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Die Feste fällt

Die Feste fällt, von Einsicht schwach verteidigt

vor Circenklang und fieberhaftem Wahn.

Ein Labyrinth, dem Liebe nicht entfliehen kann,

Ein Wetterwüten, das der Sturm treibt an,

Ein Ding, gleich dem der Sonne Schatten,

Ein Trauerspiel, gespielt sogar vom weisen Mann.

Sir Walter Raleigh, »A Farewell to False Love«

Zu Aris Überraschung erreichten Anna und sie das Zentrum der Stadt der Stille, ohne unterwegs einem einzigen Wächter zu begegnen. Anfangs hatten sie sich im Schatten gehalten und Türen und Torbogen kontrolliert, bevor sie sich von einem Raum in den nächsten schlichen. Dabei hatten sie sich nur mithilfe von Gesten verständigt. Doch als der Weg auf ihrer Karte sie von den Gefängniszellen hinauf durch den Wohnbereich und weiter an den Bibliotheken und dem Ossuarium vorbeiführte, tauschten sie verwunderte Blicke. Seit ihrer Ankunft hatten sie niemanden gesehen, hatten nicht einmal das Krabbeln einer Maus hinter einer Wand gehört.

»Wo sind sie alle?«, murmelte Anna, während sie durch einen Tunnel gingen. Dieser verbreiterte sich an seinem Ende zu einem rechteckigen Platz, an dessen Ecken jeweils ein Turm aus geschnitzten Knochen stand. Ein Schachbrettmuster aus roten und bronzegoldenen Quadraten bildete den Boden. Die Fackeln, die an den Wänden in Halterungen steckten, waren längst erloschen, und ihre Elbenlichter bildeten die einzige Lichtquelle.

»Vielleicht sind sie ja in London«, mutmaßte Ari. Ihr Elbenlicht tanzte über ein Muster aus silbernen Sternen, das in den Boden eingelassen war. »Vermutlich besteht für sie keine wirkliche Notwendigkeit, die Stadt der Stille zu besetzen.«

»Ich hätte gedacht, sie würden zumindest Wachen postieren, damit niemand hier eindringt«, sagte Anna. »Zeig mir noch mal die Karte.«

Sie beugten ihre Köpfe darüber. »Wir sind hier, auf dem Platz der Sprechenden Sterne, auch ›Pavillon der Wahrheit‹ genannt«, sagte Ari und deutete auf die Stelle. »Normalerweise müsste das Engelsschwert an der Wand hängen.«

»Aber es ist glücklicherweise in Idris«, sagte Anna. »Hier, sieh mal … durch diese Reihen von Mausoleen … Das muss er sein: der Pfad der Toten

Ari nickte bedächtig, dann setzten sie sich wieder in Bewegung. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie seit Betreten der Gebeinstadt nicht mehr richtig durchgeatmet. Der Geruch in der Luft – nach Asche und Stein – erinnerte sie unangenehm an ihren letzten Aufenthalt hier. Damals, als sie fast am Gift eines Mandikhor-Dämons gestorben wäre. Nach dieser Erfahrung hatte sie nicht mehr den Wunsch verspürt, hierher zurückzukehren.

Sie setzten ihren Weg durch steinerne Gänge fort, bis sie endlich einen Saal mit Gewölbedecke erreichten, in dem sich unzählige Mausoleen befanden. Über den Türen der Grabstätten waren oftmals Schattenjägernamen oder -symbole eingemeißelt. Anna und Ari schlugen einen schmalen Pfad ein, der zwischen den Mausoleen der Familien CROSSKILL und RAVENSCROFT hindurchführte und an einem schmalen, dunklen, schlüsselloch­artigen Torbogen endete.

Sie tauchten hindurch und fanden sich in einem langen Korridor wieder. Obwohl lang genau genommen eine unzulängliche Beschreibung war: Die Elbenlichtwandleuchter auf beiden Seiten des Tunnels bildeten einen Lichtpfeil, der sich in die Dunkelheit erstreckte, bis die Entfernung für das menschliche Auge zu groß wurde. Der Anblick ließ Ari schaudern, aber vielleicht lag es nur daran, dass die übrigen Tunnel in der Stadt der Stille irgendwie organischer gewirkt hatten. Ihre Verläufe waren oft unregelmäßig gewesen, und Ari hatte angenommen, dass das mit den geologischen Gegebenheiten zusammenhing. Im Gegensatz dazu fühlte sich dieser Tunnel fremd und sonderbar an – als würde unter dem Steinboden eine Ader mit einer speziellen Magie verlaufen.

Unterwegs kamen sie an zahlreichen, in die Wände gemeißelten Runen vorbei: Runen für Totenruhe und Trauer, aber auch Runen für Verwandlung und Veränderung. Und dazwischen noch eine andere Sorte von Runenmalen – solche mit jener seltsamen Musterung, die Ari beim Öffnen von Portalen gesehen hatte. Sie schienen aufzuflackern, sobald Anna und Ari in ihre Nähe kamen, um gleich darauf wieder mit den Schatten zu verschmelzen. Ari vermutete, dass diese Runen den Tunnel zu dem machten, was er war: eine verkürzte Version realer Entfernung, eine erstaunliche Abkürzung durch Zeit und Raum, die es ihnen ermöglichen würde – zumindest in ihrer Wahrnehmung – in weniger als einem Tag von London nach Island zu laufen.

Gelegentlich kamen sie an einer mit einer Rune versehenen Tür oder einem schmalen Gang vorbei, der sich in die Dunkelheit schlängelte. Außer ihren Schritten war nichts zu hören, bis Anna bemerkte: »Wusstest du eigentlich, dass ich als Kind eine Eiserne Schwester werden wollte?«

»Tatsächlich?«, fragte Ari. »Das erscheint mir wie eine wenig abwechslungsreiche Aufgabe, vor allem für dich. Und man muss sehr oft Befehle befolgen.«

»Manchmal befolge ich gern Befehle«, sagte Anna, mit einem anzüglichen Unterton in der Stimme.

»Kein Flirten in der Stadt der Stille«, entgegnete Ari, obwohl ihr ein kleiner Schauer über den Rücken lief – wie jedes Mal, wenn Anna so redete. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein entsprechendes Gesetz gibt.«

»Damals dachte ich, dass mir das Schmieden von Waffen gefallen könnte«, fuhr Anna fort. »Das Ganze schien mir ein spannender Gegensatz zu sein zu den normalen gesellschaftlichen Verpflichtungen: ständig feine Kleider tragen und auf Feste gehen zu müssen. Allerdings hielt der Wunsch nur so lange an, bis ich herausfand, dass ich auf einer Vulkanebene leben müsste. Und als ich meine Mutter gefragt habe, ob es dort wenigstens meine Lieblingspralinen geben würde, hat sie geantwortet, dass sie es stark bezweifelte. Damit war der Plan für mich gestorben.« Anna hielt inne; alle Leichtigkeit in ihrer Stimme war verschwunden. »Hörst du das?«

Ari nickte grimmig. Aus dem Tunnel dröhnte ihnen das Stampfen von Schritten entgegen … viele Schritte, die im Gleichtakt marschierten. Sie kniff die Augen zusammen, konnte aber nur Schemen ausmachen – und dann blitzte etwas Weißes auf. Die Roben von Wächtern.

»Schnell«, flüsterte Ari. Sie befanden sich in der Nähe von einem der schmalen Gänge, die vom Tunnel abzweigten. Rasch packte Ari Anna am Ärmel und zog sie hinter sich her.

Der Gang war gerade so breit, dass sie einander gegenüberstehen konnten. Ari hörte, wie das Stampfen der marschierenden Schritte lauter wurde. Eine seltsame Erinnerung daran, dass die Chimären-Dämonen zwar die Körper von Stillen Brüdern und Eisernen Schwestern vereinnahmt hatten, aber trotzdem keine Brüder oder Schwestern waren und nicht über deren Kräfte oder Fähigkeiten verfügten.

Ari ging in die Hocke und spähte in den Korridor hinaus. Da waren sie … ein großer Trupp Wächter, fünfzig oder mehr. Ihre totenweißen Gewänder wirbelten wie Rauch um ihre Füße. Mit blinder Entschlossenheit marschierten sie durch den Tunnel, jeweils einen knisternden Stab in der Hand.

»Lass mich da raus gehen«, sagte Anna und versuchte, sich an Ari vorbeizudrängen. »Wir wissen jetzt, wie man sie tötet.«

»Nein!« Ohne zu überlegen, packte Ari Anna und riss sie zurück, sodass sie fast gegen die Wand geschleudert wurde. Beide hatten zuvor ihre Elbenlichter gelöscht, aber obwohl der Gang nur spärlich beleuchtet war, konnte Ari den Zorn in Annas blauen Augen erkennen.

»Wir können sie nicht einfach entkommen lassen«, knurrte Anna. »Wir können sie nicht einfach …«

»Anna! Bitte! Es sind zu viele. Und wir sind nur zu zweit.«

»Du sollst ja auch nicht mitkommen.« Anna schüttelte heftig den Kopf. »Du musst zur Eisernen Gruft. Wenigstens eine von uns. Ich kann nicht alle töten, aber überleg mal, wie viele ich unschädlich machen könnte, bevor …«

»Bevor du stirbst ?«, zischte Ari. »Willst du Christopher auf diese Weise ehren?«

In Annas Gesicht blitzte Wut auf – Wut auf sich selbst, vermutete Ari. »Ich konnte ihn nicht beschützen. Ich war nicht auf einen Angriff vorbereitet. Aber zumindest jetzt kann ich es diesen Kreaturen zeigen …«

»Nein« , sagte Ari. »Belial trägt die Verantwortung für Christophers Tod. Die Wächter sind furchtbar, vor allem wenn man bedenkt, in wessen Körpern sie sich befinden. Trotzdem sind Chimären nur Dämonen – und so wie alle anderen Dämonen Belials Werkzeuge. Belial müssen wir besiegen.«

»Lass mich los, Ari«, forderte Anna mit blitzenden Augen.

Als Ari leicht den Kopf drehte, konnte sie die Wächter sehen, eine weiße Flut, die an der schmalen Öffnung des Gangs vorbeiströmte.

»Ich weiß, dass Belial nicht durch meine Hand sterben wird – wenn es überhaupt möglich ist, ihn zu töten. Deshalb lass mich wenigstens das hier tun«, drängte Anna.

»Nein!« Die Entschlossenheit in ihrer Stimme überraschte Ari selbst. »Es mag Cordelias Schwert sein, das Belial tötet, aber hinter ihr stehen wir alle. All das, was wir getan haben, was wir erreicht haben, hat uns zu einem Teil der Kraft gemacht, die ihre Schwertklinge führen wird. Außerdem ist unsere Aufgabe noch nicht erledigt. Wir werden noch gebraucht, Anna. Du wirst noch gebraucht.«

Anna nickte, ganz langsam.

Vorsichtig gab Ari sie frei und hoffte inständig, dass sie den Ausdruck in Annas Augen richtig interpretiert hatte … dass Anna nicht doch davonstürzen würde. Aber Anna tat ihr den Gefallen: Sie blieb an Ort und Stelle, den Rücken gegen die Wand gepresst, die Augen auf Ari gerichtet, während das Stampfen der marschierenden Wächter in der Ferne verklang.

Eine holprige Straße – die Überreste eines ehemals beeindruckenden Boulevards mit Schatten spendenden Bäumen – führte Cordelia und Lucie zum Fuß des Hügels, der über Idumea aufragte. Bevor sie sich auf den Weg machten, warf Cordelia Lucie noch einen Blick zu. Es war so weit. Ihre letzte Anstrengung, das letzte Stück Weg zu Liliths Palast. Edom und Idumea hatten Lucie schon so viel abverlangt. Hatte sie noch genug Kraft für das, was jetzt kam?

In diesem Moment beschloss Cordelia, dass sie Lucie notfalls den Hügel hinauftragen würde. Sie waren zu weit gekommen und Lucie hatte sich zu sehr verausgabt, als dass Cordelia sie jetzt im Stich lassen würde.

Lucies bleiches Gesicht war schmutzig und angespannt. Die Begegnung mit den verfluchten Geistern schien sie zusätzlich entkräftet zu haben: Ihre Augen wirkten riesig, und ihre Miene war schmerzverzerrt. Als Cordelia jedoch mit fragendem Blick den Hügel hinaufsah, nickte Lucie nur und machte sich daran, den unebenen Zickzackweg hinauf zur Kuppe zu erklimmen.

Der Hügel war steiler als auf den ersten Blick vermutet, und das Gelände erwies sich als viel unwegsamer. Es war lange her, seit sich jemand um den Weg gekümmert hatte, und versteinerte Baumwurzeln wölbten sich durch das trockene Geröll, das den Hang bedeckte. Niedrige Steinhaufen säumten die Wegesränder. Längst vergessene Gräber? Hatte hier das letzte Gefecht der Nephilim in dieser Welt stattgefunden? Waren sie bei der Verteidigung ihrer Festung gestorben? Cordelia konnte nur raten.

Während sie den Hügel hinaufstiegen, lichteten sich die Wolken, und Cordelia hatte den Eindruck, als würde sich ganz Edom vor ihr ausbreiten. Sie konnte die Ebene sehen, wo Lucie und sie Zuflucht gesucht hatten, und in der Ferne sogar die lange Linie der Mauer von Kadesch. Sie fragte sich, ob die Mauer einst die Grenze zu einem anderen Land gebildet hatte. Und was aus dem Brocelind-Wald mit seinen tiefen Tälern und Elbenhainen geworden war. Und ob Lilith gelogen hatte und sie von hier aus doch keinen Weg zurück in ihre eigene Welt finden würden.

Außerdem fragte sie sich, wo Belial war – und genau genommen nicht nur Belial, sondern auch die Dämonen, die ihm dienten. Ihre Hand lag die ganze Zeit auf Cortanas Heft, aber alles blieb still. Nur die Geräusche des Winds und Lucies unregelmäßiger Atem begleiteten ihren Aufstieg.

Endlich wurde der Hang flacher, und sie konnten wieder Atem schöpfen. Vor ihnen erhoben sich die hohen Mauern, die die Festung umgaben – schwarze Umrisse im roten Schein der Sonne. Und in die Mauer war ein massives Tor eingelassen.

»Nicht mal hier sind Wachen«, sagte Cordelia, während sie sich gemeinsam dem Tor näherten. »Das ergibt keinen Sinn.«

Lucie schwieg. Mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen betrachtete sie das Tor: ein dunkles Abbild des Garnisonstors in Alicante, aus Gold und Eisen, mit eingravierten, wirbelnden Runen. Allerdings handelte es sich nicht um Runen aus dem Grauen Buch, sondern um eine Dämonensprache, uralt und beunruhigend. Steinerne Engelsstatuen flankierten das Tor, inzwischen kopflos und von Säure zerfressen. Nur die ausgebreiteten Schwingen ließen erahnen, was sie einmal dargestellt hatten.

Das Tor besaß keinerlei Griffe, nichts Greifbares. Cordelia legte ihre Hand auf das eiskalte Metall und drückte dagegen. Doch genauso gut hätte sie versuchen können, einen massiven Felsbrocken zu bewegen. Nichts geschah. »Keine Wachen«, sagte sie erneut. »Aber auch keine Möglichkeit hineinzukommen.« Sie legte den Kopf in den Nacken. »Wir könnten vielleicht versuchen, an der Mauer hochzuklettern …«

»Lass mich mal«, sagte Lucie leise und schob sich an Cordelia vorbei. »Ich habe das in einer Vision gesehen«, erklärte sie, wobei sie nicht wie sie selbst wirkte. »Ich glaube … dabei habe ich Belial gesehen. Und ihn sprechen gehört.« Sie legte ihre staubige Hand auf die Oberfläche des Tors. »Kaal ssha ktar«, sagte sie.

Die Worte klangen, als würde Stein über Metall schaben. Cordelia schauderte … und beobachtete ungläubig, wie die Torflügel lautlos aufschwangen. Dahinter konnte sie einen mit schwarzem, ölig glänzendem Wasser gefüllten Graben sehen und eine Brücke, die darüber hinweg direkt in die Festung führte.

Vor ihnen lag das Herz von Liliths Palast.

Nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit auf das Stampfen der Wächter gelauscht hatten, die an ihrem Versteck vorbeimarschierten, verklangen die Schritte in der Ferne, und Stille kehrte wieder ein. Vorsichtig spähte Ari aus dem Gang und bedeutete dann Anna, ihr zu folgen.

»Wohin gehen sie wohl? Die Wächter, meine ich«, sagte Anna.

Ari biss sich auf die Unterlippe. »Keine Ahnung, aber ich fürchte, uns läuft die Zeit davon.«

Sie hasteten weiter. Und weiter. Es war schwer zu sagen, wie viel Zeit verging. Der Korridor erstreckte sich jetzt in beide Richtungen und verlor sich scheinbar im Unendlichen. Ari warf einen Blick über die Schulter; hoffentlich hätten sie bei der Begegnung mit den Wächtern nicht einen anderen Weg einschlagen sollen, überlegte sie.

Doch plötzlich stieß Anna einen unterdrückten Schrei aus. »Sieh mal!«

Ari hastete zu ihr und erkannte, worauf Anna deutete. Ein Tor, das vom Tunnel abging. Mit goldgeschmiedeten Gitterstangen. Die Torflügel hingen halb in den Angeln, und dahinter herrschte tiefe Dunkelheit. Ari wusste, dass es sich um das Tor handeln musste, durch das Tatiana Blackthorn Belial und seine Armee von der Eisernen Gruft in die Stadt der Stille eingelassen hatte.

»Wer tut denn so was?«, flüsterte sie und warf Anna einen Blick zu. »Glaubst du, dass jemand dort sein wird? Und auf uns wartet?«

Anna schwieg, stiefelte nur durch das Tor. Und Ari folgte ihr.

Seit ihrer Ankunft hatten sie mehrere Räume von übermenschlichen Proportionen durchquert, weshalb ein weiterer Saal dieser Art eigentlich nicht die gleiche Wirkung auf Ari haben sollte wie die vorherigen. Dennoch empfand sie das schiere Ausmaß der Eisernen Gruft als einschüchternd. Vermutlich summierten sich tausend Jahre von Stillen Brüdern und Eisernen Schwestern zu einer sehr großen Anzahl von Gräbern – deren Insassen jetzt in London ihr Unwesen trieben.

Vor ihnen erstreckte sich ein gefliester Boden, gut hundert Meter in jede Richtung, und beschrieb eine gewaltige runde Grabkammer. An den Rändern waren Dutzende von Steintreppen in die Wände eingelassen. Diese Treppen führten zu Podesten, von denen weitere Treppen abgingen, über denen sich nochmals unzählige Treppen kreuzten und nach oben hin eine Art riesige Gewölbedecke bildeten. Auf jedem Podest, zumindest auf denen, die Ari und Anna sehen konnten, standen Steintische … Nein. Sarkophage. Sogar vom Boden aus konnte Ari erkennen, dass die Deckel bewegt worden waren – entweder vollständig heruntergestürzt oder zumindest verschoben.

Die Gruft war nicht so dunkel, wie sie von außen gewirkt hatte. Elbenlichter in regelmäßigen Abständen zierten die Wände und tauchten alles in ein sanftes, blaues Licht. Durch die sich kreuzenden, offenbar zufällig angeordneten Treppen wirkte ihr Schein wie das Schimmern von Sternen am Firmament. Und es ließ sich unmöglich sagen, wie hoch die Treppen reichten, weil sie in einer Decke verschwanden, die der Himmel hätte sein können.

Anna und Ari durchquerten die Gruft; das Klacken ihrer Stiefelabsätze hallte in dem höhlenartigen Raum wider. In der Mitte stand kein Sarkophag, doch Ari sah, dass der Boden aus einem riesigen Mosaik bestand, das sie im ersten Moment allerdings nicht deuten konnte. Beim Überqueren betrachtete sie es genauer und erkannte schließlich, dass es sich um das Bildnis einer Eisernen Schwester und eines Stillen Bruders handelte, über deren Köpfen sich ein Engel erhob.

Auf der anderen Seite des Mosaiks führte eine lange, zweiläufige Treppe hinauf zu einer schlichten Tür. Der Weg hinaus, dachte Ari. Er musste es einfach sein. Diese Tür war groß genug, und außer der Tür, durch die sie hereingekommen waren, gab es keine anderen.

»Also«, sagte Anna, und Ari merkte, dass sie nervös war. »Wollen wir?«

»Ja, wir wollen«, erwiderte Ari förmlich. Sie streckte die Hand aus und ergriff Annas Hand, als würde sie sie auf eine Tanzfläche führen. »Wir gehen gemeinsam.«

Nachdem sie die Tür erreicht hatten, war das eigentliche Öffnen – nach dem ganzen Spannungsaufbau – ein wenig ernüchternd: In der Tür steckte ein großer, eiserner Schlüssel. Anna warf Ari noch einmal einen Blick zu, bevor sie den Schlüssel umdrehte und die Tür einfach aufdrückte.

Auf der anderen Seite erwartete sie der Nachthimmel, darunter eine Ebene aus Vulkangestein und Stille.

»Hallo?«, rief Anna in diese Stille hinein.

Doch niemand reagierte.

Bestürzt tauschten sie einen Blick, und Ari fühlte sich plötzlich schrecklich müde. Allem Anschein nach hatten Grace und Jesse keine Flammenbotschaften versendet. Denn hier war keine Schattenjägerarmee, die sie in Empfang nahm.

Anna holte tief Luft. »Wenigstens tut es gut, frische Luft zu atmen.«

»Und«, fügte Ari hinzu, »es ist gut, dass wir einen Ersatzplan gemacht haben.«

»Ja, aber einen anstrengenden«, stöhnte Anna und begutachtete das felsige Gelände zu ihren Füßen. »Was glaubst du, wie lange es dauern wird, bis wir die Adamant-Zitadelle erreichen?«

In diesem Moment sah Ari am Horizont ein Licht aufblitzen. Sie spähte angestrengt in die Richtung und beobachtete, wie das Licht zu einem stetigen Leuchten wurde.

»Ist das ein … Portal?«, fragte Anna leise, als traute sie sich nicht, es laut auszusprechen, weil es sonst vielleicht verschwinden würde.

Sie sahen, wie eine Reihe von Gestalten auftauchte, mit Lampen in den Händen. Wie Glühwürmchen tanzten sie über die Vulkanebene und kamen immer näher. Die Schattenjäger waren tatsächlich eingetroffen – Grace und Jesse mussten die Flammenbotschaften verschickt haben. Und vielleicht gab es doch noch so etwas wie Hoffnung für diese Welt.

Anna hob die Arme und winkte. »Hier! Hier sind wir!«

Als die Gestalten immer näher kamen, konnte Ari ihre Gesichter sehen. Sie erkannte Gideon, Sophie und Eugenia Lightwood, Piers Wentworth, Rosamund und Thoby. Aber die meisten waren Fremde – keine Mitglieder der Londoner Brigade, sondern Schattenjäger aus anderen Orten, die hier waren, um zu kämpfen. Ein Gefühl der Enttäuschung erfasste Ari; andererseits war es ziemlich albern von ihr anzunehmen, dass sie nur auf Mitglieder der Familien stoßen würde, die sie am besten kannte.

Und dann erstarrte sie, denn sie hatte ihre Mutter entdeckt.

Flora Bridgestock trug ihre Kampfmontur. Sie hatte ihre braunen, von grauen Strähnen durchzogenen Haare im Nacken zu einem praktischen Zopf zusammengefasst und einen Waffengürtel um die Taille hängen. Ari konnte sich nicht erinnern, wann ihre Mutter zum letzten Mal ihre Montur angelegt hatte.

Als würde sie die Augen ihrer Tochter auf sich spüren, richtete sich Floras Blick direkt auf Ari, und sie sahen einander in die Augen. Einen Moment lang wirkte Floras Miene ausdruckslos, und Ari spürte, wie sie eine schreckliche Angst durchfuhr.

Doch dann lächelte ihre Mutter zögernd. In ihrem Lächeln lag Hoffnung, aber auch Schmerz und Trauer. Sie streckte eine Hand aus, nicht befehlend, sondern vertrauensvoll, als wollte sie sagen: Bitte, komm her!

Und Ari lief zu ihr.

Cordelia und Lucie hasteten über die Brücke. Das schwarze Wasser im Graben wogte und wirbelte, als befände sich irgendetwas Lebendiges darin. Doch Cordelia wollte sich lieber nicht näher damit beschäftigen. Denn viel mehr Sorge bereitete ihr die Vorstellung, dass Dämonen aus der Festung strömen und zum Angriff übergehen könnten.

Doch alles blieb ruhig, und sie betraten die riesige Eingangshalle. Auf den ersten Blick wirkte das Innere der Festung verlassen. Staub fegte über die nackten Steinböden. Spinnweben – viel zu groß und dick für Cordelias Seelenfrieden – überzogen die Decke und hingen von den Ecken herab. Eine wunderschön gearbeitete, zweiläufige Wendeltreppe schwang sich ins nächste Stockwerk hinauf, aber auch von dort waren keine Bewegungen oder Geräusche wahrzunehmen.

»Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das jedenfalls nicht«, sagte Lucie mit verblüffter Miene. »Wo ist der Thron aus Schädeln? Die enthaupteten Lilith-Statuen? Die Wandteppiche mit Belials Gesicht?«

»Dieser Ort fühlt sich absolut tot an.« Cordelia hatte ein mulmiges Gefühl im Magen. »Lilith und Filomena haben beide gesagt, dass Belial die Festung übernommen hat und dass er sie nutzt. Aber was ist, wenn Lilith gelogen hat? Oder wenn sie sich einfach … geirrt haben?«

»Wir werden es erst herausfinden, wenn wir uns genauer umschauen«, sagte Lucie mit grimmiger Entschlossenheit.

Sie stiegen die geschwungenen Treppen hinauf – eigentlich zwei Wendeltreppen, die sich umeinander wanden, ohne sich je zu berühren – und erreichten das Obergeschoss. Dort erstreckte sich ein langer Korridor mit steinernen Wänden, den Cordelia und Lucie vorsichtig und mit gezückten Waffen passierten. Doch er war ebenso leer wie die Eingangshalle. Am Ende des Korridors stießen sie auf zwei Metalltüren. Cordelia sah Lucie an, aber die zuckte nur die Schultern und drückte eine der Türen auf.

Dahinter lag ein weiterer großer, halbkreisförmiger Raum mit einem stark verwitterten Marmorboden. An einer der Wände erhob sich eine Art schlichte Steinplattform, hinter der sich zwei riesige Fenster befanden. Ein Fenster ging auf die öden Ebenen von Edom hinaus. Das zweite war ein Portal.

Auf seiner Oberfläche tanzten Wirbel in allen Farben, wie Öl auf Wasser. Hinter diesen Bewegungen entdeckte Cordelia etwas, das sie erkannte: London. Ein London unter einem grauschwarzen Himmel und mit Wolken, die von Wetterleuchten zerrissen wurden. Im Vordergrund erhob sich eine Brücke über einem dunklen Fluss. Dahinter ragte ein gotisches Bauwerk in den Himmel, ein bekannter Glockenturm …

»Westminster Bridge«, sagte Lucie überrascht. »Und die Houses of Parliament.«

Cordelia blinzelte. »Warum sollte Belial dorthin wollen?«

»Keine Ahnung, aber … sieh dir das mal an!«

Cordelia drehte den Kopf und sah, dass Lucie auf Zehenspitzen stand und einen schweren Eisenhebel inspizierte, der links von den Türen aus der Wand ragte. Von dem Hebel führten schwere Ketten hinauf zur Decke, wo sie verschwanden.

»Nicht …«, setzte Cordelia an, doch es war bereits zu spät. Lucie hatte den Hebel nach unten gedrückt. Die Kette setzte sich in Bewegung, und sie konnten hören, wie sie in den Wänden und Decken knirschte.

Plötzlich sank ein rundes Stück Boden nach unten, wodurch eine Art Brunnenöffnung entstand. Cordelia lief zum Rand der Öffnung und entdeckte Treppenstufen, die nach unten führten, und am Fuß der Treppe sah sie … Licht!

Vorsichtig stieg sie die Stufen hinunter. Die Wände bestanden aus poliertem Stein, in den weitere Muster und Worte eingemeißelt waren. Doch dieses Mal konnte Cordelia die Zeilen lesen, da es sich nicht um eine Dämonensprache handelte, sondern um Aramäisch. Da sprach das Weib zu der Schlange: »Von den Früchten der Bäume des Gartens dürfen wir essen. Aber von den Früchten des Baums, der mitten im Garten steht, von denen hat Gott gesagt, dürft ihr nicht essen und dürft sie nicht anrühren, sonst müsst ihr sterben!«

»Das müssen Schattenjäger geschrieben haben«, sagte Lucie, die Cordelia vorsichtig folgte. »Weil die Treppe vermutlich zu einem …«

»… Garten führt«, ergänzte Cordelia, denn sie war am Fuß der Treppe angekommen, wo sich eine nichtssagende Steinmauer erhob. Allerdings ragte an einer Stelle ein weiterer Eisenhebel hervor. Cordelia warf Lucie einen Blick zu, die nur die Schultern zuckte. Cordelia zog an dem Hebel, woraufhin erneut das knirschende Geräusch von Stein auf Stein ertönte. Ein Teil der Wand glitt beiseite und gab den Blick auf einen Torbogen frei. Cordelia trat hindurch und fand sich außerhalb der Festung wieder, in einem von Mauern umgebenen Garten – oder zumindest musste es früher mal ein Garten gewesen sein. Jetzt war er vollkommen verdorrt. Der trockene, rissige Erdboden war mit schwarzen Steinbrocken übersät, zwischen denen die Stümpfe toter Bäume herausragten.

Und in der Mitte des ehemaligen Gartens stand Matthew. Er sah schmutzig und halb verhungert aus, aber eindeutig lebendig.

Während Grace und Jesse in der Bibliothek blieben und Flammenbotschaften an jedes Institut auf einer sehr langen Liste schickten, hatte Thomas sich bereit erklärt, mit Alastair aufs Dach hinaufzugehen, um Wache zu halten. Das Dach bot ihnen die beste Aussicht über das größtmögliche Gebiet. Von dort aus konnten sie sehen, ob sich Wächter näherten oder ob sogar Truppen von Schattenjägern zur Verstärkung in London eintrafen, für den Fall, dass die Flammenbotschaften ihre Ziele erreicht hatten – obwohl Thomas wusste, dass kaum Hoffnung darauf bestand.

Es fiel ihm schwer, die Hoffnung aufrechtzuerhalten … die Hoffnung, dass sich etwas zum Guten ändern würde. Unter normalen Umständen hätte sich der Morgenhimmel bereits gelichtet, doch er sah genauso aus wie in den vergangenen Tagen: wie ein brodelnder, schwarzer Kessel. Ein durchdringender Asche- und Brandgeruch hing in der Luft, und das Wasser der Themse hatte einen düsteren, grünschwarzen Farbton. Im Moment war kein einziger Wächter zu sehen.

Thomas lehnte neben Alastair am Geländer, der mit undurchdringlicher Miene über die Stadt blickte. »Es ist so seltsam, die Themse ohne Schiffe zu sehen. Und keine Stimmen zu hören, keine Züge … Es scheint, als würde die Stadt hinter einer Dornenhecke schlafen wie im Märchen«, sagte Thomas.

Alastair warf ihm einen Blick zu. Aus seinen dunklen Augen sprach eine ganz neue Art von Zärtlichkeit. Als Thomas an die Nacht zuvor dachte, mit Alastair auf der Krankenstation, errötete er so sehr, dass er es regelrecht spürte. Rasch schaute er wieder auf die Stadt hinaus.

»Ich bin inzwischen verhalten optimistisch«, sagte Alastair. »Ist das verrückt?«

»Nicht unbedingt«, antwortete Thomas. »Denn möglicherweise kannst du einfach nur nicht mehr klar denken, weil uns die Vorräte ausgehen.«

Normalerweise hätte Alastair darüber gelächelt, aber seine Miene blieb ernst und nachdenklich. »Als ich mich entschlossen habe, in London zu bleiben, lag das teilweise daran, dass ich es für das Richtige hielt, nicht auf Belials Angebot einzugehen. Und teilweise an Cordelia. Aber ich wollte auch deshalb bleiben, weil ich …«

»Was denn?«, fragte Thomas.

»Weil ich dich nicht verlassen wollte«, sagte Alastair. Jetzt sah Thomas ihm ins Gesicht. Alastair lehnte noch immer am Eisengeländer. Trotz der Kälte stand der oberste Knopf seines Hemdes offen. Thomas konnte die geschwungenen Schlüsselbeine sehen und die Grube an seiner Kehle, wo Thomas ihn geküsst hatte. Alastairs Haare, normalerweise ordentlich frisiert, waren vom Wind zerzaust und seine Wangen gerötet. Plötzlich sehnte Thomas sich so sehr danach, ihn zu berühren, dass er hastig die Hände in die Hosentaschen schob.

»Das, was du in der Bibliothek zu mir gesagt hast – als wir mit Christopher dort waren –, das klang ein bisschen wie ein Gedicht. Was haben die Worte bedeutet?«, fragte er.

Alastairs Blick wanderte zum Horizont. »›Ey pesar, nik ze hadd mibebari kar-e jamal. Ba chonin hosn ze to sabr konam? ‹ Es ist ein Gedicht. Oder besser gesagt ein Lied. Ein persisches Ghasel. Junge, deine Schönheit entzieht sich jeder Beschreibung. Wie kann ich warten, wenn du so schön bist?« Ein Lächeln umspielte Alastairs Mundwinkel. »Ich habe die Worte mein Leben lang gekannt, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wann mir ihre Bedeutung vollständig bewusst geworden ist. Du musst wissen, dass die Ghasele von Männern gesungen werden. Und erst da habe ich begriffen, dass es auch andere gab, denen es so ging wie mir. Männer, die offen über die Schönheit anderer Männer schrieben und darüber, dass sie sie liebten.«

Thomas ballte die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten. »Ich glaube nicht, dass mich jemals irgendjemand für schön gehalten hat – abgesehen von dir.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach Alastair entschieden. »Du merkst nur nicht, wie andere dich ansehen. Aber ich schon. Früher musste ich die Zähne zusammenbeißen, weil ich so eifersüchtig war. Ich dachte, du würdest dir bestimmt jeden auf der Welt aussuchen, jeden anderen außer mir.« Alastair streckte eine Hand aus, legte sie um Thomas’ Nacken und biss sich auf die Unterlippe.

Der Anblick ließ Thomas’ Haut prickeln. Denn er wusste jetzt, wie es sich anfühlte, Alastair zu küssen. Dieser Kuss war nicht nur eine Ausschweifung seiner Fantasie, sondern Wirklichkeit – und er wollte ihn unbedingt noch einmal spüren, mit einem verzweifelten Verlangen, das er früher für unmöglich gehalten hätte.

»Falls letzte Nacht eine einmalige Sache war, dann lass es mich wissen«, sagte Alastair leise. »Ich würde es lieber gleich erfahren.«

Thomas nahm ruckartig die Hände aus den Taschen, packte Alastairs Mantelaufschläge und zog ihn zu sich heran. »Du«, sagte er und streifte mit den Lippen über Alastairs Mund, »machst mich wahnsinnig

»Ach?« Alastair blickte durch seine Wimpern zu Thomas hoch.

»Du musst doch wissen, dass du mir etwas bedeutest«, sagte Thomas, und die Bewegung seiner Lippen an Alastairs Mund ließ dessen Augen dunkel werden. Er spürte, wie sich Alastairs Hände unter seinen Mantel schoben und um seine Taille legten. »Du musst doch wissen …«

Alastair seufzte. »So was in der Art hat Charles auch immer gesagt: ›Du bedeutest mir etwas, ich hege Gefühle für dich.‹ Nie einfach: ›Ich liebe dich …‹« Er erstarrte und wich zurück. Für einen Moment dachte Thomas, dass es an ihm lag. Aber Alastair blickte mit grimmiger Miene an ihm vorbei. »Sieh dir das an!«, forderte er, lief über das Dach, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen, und zeigte nach unten. »Da!«

Thomas folgte seinem Zeigefinger, und ihm stockte der Atem.

Dort unten marschierte eine Kolonne aus weiß gekleideten Gestalten, die nicht nach rechts oder links schaute, sondern sich stetig nach Westen bewegte, auf das Zentrum von London zu.

Alastair fuhr sich beunruhigt mit der Hand durch die Haare. »Das haben sie noch nie zuvor gemacht«, sagte er. »Meistens patrouillieren sie nur ziellos umher. Ich habe nie mehr als zwei oder drei von ihnen zusammen gesehen, seit …«

Thomas zitterte. Noch kurz zuvor, dicht an Alastair geschmiegt, war ihm warm gewesen. Doch jetzt jagte ihm ein eisiger Schauer über den Rücken. »Seit dem Kampf mit Tatiana. Ich weiß. Was glaubst du, wohin sie wollen?«

»Sie stehen unter Belials Kommando«, sagte Alastair fest. »Sie können nur dorthin gehen, wohin er es ihnen befohlen hat.«

Er und Thomas tauschten einen Blick, bevor sie zur Falltür stürzten, die hinunter ins Institut führte. Unten angekommen liefen sie in die Bibliothek, wo Jesse am Tisch eingeschlafen war. Seine Wange ruhte auf einem Stapel unbeschriebener Papiere, und er hielt eine modifizierte Stele in der Hand. Neben ihm am Tisch saß Grace und kritzelte Flammenbotschaften im Schein eines einzelnen Elbensteins. Als sie Thomas und Alastair sah, hielt sie einen Finger an die Lippen. »Jesse macht gerade ein Nickerchen«, sagte sie. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihr helles Haar hing strähnig herab. »Wir haben die ganze Nacht durchgearbeitet.«

»Die Wächter haben sich in Bewegung gesetzt«, berichtete Thomas leise. »Viele, vielleicht sogar alle. Sie sind durch The Strand marschiert, alle in die gleiche Richtung.«

»Als ob sie herbeigerufen worden wären«, warf Alastair ein, während er seinen Waffengürtel überprüfte. »Thomas und ich werden nachsehen, was da los ist.«

Grace legte ihre Stele beiseite. »Ist das klug? Nur ihr beide?«

Erneut tauschte Thomas einen Blick mit Alastair.

»Uns bleibt keine große Wahl«, antwortete sein Freund vorsichtig.

»Moment mal«, sagte Jesse und setzte sich auf. Er blinzelte und rieb sich die Augen. »Ich …« Er gähnte. »Entschuldigung. Ich dachte nur … Was wäre, wenn die Flammenbotschaften funktioniert haben? Wenn der Rat Schattenjägertruppen durch die Eiserne Gruft bis nach London geschickt hat, könnten sich die Wächter in Marsch gesetzt haben, um gegen sie zu kämpfen.« Dann bemerkte er Thomas’ und Alastairs skeptische Mienen. »Bisher haben wir sie noch nie in einer so großen Gruppe gesehen. Und was hat sich seit gestern geändert? Nur die Tatsache, dass wir Flammenbotschaften versandt haben. Woran könnte es sonst liegen?«

»Möglicherweise liegt es ja tatsächlich an den Flammenbotschaften«, räumte Alastair langsam ein. »Oder aber daran, dass Belial … bekommen hat, was er wollte.«

James! Thomas empfand Alastairs Vermutung wie einen Schlag in die Magengrube. »Ich dachte, du wärst optimistisch.«

»Nicht mehr«, erwiderte Alastair.

»Tja, was auch immer der Grund ist, wir werden euch begleiten und es herausfinden«, verkündete Jesse und stand auf.

»Nein«, sagte Alastair tonlos. »Euch beiden fehlt dafür das Training.«

Sowohl Grace als auch Jesse zogen eine beleidigte Miene, und in diesem Moment sahen sie einander so ähnlich, dass Thomas unwillkürlich dachte: Ja, sie waren Geschwister – ob nun blutsverwandt oder nicht.

»Was Alastair sagen will«, warf er schnell ein, »ist Folgendes: Da draußen ist es nicht sicher genug. Außerdem wart ihr beide die ganze Nacht wach, und wir haben keine Ahnung, was uns in der Stadt erwartet.«

»Na und?«, konterte Jesse scharf. »Was sollen wir deiner Meinung nach tun? Wir haben bestimmt hundert Flammenbotschaften verschickt. Wir können uns nicht einfach hier im Institut verkriechen und abwarten, ob ihr jemals zurückkehrt.«

»Wie ich sehe, bin ich nicht der Einzige, der jeden Optimismus aufgegeben hat«, bemerkte Alastair.

»Er ist nur realistisch«, erwiderte Grace. Dann griff sie unter den Tisch, an dem sie gearbeitet hatte, und zog einen Leinenbeutel hervor.

»Was hast du da?«, fragte Alastair.

»Sprengstoff«, sagte sie. »Aus Christophers Labor. Wir sind bereit.«

»Es ist nicht mehr die Zeit, um sich zu verstecken und Kräfte zu sparen«, sagte Jesse. »Das spüre ich. Ihr nicht?«

Thomas musste ihm recht geben. Cordelia und Lucie waren fort. Anna und Ari wanderten durch die Stadt der Stille in der Hoffnung, am Eingang der Eisernen Gruft die vom Rat gesandten Schattenjägertruppen anzutreffen. Ihre Vorräte waren fast vollständig aufgebraucht. Und die Wächter befanden sich auf dem Vormarsch.

»Außerdem sind wir die Einzigen, die Flammenbotschaften versenden können«, sagte Grace. »Was ist, wenn wir Anna und Ari oder den Rat erreichen müssen, um ihnen mitzuteilen, was die Wächter machen? Wo sie sich versammelt haben? Du kannst nicht behaupten, dass das nicht hilfreich wäre.«

Das konnte Thomas in der Tat nicht.

»So oder so, das Ganze wird heute beendet werden«, sagte Jesse und holte das Blackthorn-Schwert, das an der Wand lehnte. »Deshalb ist es besser, wir sind zusammen … was auch kommen mag.«

Ein weiteres Mal tauschten Thomas und Alastair einen Blick.

»Und wenn ihr uns nicht mitnehmen wollt«, fügte Jesse hinzu, »werdet ihr uns im Institut einsperren müssen. Andernfalls bleiben wir nicht hier.«

Grace nickte zustimmend.

Thomas schüttelte den Kopf. »Ihr seid Nephilim. Wir sperren euch nicht ein. Wenn ihr wirklich mitkommen wollt …«

»Wir können genauso gut gemeinsam sterben«, sagte Alastair. »Und jetzt legt eure Montur an. Ich glaube nicht, dass uns noch viel Zeit bleibt.«

»Matthew«, flüsterte Cordelia.

Matthew trat einen Schritt zurück. Er starrte Cordelia an, als wäre sie eine Erscheinung – ein Geist, der aus dem Nichts aufgetaucht war. »James«, stieß er mit rauer Stimme hervor, »James hatte recht. Du bist nach Edom gekommen …«

Jetzt trat auch Lucie durch die Tür in den Innenhof hinaus. Die orangerote Sonne brannte auf sie nieder, genau wie auf Cordelia, die sich bereits umgesehen und festgestellt hatte, dass sich außer Matthew niemand in dem Garten befand. Und obwohl Cordelia überglücklich war, Matthew zu sehen, hatte sie beim Anblick seiner Miene das Gefühl, als würde eine eisige Hand ihr Herz zerquetschen.

»Er ist nicht mehr da«, sagte sie. »Stimmt’s? James ist nicht mehr da.«

»Er ist nicht mehr da?«, flüsterte Lucie. »Du meinst doch nicht …«

»Er lebt«, versicherte Matthew hastig und verzog dann das Gesicht. »Aber Belial hat von ihm Besitz ergriffen. Es tut mir leid … Ich konnte es nicht verhindern.«

»Math«, sagte Lucie leise. Und dann stürmten sie und Cordelia über den Hof, schlangen die Arme um Matthew, drückten ihn an sich.

Nach einem Moment legte er ebenfalls unbeholfen die Arme um sie und erwiderte die Umarmung. »Es tut mir so leid«, sagte er wieder und wieder. »So unglaublich leid …«

Cordelia löste sich als Erste von ihm. Sie sah, dass auf Lucies Wangen Tränenspuren schimmerten, aber sie selbst war nicht in der Lage zu weinen. Was sie empfand, war viel zu schrecklich für Tränen. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte sie impulsiv. »Du hast das nicht geschehen lassen . Belial ist ein Höllenfürst. Er tut, was er will. Aber … wohin hat er James gebracht? Wo sind sie jetzt?«

»In London«, antwortete Matthew. »Belial ist von dem Gedanken besessen, einen Ort auf der Erde zu haben, wo er herrschen kann.« Sein Tonfall war bitter. »Jetzt, wo er so viel Macht über die Stadt hat … Er hat geschworen, jeden lebenden Menschen in London zu töten, bis James seinen Widerstand aufgeben würde und Belial tun konnte, was er wollte.«

»Armer James«, sagte Lucie niedergeschlagen. »Vor so eine schreckliche Wahl gestellt zu werden …«

»Aber er muss gewusst haben, dass es so kommen würde«, sagte Cordelia. Denk wie James! , befahl sie sich. Sie hatte ihn im letzten halben Jahr so gut kennengelernt und damit auch seine komplizierte, oft verschlungene Weise, Überlegungen anzustellen und Pläne zu schmieden. Sie wusste, welche Pläne er machte, welche Risiken er in Kauf nahm und welche nicht. »Ihm muss klar gewesen sein, dass Belial eine Drohung aussprechen würde, der er sich nicht widersetzen kann. Vermutlich hat es ihn nicht überrascht.«

»Nein«, bestätigte Matthew. »James hat mir letzte Nacht erzählt, dass er einen Plan hat. Sich von Belial vereinnahmen zu lassen, gehörte dazu.«

»Einen Plan?«, fragte Lucie drängend. »Was für einen Plan?«

»Ich werde es euch erzählen. Aber wir müssen auf dem schnellsten Weg zurück nach London. Ich glaube, wir haben keine Zeit zu verlieren.« Matthews helles Haar war staubig und sein Gesicht voller Schmutzflecken. Doch er wirkte wacher, entschlossener und scharfsichtiger, als Cordelia ihn je erlebt hatte.

Lucie und Cordelia tauschten einen kurzen Blick. »Das Portal«, sagte Lucie. »Matthew, geht es dir gut genug …?«

»Um zu kämpfen?« Matthew nickte. »Solange jemand eine Waffe hat, die ich benutzen kann.« Er legte eine Hand an seinen Gürtel. »James hat mir letzte Nacht seine Pistole gegeben, damit ich sie für ihn aufbewahre. Ich glaube, er wollte nicht, dass Belial davon in unserer Welt Gebrauch machen kann. Aber bei mir funktioniert sie natürlich nicht.«

»Hier.« Lucie zog eine Seraphklinge aus ihrem Waffengürtel und reichte sie Matthew, der sie mit grimmiger Entschlossenheit entgegennahm.

»Also gut«, sagte Cordelia und drehte sich zu dem Torbogen um, der in die Festung führte. »Erzähl uns alles, was hier passiert ist, Matthew.«

Und Matthew folgte ihrer Aufforderung. Während sie die Treppe hinaufliefen, berichtete er von James’ und seiner Gefangenschaft. Er ließ nichts aus. Weder die Folgen des Alkoholentzugs noch seine immense Überraschung, als sich in der Mauer des Innenhofs plötzlich eine Tür geöffnet hatte und Cordelia und Lucie wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Er erzählte ihnen von den Drohungen, die Belial ausgesprochen hatte, von James’ Entschluss und von dem Moment, als Belial von James Besitz ergriffen hatte.

»Ich habe noch nie etwas Schrecklicheres gesehen«, sagte er, als sie den Raum betraten, in dem sich das Portal befand. »Belial ist mit diesem fürchterlichen Grinsen im Gesicht auf ihn zugesteuert. James ist nicht von der Stelle gewichen, aber Belial ist einfach in ihn hinein gegangen. Wie ein Geist, der durch eine Wand schwebt. Er ist in James’ Körper verschwunden. Und dann haben James’ Augen die Farbe gewechselt, irgendwie tot und silbrig, und als er mich wieder angesehen hat, war es zwar noch immer James’ Gesicht, aber mit Belials Gesichts­ausdruck. Voller Verachtung und Abscheu und … Unmenschlichkeit.« Matthew schauderte. »Besser kann ich es nicht erklären.«

Cordelia fand, dass er es gut genug erklärt hatte. Beim Gedanken an einen James, der nicht mehr James war, wurde ihr übel. »Es muss noch mehr dahinterstecken«, sagte sie. »Wenn James das auf diese Weise hat geschehen lassen …«

»Er hatte bereits akzeptiert, dass Belial von ihm Besitz ergreifen würde«, sagte Matthew. »James hat sich damit beschäftigt, was danach passieren würde. Er hat gesagt, dass wir Cordelia so nah wie möglich an Belial heranbringen müssen.«

»Damit ich ihm seine dritte Wunde zufügen kann?«, fragte Cordelia. »Aber Belial ist jetzt ein Teil von James. Ich kann ihn nicht tödlich verwunden, ohne dabei auch James zu töten.«

»Außerdem weiß Belial, dass du eine Bedrohung für ihn darstellst«, wandte Lucie ein. »Er wird dich nicht in seine Nähe lassen. Und nachdem er jetzt von James Besitz ergriffen hat, ist er so mächtig …«

»Ja, er ist mächtig«, bestätigte Matthew. »Aber er hat auch große Schmerzen. Die beiden Wunden, die Cordelia ihm zugefügt hat, quälen ihn noch immer. Allerdings könntest du sie heilen, mit Cortana.«

»Belial heilen?« Cordelia verzog das Gesicht. »Niemals!«

»James glaubt, dass diese Vorstellung für Belial sehr reizvoll wäre«, sagte Matthew. »Er ist Schmerz nicht gewohnt. Dämonen spüren normalerweise keinen Schmerz. Wenn du ihm sagst, dass du bereit bist, mit ihm eine Abmachung zu treffen …«

»Eine Abmachung?« Cordelias Stimme bekam einen ungläubigen Tonfall. »Was für eine Abmachung?«

Matthew schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht sicher, ob es eine Rolle spielt. James hat nur gesagt, du müsstest in Belials Nähe kommen, und dann würdest du schon wissen, wann der richtige Moment zum Handeln wäre.«

»Der richtige Moment zum Handeln?«, wiederholte Cordelia matt.

Matthew nickte.

Cordelia verspürte eine leise Panik – sie hatte nicht die geringste Ahnung, was James vorhatte. Natürlich hatte sie sich befohlen, wie er zu denken, aber sie hatte das Gefühl, als würden ihr die entscheidenden Teile zu einem Puzzle fehlen … die Teile, mit denen sie das Puzzle vervollständigen konnte.

Allerdings brachte sie es nicht über sich, ihre Zweifel vor Lucie und Matthew zu zeigen, die sie mit verzweifelter Hoffnung ansahen. Deshalb nickte sie nur, als würden Matthews Worte irgendeinen Sinn ergeben. »Woher hat James es gewusst? Dass du uns wiedersehen würdest? Oder in der Lage wärst, uns etwas mitzuteilen?«, fragte sie stattdessen.

»Er hat nie aufgegeben«, sagte Matthew. »Er hat gesagt, keiner von euch würde Belials Angebot annehmen oder London verlassen.«

»Damit hatte er recht«, sagte Lucie. »Keiner von uns hat das York Watergate nach Alicante passiert. Wir sind alle zusammen im Institut geblieben. Thomas, Anna und die anderen …«

»James hat das alles vorhergesehen.« Matthew betrachtete das Portal, die stürmische Sicht auf London. »Er hat gesagt, dass ihr kommen würdet, um uns zu holen. Ihr beide. Er hat euch vertraut.«

»Dann müssen wir ihm vertrauen«, sagte Lucie. »Wir können nicht länger warten. Wir müssen nach London.«

Sie ging auf das Portal zu. Als sie die Hand danach ausstreckte, sah Cordelia, wie das Bild darin von der Westminster Bridge zur Westminster Abbey wechselte, mit den gotischen Türmen, die in den sturmgepeitschten Himmel aufragten.

Einen Moment später passierte Lucie das Portal und verschwand darin. Dann folgte Matthew ihr und schließlich Cordelia. Als sie in die Dunkelheit trat und sich aus Edom fortwirbeln ließ, dachte sie: Was um alles in der Welt meinte James mit »dem richtigen Moment zum Handeln«? Und was geschieht, wenn ich es nicht rechtzeitig herausfinde?