben wollte, um sich zu fassen, konnte sie sich nur müde die brennenden Augen reiben: Jesse war nicht das Problem – sondern Christopher. Sie brauchte Christopher.

Sie legte eine Hand auf das schartige, stellenweise verfärbte Holz der Arbeitsplatte. Wie viele von diesen Spuren waren Christophers Werk? Schneiden, Brennen, Experimente mit Säure. Jahrelange Arbeit hatte hier ihre Narben hinterlassen – so, wie die schwachen Umrisse alter Runenmale auf der Haut von Schattenjägern Zeugnisse ihres bisherigen Lebens bildeten.

Tief in ihrem Hinterkopf flackerte ein vager Gedanke, den sie aber nicht fassen konnte. Irgendetwas mit Runen. Runen und Flammenbotschaften.

Christopher hätte es gewusst.

»Christopher«, sagte sie leise und strich mit den Fingerspitzen über einen langen Messerschnitt in der hölzernen Tischplatte. »Ich weiß, dass du nicht mehr da bist. Aber ich spüre dich trotzdem überall. In jedem Becherglas, jeder Probe … in jedem seltsamen Ordnungssystem, auf das ich stoße. Ich sehe dich überall. Und ich wünschte, ich hätte dir sagen können … dass du mir etwas bedeutest, Christopher. Und dass ich nicht gedacht hätte, dass man solche Gefühle wirklich haben kann. Ich habe sie für ein Hirngespinst gehalten, das nur in Romanen und Theaterstücken vorkommt. Ich hätte nicht gedacht, dass man … dass man sich das Glück eines anderen mehr wünschen könnte als das eigene, mehr als alles andere. Ich wünschte, ich hätte es besser verstanden, als du … als du noch am Leben warst.«

Die Stille des Labors schien um sie herum widerzuhallen. Grace schloss die Augen.

»Aber vielleicht bist du ja hier«, fuhr sie fort. »Vielleicht hast du ein Auge auf diesen Ort. Ich weiß, Lucie hat gesagt, du wärst weg, aber … Wie könntest du dich von hier fernhalten? Wie könntest du, sogar über den Sog des Todes hinaus, nicht neugierig sein, nicht sehen wollen, was passiert? Wenn du also hier bist, dann … Bitte! Ich stehe kurz vor dem Durchbruch bei den Flammenbotschaften. Inzwischen bin ich zwar über den Punkt hinausgekommen, an dem du warst, aber ich habe noch immer keine Lösung gefunden. Ich brauche deine Hilfe. Die ganze Welt braucht deine Hilfe. Bitte!«

Etwas berührte Grace an der Schulter. Eine federleichte Berührung, als wäre dort ein Schmetterling gelandet. Sie versteifte sich, aber instinktiv wusste sie, dass sie die Augen nicht öffnen sollte.

»Grace.« Eine sanfte Stimme. Unverwechselbar.

Sie sog scharf die Luft ein. »Christopher …«

»Dreh dich nicht um«, sagte er, »und sieh mich auch nicht an. Ich werde nur ganz kurz hier sein, Grace. Dass du mich hören kannst, kostet mich bereits all meine Kraft. Ich kann mich nicht auch noch sichtbar machen.«

Dreh dich nicht um! Grace dachte an Orpheus in der griechischen Sage, dem es verboten gewesen war, sich nach seiner toten Frau umzudrehen, während er sie aus der Unterwelt führte. Er hatte es nicht geschafft und sie dadurch verloren. Grace hatte ihn deshalb immer für dumm gehalten. Es konnte doch nicht so schwer sein, sich nicht umzudrehen und jemanden anzusehen.

Aber es fiel ihr furchtbar schwer. Sie spürte die Sehnsucht und den Verlust von Christopher in sich wie einen Schmerz – Christopher, der sie verstanden und nicht verurteilt hatte.

»Ich dachte, dass Geister nur zurückkehren können, wenn sie noch etwas zu erledigen haben«, flüsterte sie. »Sind das in deinem Fall die Flammenbotschaften?«

»Ich glaube, dass du die Aufgabe bist, um die ich mich noch kümmern muss.«

»Was meinst du damit?«

»Du brauchst meine Hilfe nicht, um die Lösung zu finden«, sagte Christopher. Vor ihrem inneren Auge konnte Grace ihn sehen – wie er sie mit seinem lustigen, fragenden Lächeln anblickte, seine dunkelvioletten Augen hinter den Brillengläsern. »Du musst nur daran glauben, dass du die Lösung finden kannst. Und das kannst du. Du bist eine geborene Wissenschaftlerin, Grace, und kannst jedes Rätsel lösen. Du musst lediglich die Stimme in deinem Kopf zum Schweigen bringen, die dir sagt, dass du nicht gut genug bist … dass du nicht genug weißt. Ich glaube an dich.«

»Da bist du vermutlich der Einzige«, murmelte Grace.

»Das stimmt nicht. Jesse glaubt an dich. Genau genommen glauben auch die anderen an dich. Sie haben diese Aufgabe in deine Hände gelegt, Grace. Weil sie glauben, dass du das schaffen kannst. Es liegt nur an dir, es auch zu glauben.«

Jetzt sah Grace vor ihrem inneren Auge nicht mehr Christopher, sondern die Aufzeichnungen, die er ihr gegeben hatte: seine Beobachtungen, Gleichungen, Fragen. Seine Handschrift erfüllte die Dunkelheit. Und dann erschienen ihre eigenen Notizen, verflochten sich mit seinen. Christopher glaubte an sie. Und Jesse … Jesse glaubte ebenfalls an sie. Und dass ihre Mutter sie immer für wertlos gehalten hatte, hieß gar nichts. Es bedeutete nicht, dass sie damit recht gehabt hatte.

»Es liegt nicht an den Runen«, sagte Grace und hätte vor Verblüffung über die Erkenntnis fast die Augen geöffnet. »Und auch nicht an den Chemikalien. Es liegt an den Stelen.«

»Ich wusste, dass es dir gelingen würde.« Sie hörte das Lächeln in Christophers Stimme. »Und dazu hast du auch noch ewig brennendes Pergament erfunden. Hervorragende Arbeit, Grace!«

Etwas streifte ihre Schläfe und strich ihr das Haar hinters Ohr. Eine geisterhafte Berührung, eine Geste des Abschieds. Einen Moment später wusste Grace, dass Christopher gegangen war.

Sie öffnete die Augen und drehte sich um. Doch da war nichts. Trotzdem wurde sie wider Erwarten nicht von einer Woge der Verzweiflung erfasst. Christopher war nicht bei ihr, aber die Erinnerung an ihn war wie eine Präsenz – und sogar mehr als das: ein neues Gefühl, etwas, das in ihrem Brustkorb aufblühte und sie dazu brachte, die Papiere, die vor ihr lagen, beiseitezuschieben und nach ihrer Stele zu greifen – bereit, sich an die Arbeit zu machen.

Etwas, das möglicherweise der Beginn von Selbstvertrauen sein könnte.

Der Fußmarsch durch London verlief ereignislos. Einmal mussten Anna und Ari sich in eine Gasse zurückziehen, um einem Wächter auszuweichen. Ansonsten waren die Straßen größtenteils leer – wenn man von den mittlerweile üblichen Irdischen mit ihren ausdruckslosen Gesichtern absah. Als sie an einem dunklen Hauseingang vorbeikamen, warf Ari einen Blick zur Seite und sah einen ziegengesichtigen Dämon, der dort im Schatten kauerte und vier menschliche Kleinkinder im Arm hielt. Jedes der Kinder saugte an einer mit Schuppen besetzten Brust. Ari musste sich zusammennehmen, um nicht zu würgen.

»Nicht hinsehen«, sagte Anna. »Das bringt nichts.«

Konzentrier dich auf deine Mission , befahl Ari sich. Auf die Stadt der Stille. Auf das Ende der ganzen Geschichte.

St Peter Westcheap war beim Großen Brand völlig zerstört worden. Ari hatte befürchtet, dass an der Stelle, wo die Kirche gestanden hatte, Läden oder Häuser errichtet worden waren, doch sie hatten Glück. An der Kreuzung von Cheapside und Wood Street befand sich ein kleiner gepflasterter Bereich, der von einem niedrigen Eisengeländer umgeben war – mit großer Wahrscheinlichkeit ein Teil des alten Kirchhofs.

Sie öffneten die Pforte und gingen hinein. In der Mitte des Hofs erhob sich ein riesiger Baum. Seine kahlen Zweige bildeten eine Art Schirm über den wenigen verbliebenen, alten Gräbern, deren Inschriften mit der Zeit unlesbar geworden waren. Hier und da standen Bänke, deren Holzlatten von jahrelangem Regen und Schnee weitestgehend verwittert waren.

Während Oscar durch die vereisten Büsche sprang, machte sich Anna daran, die alten Grabsteine zu untersuchen. Ari fühlte sich dagegen von dem Baum in der Mitte angezogen. Es handelte sich um eine Schwarze Maulbeere. Diese Bäume gehörten nicht zu den in Großbritannien heimischen Arten, sondern waren von den Römern hergebracht worden, lange vor der Existenz der ersten Schattenjäger. Allerdings war die Rinde des Baums gar nicht schwarz, sondern eher orangebraun. Und als Ari sich vorbeugte, sah sie ein eingekerbtes Muster. Ein vertrautes Muster.

Eine Unsichtbarkeitsrune. »Anna!«, rief sie.

Oscar bellte, als hätte er die Rune entdeckt. Anna gesellte sich rasch zu Ari. Sie wirkte staubig, aber zufrieden. »Gut gemacht, Ari«, sagte sie und zog ihre Stele aus dem Gürtel. »Also, Unsichtbarkeitsrunen dienen dazu, etwas zu verstecken oder zu verbergen …«

Mit konzentrierter Miene zog Anna entschlossen eine Linie durch die Rune und löschte sie damit aus. Der Baum schien kurz zu schimmern, dann begannen sich seine Wurzeln unter der Erde zu bewegen. Sie drehten und wanden sich zur Seite, bis sich am Fuß des Stammes ein schwarzer Spalt öffnete, der wie der Eingang zu einer Höhle aussah.

Ari ging auf die Knie, spürte den eiskalten Untergrund sogar durch den dicken Stoff ihrer Montur. Sie spähte in den Spalt, aber dahinter lag tiefe Dunkelheit. Selbst als sie ihr Elbenlicht hervorholte und hochhob, waren die Schatten fast zu dicht, um sie zu durchdringen. Vorsichtig beugte Ari sich so weit vor wie möglich und entdeckte die Umrisse von Stufen, die in die Tiefe führten – Steinstufen mit eingemeißelten Runen, halb zerfressen vom Zahn der Zeit.

Ari schlängelte sich unter dem Baum hervor, legte den Kopf in den Nacken und sah Anna an. »Das muss er sein«, sagte sie, »der Eingang zur Stadt der Stille.«

Anna kniete sich ebenfalls hin und griff nach Oscar. Er schnupperte an ihren Händen, während sie ein Stück Papier an seinem Halsband befestigte. »Braver Hund, Oscar. Lauf zurück zum Institut. Erzähl ihnen, dass wir den Eingang gefunden haben. Na geh schon«, sagte sie und öffnete die Pforte. Oscar trottete mit wedelndem Schwanz hinaus und schoss dann durch Cheapside davon.

Hastig kehrte Anna zu Ari zurück. »Es wird dunkler«, sagte sie. »Wir sollten uns beeilen. Willst du vorgehen?«

Ari nickte. Das Loch am Fuß des Baumstamms war schmal und seltsam geformt. Sie musste sich auf den Bauch legen, sich rückwärts durch den Spalt schlängeln und dann ein Stück rutschen, bevor ihre Knie die ungleichmäßige Oberfläche der Steinstufen berührten. Auf Händen und Knien kroch sie die Stufen rückwärts hinunter, bis sie auf einen flachen Boden traf.

Sie stand auf und hielt ihr Elbenlicht hoch. Über ihr schob sich Anna ebenfalls die Treppe hinunter – wobei es ihr gelang, sogar Rückwärtskriechen elegant aussehen zu lassen. Langsam drehte Ari sich um und leuchtete mit ihrem Licht in jede Ecke. Sie befand sich in der Mitte eines gemauerten Raums, der zwar staubig, aber sauber war und einen Boden aus einander überlappenden Steinplatten besaß. Als sie einen Blick nach oben warf, sah sie hoch über sich eine mit Halbedelsteinen besetzte Gewölbedecke. Jeden der Steine zierte eine einzelne, funkelnde Rune.

Sie standen in der Stadt der Stille.

Alastair war gerade auf dem Weg zu Grace und Jesse, als er die Explosion hörte. Zufrieden stellte er fest, dass er fast keine Reaktion zeigte. Nach den Ereignissen der letzten Wochen war eine kleine Explosion am Grosvenor Square kaum mehr als eine hochgezogene Augenbraue wert. Außerdem handelte es sich wirklich um eine ziemlich kleine Explosion – nur ein kurzer Feuerstoß ein paar Meter vor ihm in der Luft. Nachdem die Flammen erloschen waren, blieb eine kleine Rauchwolke zurück, in der ein Stück Papier schwebte.

Alastair machte einen Satz und griff danach, bevor der Wind es forttragen konnte. Das Papier war an den Rändern mit Schattenjägerrunen versehen, an deren Bedeutung er sich nicht auf Anhieb erinnern konnte. Aber in der Mitte befand sich eine handschriftliche Notiz, in leicht gedrängten Buchstaben.

Wenn du dies liest: Es handelt sich hierbei um die erste erfolgreich verschickte Flammenbotschaft. Sie wurde von Grace Blackthorn geschrieben und von Christopher Lightwood erfunden.

Einen Moment lang starrte Alastair ungläubig auf das Papier, als rechnete er damit, dass es verschwinden oder wieder explodieren oder sich als Halluzination herausstellen würde.

»Beim Erzengel«, murmelte er, »sie haben es geschafft. Sie haben es tatsächlich geschafft.« Mit dem Papier in der Hand überquerte er den Grosvenor Square und eilte auf das Haus der Konsulin zu. Beim Näherkommen sah er Jesse, der mit zerzaustem Haar und leicht irrem Blick aus der Haustür stürmte und die Eingangstreppe hinunterrannte.

»Hast du sie bekommen?«, rief er. »Hast du sie bekommen? Die Botschaft? Ist sie angekommen?«

Triumphierend hielt Alastair die Flammenbotschaft hoch über den Kopf. »Es hat funktioniert«, sagte er. »Es hat verdammt noch mal funktioniert.«

»Grace ist auf die Idee gekommen«, berichtete Jesse. »Man muss eine Kommunikationsrune auf die Stele auftragen, bevor man die Nachricht schreibt. Das war schon alles. Ist es nicht unfassbar, dass die Lösung so einfach war?«

»Im Moment erscheint mir nichts mehr unfassbar«, erwiderte Alastair. Und unter dem knisternden, schwarzen Himmel der dämonenbeherrschten Stadt grinsten sie einander an, als hätte sich keiner von ihnen über irgendetwas jemals mehr gefreut.