Die Nacht war über London hereingebrochen – allerdings nicht die unnatürliche, schwere, schwarze und stille Nacht, die sich in den letzten schrecklichen Tagen über die Stadt gelegt hatte. Sondern ein ganz normaler Londoner Abend voller Leben und Lärm: das Geräusch von Kutschenrädern, das Pfeifen von Zügen in der Ferne, die Rufe der Passanten, die unter einem Himmel voller Mondlicht und Sternen weiterzogen. Und als Jem für einen Moment aus dem Institut schlüpfte und den Innenhof betrat, war die Luft kalt und klar, mit dem Geruch von Winter und Jahreswechsel.
Im Inneren des warmen Gebäudes machten sich Erleichterung und Erschöpfung breit, sogar verhaltenes Lachen. Allerdings galt das nicht für alle. Noch nicht. Bei manchen herrschten noch immer Schock, Trauer und Benommenheit. Anna Lightwood war nach Alicante gereist, um bei ihrer Familie zu sein, und Ari Bridgestock hatte sie begleitet. Aber wie Jem aus eigener Erfahrung wusste, machte man selbst nach unvorstellbarem Verlust weiter. Das Leben musste gelebt werden, und man lernte, seine Narben zu ertragen.
Und die jungen Schattenjäger waren widerstandsfähig. Trotz allem, was Cordelia an diesem Tag durchgemacht hatte, hatte sie vor Freude geweint, als sie erfuhr, dass sie jetzt einen kleinen Bruder hatte. Sein Name war Zachary Arash Carstairs. Sona würde am nächsten Morgen mit dem Neugeborenen eintreffen, und Cordelia und Alastair konnten es kaum erwarten, den Kleinen zu sehen.
Alles im Gleichgewicht, dachte Jem. Leben und Tod, Trauer und Glück. Sie waren mutig gewesen, James und seine Freunde, unglaublich mutig … Sie hatten den Albtraum von London unter Belials Herrschaft überstanden und die Ödnis von Edom überlebt. Vor Westminster Abbey hatte sich James mit noch immer blutgetränkter Kleidung an Jem gewandt und ihm erzählt, dass die Jahre des gemeinsamen Trainings seinen Willen geschärft und gestärkt hatten, sodass er zu der Überzeugung gelangt war, dass er Belial widerstehen und sich von seiner Herrschaft befreien konnte – und sei es auch nur für einen Moment.
Ja, das hatte sicher eine Rolle gespielt, dachte Jem jetzt. Willensstärke konnte nicht hoch genug bewertet werden. Aber dazu kam auch die große Schwäche der Dämonen: Sie kannten weder Liebe noch Vertrauen. Belial hatte nicht nur Cordelia, Lucie und James unterschätzt, sondern auch deren Freunde und ihre Bereitschaft, alles füreinander zu tun. Er hatte sie nicht so erlebt wie Jem an diesem Abend im Salon: Cordelia, die in James’ Armen in einem Sessel schlief; Alastair und Thomas, Hand in Hand vor dem Kaminfeuer; Lucie und Jesse, die miteinander flüsterten und sich Blicke zuwarfen. Matthew, der freundlich gegenüber seinen Eltern war und zum ersten Mal seit langer Zeit auch gegenüber sich selbst. Und Will und Tessa, mit ausgestreckten, weit offenen Armen, so wie sie Jem immer willkommen hießen.
Jetzt blickte Jem hinaus über den Innenhof. Schnee fiel vom Himmel, versah das schwarze Eisentor mit einem weißen Überzug und puderte die Stufen mit funkelndem Silber. Im Hinterkopf hörte er das Murmeln der Bruderschaft, ein beständiges, sanftes Dröhnen zahlreicher Stimmen. Sie sprachen über die grausame Verletzung, die Belial all den Eisernen Schwestern und Stillen Brüdern zugefügt hatte, deren Seelen ihren Körper verlassen hatten und umhergewandert waren. Sie sprachen davon, diese sterblichen Hüllen am nächsten Morgen in die Eiserne Gruft zurückzubringen und wieder in einen würdevollen Zustand zu versetzen. Sie sprachen über Bridget Daly, die Irdische, die von einem unheimlichen Blitz getroffen worden war, und fragten sich, welche Veränderungen das möglicherweise in ihr ausgelöst hatte. Und sie sprachen über London: Die irdischen Einwohner der Stadt würden sich an die letzten Tage als eine Zeit erinnern, in der ein schrecklicher Schneesturm sie in ihren Häusern gefangen gehalten und die Stadt von der Außenwelt abgeschnitten hatte. Die ersten Schritte waren bereits eingeleitet: Der Rest der Welt berichtete über das extreme Wetter in London, das die Telegrafenleitungen und den Zugverkehr lahmgelegt hatte.
Der Rat hatte Magnus Bane angeheuert, um die Schäden an der Westminster Abbey zu beheben. Aber Jem wusste, dass kein Hexenwesen und keine ihm bekannte Magie für dieses große Vergessen der Irdischen verantwortlich war. Allem Anschein nach handelte es sich um eine direkte Intervention der Engel. So etwas ist schon einmal passiert, hatte Bruder Enoch ihm erzählt, aber du, Zachariah, bist zu jung, um dich daran zu erinnern. Belial hat das Gleichgewicht der Dinge durcheinandergebracht. Manchmal stellt der Himmel dieses Gleichgewicht wieder her, aber wir können nur Vermutungen wagen, wann und wo. Schließlich sind die Engel uns keine Rechenschaft schuldig.
Die Schattenweltler, die in der Stadt gefangen gewesen waren, schienen nicht alles vergessen zu haben, obwohl Magnus gesagt hatte, ihre Erinnerungen wären vage und verworren. Und Cordelias und Lucies Bericht nach zu urteilen, war das vermutlich auch besser so, überlegte Jem. Allerdings fragte er sich, wo Malcolm gewesen war. Die Frage, ob der Oberste Hexenmeister sich während dieser ganzen Ereignisse in London aufgehalten hatte, blieb weiterhin ungeklärt …
Plötzlich nahm Jem aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr – das Aufflackern eines Schattens am Eingang des Instituts. Dann ertönte das Quietschen von Metall. Obwohl die Tore verriegelt waren, öffneten sie sich gerade weit genug, dass ein Schemen durch den Spalt schlüpfen konnte.
Jem straffte die Schultern, eine Hand an seinem Stab, als ein Mann über die Steinplatten auf ihn zuschritt. Ein attraktiver Mann mittleren Alters, in einem elegant geschnittenen Anzug. Sein Haar war dunkel, und sein Gesicht hatte etwas Eigenartiges an sich. Trotz der Falten und anderer Anzeichen hohen Alters und seiner Erfahrung wirkte er seltsam jung. Nein, nicht jung, dachte Jem und umfasste seinen Stab fester. Sondern neu . Als wäre er gerade erst erschaffen worden, geformt aus einem eigentümlichen Ton. Jem konnte es sich nicht recht erklären. Aber er wusste, was er da sah.
Dämon, flüsterte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Und nicht irgendein Dämon. Dieser Dämon verfügt über große Macht.
Stopp, rief Jem mit erhobener Hand. Und der Mann hielt inne, die Hände lässig in die Taschen geschoben. Er trug einen langen Mantel aus einem Leder von unangenehm wirkender Textur. Noch immer fiel Schnee, sanft und weiß, aber an seinen Haaren und seiner Kleidung blieben keine Flocken haften. Sie schienen um den Mann herum zufallen, als könnten sie ihn nicht berühren. Warum bist du hier, Dämon?
Der Mann grinste. Ein ungezwungenes, träges Grinsen. »Das ist ziemlich unhöflich«, sagte er. »Warum nennst du mich nicht bei meinem richtigen Namen? Belial.«
Jem richtete sich kerzengerade auf. Belial ist tot.
»Ein Höllenfürst kann nicht sterben«, entgegnete der Dämon. »Ja, der Belial, den du kanntest, ist tot. Na ja, vielleicht ist das nicht das richtige Wort, aber sein Geist wird eure Welt jedenfalls nicht mehr heimsuchen. Ich trete an seine Stelle. Ich bin jetzt Belial, der Seelenfresser, der Älteste der neun Höllenfürsten, Befehlshaber zahlloser Armeen der Verdammten.«
Ich verstehe, sagte Jem. Und doch frage ich mich: Warum bist du hierhergekommen? Welche Botschaft möchtest du übermitteln? In seinem Hinterkopf erhob sich lautstarkes Raunen, das er jedoch ignorierte. Der normalere, menschliche Teil von ihm hatte jetzt die Kontrolle übernommen. Der Teil, der liebte und fühlte, der vor allem seine Familie beschützen wollte: Will, Tessa und deren Kinder. Dein Vorgänger hatte ein sehr ungesundes Verhältnis zu einer bestimmten Schattenjägerfamilie, sagte er. Das hat zu großem Leid und Zerstörung und schließlich zu seinem Tod geführt. Ich hoffe, du wirst diese Obsession nicht fortsetzen.
»Nein«, sagte der neue Belial. »Das war sein Stammbaum, nicht meiner. Die Familie, von der du sprichst, bedeutet mir nichts; sie ist mir egal. Der vorherige Belial büßte durch diese Obsession seine Stärke ein. Ich will diese Stärke wiederherstellen.«
Und weil du so ein gutes Dämonenherz hast, bist du vorbeigekommen, um mir das zu sagen?, fragte Jem. Nein. Du fürchtest Cortana. Du weißt, dass dieses Schwert deinen Vorgänger getötet hat. Und du fürchtest, du könntest als Nächster an der Reihe sein.
»Menschen tun sich schwer, die Wege des Himmels und der Hölle zu verstehen«, erwiderte Belial, aber sein Lächeln wirkte gezwungen. »Es würde wenig Sinn ergeben, wenn das Carstairs-Mädchen mich tötet. In diesem Fall werde ich einfach durch einen anderen ersetzt … durch jemanden, der womöglich wieder größeres Interesse daran hat, sie aus dem Weg zu räumen.«
Dann willst du also einfach nur sagen, dass du die Herondales in Ruhe lässt, wenn sie dich in Ruhe lassen.
»Bis in alle Ewigkeit. Wie schon gesagt: Ich interessiere mich nicht für sie. Sie sind jetzt nur noch gewöhnliche Nephilim.«
Jem war sich nicht sicher, ob er dem zustimmte, widersprach aber nicht. Ich werde deine Nachricht weitergeben. Ich bin mir sicher, dass sie ebenfalls kein Interesse daran haben, die Verbindung mit dir aufrechtzuerhalten.
Belial grinste und entblößte scharfe, weiße Zähne. »Wunderbar«, sagte er. »Dann schulde ich dir einen Gefallen, Stiller Bruder.«
Nicht nötig, protestierte Jem, doch Belial verblasste bereits. An der Stelle, wo er gestanden hatte, leuchtete nur noch ein Schimmer, und auch dieser verschwand bereits. Der einzige Hinweis auf seine Anwesenheit war ein seltsamer freier Kreis auf dem Innenhof, den keine Schneeflocke berührt hatte.