In diesem Jahr war der Sommer spät nach London gekommen, und in Chiswick House schien er sogar noch länger auf sich warten zu lassen. Cordelia hatte das Gefühl, dass das Anwesen sein eigenes Klima besaß. Trotz des blauen Himmels lagen Schatten über den Gärten des Herrenhauses; die Bäume waren von dichtem Grün bedeckt, aber nur wenige Blumen blühten in den überwucherten Beeten. Cordelia musste unwillkürlich an den Moment zurückdenken, als sie das Haus zum ersten Mal gesehen hatte: nachts, in einer von Dämonen bevölkerten Dunkelheit, begleitet von flüsternden Winden, die ihr zu sagen schienen: Geh, du bist hier nicht erwünscht.
Inzwischen sah die Situation anders aus. Zwar mochte sich das Anwesen nicht verändert haben, aber das ließ sich nicht von Cordelia behaupten. Dieses Mal war sie nicht allein mit Lucie hier, unterwegs in geheimer Mission – heute war sie gemeinsam mit ihren Freunden gekommen, ihrer Familie, ihrem Ehemann und ihrer Parabatai . Nicht einmal Schnee hätte ihr an diesem Tag etwas ausmachen können. In dieser Gruppe konnte sie nicht anders, als sich wohlzufühlen.
Der Erdboden hatte sich als hart und steinig erwiesen und sich nur mit größter Mühe ausheben lassen. Sie hatten den Großteil des Vormittags dafür gebraucht und sich sogar an den Schaufeln abgewechselt, um eine rechteckige Grube zu graben. Ein letzter Ruheplatz für Jesses alten Sarg, der gefährlich nahe am Rande des Erdlochs balancierte.
Sie hatten Picknickkörbe mitgebracht – auch wenn sie gar nicht vorhatten, hier zu picknicken – und bereits einiges von ihren Ingwerbiervorräten getrunken. Alle waren leicht verschwitzt und schmutzig, und die Jungs hatten ihre Jacken ausgezogen und die Hemdsärmel hochgekrempelt. James hatte den größten Teil der Grabungsarbeiten übernommen, und Cordelia hatte ihm mit großem Vergnügen dabei zugesehen. Er hatte sich gerade kurz mit Matthew beraten und wandte sich jetzt – nachdem die beiden offenbar beschlossen hatten, dass die Grube groß genug sei – dem Rest der Gruppe zu: Lucie und Jesse, Thomas und Alastair, Anna und Ari, Matthew mit Oscar, Cordelia und Grace.
»Also gut«, sagte James und stützte sich auf seine Schaufel wie der Totengräber in Hamlet . »Wer will anfangen?«
Sie alle sahen einander an … ein wenig betreten, wie Kinder, die man bei einer bösen Tat ertappt hatte. Alle bis auf Anna – Anna wirkte nie betreten. Aber da es ursprünglich Matthews Idee gewesen war, richteten sich alle Augen auf ihn, während er neben Oscar kniete und dessen Kopf streichelte.
Matthew schaute amüsiert auf. »Ich versteh schon«, sagte er. »Also gut, dann werde ich euch mal zeigen, wie so was gemacht wird.«
Oscar bellte, als Matthew zu Jesses leerem Sarg hinüberschlenderte. Die Sonne warf die Schatten der Blätter auf den geöffneten Deckel, die Holzkiste und Matthews grüne Weste. Seit dem Winter hatte er sich die Haare wachsen lassen, sodass sie inzwischen fast seinen Kragen berührten. Außerdem hatte er hart trainiert und wirkte nicht länger zu dünn. Sein Lächeln besaß eine Intensität, die es bei Cordelias Ankunft in London noch nicht gehabt hatte – nicht einmal während ihrer gemeinsamen Zeit in Paris.
Mit großer Geste zog Matthew jetzt eine Flasche Brandy aus der Innentasche seiner Weste. Sie war komplett gefüllt, und die dunkle, bernsteinfarbene Flüssigkeit schimmerte golden im Sonnenlicht. »Dies ist meine Gabe«, sagte er und beugte sich hinunter, um den Brandy in den Sarg zu legen. »Ich glaube nicht, dass meine Wahl irgendjemanden überraschen dürfte.«
Cordelia bezweifelte das ebenfalls. Als der Winter langsam in den Frühling übergegangen war, hatten sie alle das Gefühl gehabt, nach langer Dunkelheit endlich wieder ins Licht zu treten. Anna hatte als Erste darauf hingewiesen, dass sie sich im Sommer von London aus in alle Richtungen zerstreuen … und damit die Gruppe verlassen würden, die ihnen in den langen Monaten nach dem Januar Halt und Unterstützung geboten hatte. James und Cordelia würden endlich ihre Flitterwochen antreten. Matthew würde auf seine Reise gehen. Alastair und Thomas wollten Sona bei der Rückkehr nach Cirenworth zur Hand gehen – ihr Wunsch eines Umzugs nach Teheran war nach einem monatelangen Besuch ihrer Familie, kurz nach Zacharys Geburt, wie durch ein Wunder verflogen. Und Anna und Ari würden schon bald nach Indien abreisen. Das Leben ging weiter, ganz gleich wie sehr sie sich alle verändert hatten. Und aus diesem Grund hatte Matthew die heutige Zeremonie vorgeschlagen, bei der jeder von ihnen ein Symbol der Vergangenheit begraben sollte.
»Es muss nichts Großartiges oder Schreckliches sein«, hatte er gesagt. »Einfach nur etwas, von dem ihr euch trennen wollt, oder das ihr als Teil eurer Vergangenheit betrachtet, nicht aber eurer Zukunft.«
Bei diesen Worten hatte er Cordelia ein leicht wehmütiges Lächeln geschenkt. Seit Januar hatte zwischen ihnen eine gewisse Distanz geherrscht – nicht aus Zorn oder Feindseligkeit, sondern weil die Nähe, die sie während ihrer Zeit in Paris zu ihm empfunden hatte, und das Gefühl des gegenseitigen Verständnisses verflogen waren. Paradoxerweise war das Verhältnis von Matthew zu James, zu Thomas und sogar zu Alastair dagegen nur enger geworden. »Du musst seinem Herzen Zeit zum Heilen geben«, hatte James gesagt. »Und das ist nur möglich mit etwas Abstand. Im Laufe der Zeit wird es von selbst besser werden.«
Etwas Abstand. Aber Matthew hatte sich entschlossen, schon bald einen großen Abstand zwischen sie zu bringen – und Cordelia konnte nicht sagen, wie lange dieser Zustand anhalten würde.
Jetzt richtete Matthew sich auf, klopfte sich die Hände ab und schlenderte zu Oscar, um mit ihm Stöckchenwerfen zu spielen. Oscar hüpfte über das Gras, stoppte plötzlich, hielt die Nase in die Luft und schnüffelte argwöhnisch.
Ari straffte die Schultern und trat an den Sarg, um Matthews Platz einzunehmen. Sie trug ein schlichtes, rosafarbenes Tageskleid und hatte ihr Haar zu einem lockeren Nackenknoten hochgesteckt. In den Händen hielt sie ein zusammengefaltetes, an den Rändern leicht angesengtes Stück Papier. »Das ist der Brief, den mein Vater verfasst hat, um Charles damit zu erpressen«, sagte sie. »Für mich verkörpert er den Maßstab, an dem er mich gemessen hat und dem er selbst nicht gerecht wurde. Mein Vater wollte, dass ich mich verbiege, ein falsches Bild von mir präsentiere. Statt mein wahres Ich. Und ich kann nur hoffen, dass er eines Tages lernt, der Welt auch sein wahres Ich zu zeigen.«
Mit traurigem Blick ließ sie den Brief neben die Brandyflasche in den Sarg fallen. Maurice Bridgestock befand sich noch immer in Idris, nachdem man ihn seines Amtes als Inquisitor enthoben hatte. Er würde bald zur Wrangelinsel reisen – ein abgeschiedener Ort, an den man ihn zur Bewachung der Schutzschilde abkommandiert hatte. Mrs Bridgestock hatte die Scheidung eingereicht. Doch anstatt darüber in Mutlosigkeit zu verfallen, schien ihre neue Freiheit sie zu beflügeln, und sie hatte Anna – und alle von Aris Freunden – mit offenen Armen willkommen geheißen. Ihr Haus war inzwischen ein warmer und einladender Ort. Aber Cordelia konnte verstehen, dass Ari bedauerte, was mit ihrem Vater geschehen war, und dass sie sich wünschte, er hätte sich als besserer Mann erwiesen. Schließlich kannte sie diese Gefühle nur allzu gut.
Als Nächster trat Thomas an den Sarg. Er war in vielfacher Hinsicht ein Paradox: Zum einen hatte Christophers Tod bei ihm tiefere Narben hinterlassen als bei allen anderen – wie sich an den Falten unter den Augen zeigte, die er zuvor noch nicht gehabt hatte und die für einen so jungen Mann äußerst ungewöhnlich waren. (Cordelia war der Ansicht, dass er dadurch würdevoller aussah.) Zum anderen ging eine ganz neue, innere Ruhe von ihm aus. Er hatte seit jeher versucht, sich und seinen Körper, den er für unbeholfen hielt, kleiner zu machen. Inzwischen war er jedoch mit sich im Reinen, so als ob er sich endlich so sah, wie Alastair ihn sah: groß und stark und geschmeidig.
Genau wie Ari hielt auch er ein Stück Papier in der Hand, obwohl seines nicht nur etwas, sondern stark angesengt war. »Ich werde einen der ersten Versuche einer Flammenbotschaft begraben, in der ich einige wirklich bedauernswerte Worte niedergeschrieben habe«, sagte er.
Alastair lächelte. »Ich kann mich gut daran erinnern.«
Thomas ließ das Blatt Papier in den Sarg fallen. »Es verkörpert eine Zeit, in der ich noch nicht wusste, was ich wollte.« Dann schaute er Alastair an, und die Verbindung zwischen ihnen war förmlich spürbar. »Aber das ist nicht länger der Fall.«
Jetzt nahm Alastair Thomas’ Platz am Sarg ein. Als sie aneinander vorübergingen, berührten sich ihre Hände ganz leicht. In letzter Zeit berührten sie einander ständig: Alastair richtete Thomas’ Krawatte, Thomas zerzauste Alastair die Haare. Sona fand dies äußerst amüsant, Cordelia fand es einfach nur süß.
Genau wie Matthew hielt auch Alastair eine Flasche in der Hand; allerdings handelte es sich eher um ein Fläschchen, mit einem handgedruckten Etikett. Einen Moment lang fragte Cordelia sich, ob es Alkohol enthielt. Wollte Alastair vielleicht die Gedanken an ihren gemeinsamen Vater begraben? Doch dann erkannte sie, dass ihr Bruder eine leere Flasche Haarfärbemittel mitgebracht hatte, die er mit sarkastischem Lächeln in den Sarg fallen ließ. »Ein Zeichen«, sagte er. »Ein Zeichen dafür, dass ich inzwischen herausgefunden habe, dass meine natürliche Haarfarbe mir viel besser steht.«
»Sag bloß nichts Schlechtes über Blonde«, meinte Matthew, doch er lächelte, während Cordelia sich in Bewegung setzte, um ihren Bruder am Sarg abzulösen.
Alastair nickte ihr ermutigend zu, als sie auf Jesses Sarg zutrat. Sie warf einen Blick auf ihre Freunde und hatte einen Moment das Gefühl, als würde sie auf einer Bühne stehen – allerdings mit einem viel freundlicheren Publikum als im Hell Ruelle. Sie schaute Lucie und danach James an, die sie beide anlächelten, holte tief Luft und griff nach der leeren Schwertscheide an ihrer Hüfte.
Sie zog die Scheide aus dem Gürtel und betrachtete sie nachdenklich. Es war wirklich eine außergewöhnlich schöne Arbeit: Stahl, glänzend poliert wie Silber, mit Intarsien aus dunklem Gold und eingeprägten Runen, Blättern, Blüten und Reben. Das Sonnenlicht, das durch die Zweige fiel, brachte die Schönheit des Objekts nur noch mehr zum Leuchten.
»Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich hinter mir lassen soll«, setzte Cordelia an und drehte die Schwertscheide in den Händen. »Zunächst nahm ich an, dass es irgendetwas mit Lilith zu tun haben müsste. Aber letztendlich habe ich dieses Objekt ausgewählt. Es ist eine wunderschöne Arbeit. Und weil sie so wunderschön ist, wollte mein Vater sie mir schenken, und deshalb kam er zu spät zu meiner Hochzeit und war bei seiner Ankunft bereits betrunken.« Sie holte erneut tief Luft und spürte Matthews Blick auf sich ruhen. »Er hat nie wirklich verstanden, dass ich keine hübschen Geschenke wollte. Ich wollte ihn . Meinen Vater, an meiner Seite. Aber ich habe diese Worte nie ausgesprochen. Ich habe sie für mich behalten, in meinem Herzen.« Sie beugte sich vor und legte die Schwertscheide in den Sarg, die inmitten der eigenartigen Ansammlung von Gegenständen wunderschön schimmerte. »Vermutlich hätte sich nichts geändert, wenn ich meinem Vater die Wahrheit gesagt hätte«, fuhr Cordelia fort. »Aber dann hätte ich nichts bereuen müssen. Und wenn ich euch allen die Wahrheit über meinen Plan erzählt hätte, Wayland den Schmied aufzusuchen, wäre mir vermutlich ein schrecklicher Fehler erspart geblieben.« Sie richtete sich auf. »Also begrabe ich hier die Geheimnisse, die ich für mich behalten habe. Nicht alle Geheimnisse«, sie lächelte kurz, »sondern all jene, die wir aus Scham für uns behalten, oder aus Angst vor einem möglichen Versagen oder davor, von anderen verurteilt zu werden. Unsere Fehler sind in unseren eigenen Augen immer schrecklicher als in den Augen aller anderen – und diejenigen, die uns lieben, werden uns vergeben.«
Lucie klatschte laut Beifall. »Und jetzt, da du eine Parabatai hast, wirst du nie wieder ein Geheimnis bewahren müssen! Zumindest nicht vor mir. Aber wenn du möchtest, kannst du sie natürlich vor dem Rest dieser Heiden hier verbergen«, verkündete sie.
Die anderen reagierten mit fröhlichen Buhrufen. »Liebe Lucie«, sagte Anna. »Bitte gib Cordelia keine so schrecklichen Ratschläge mehr. Wir wollen alle hören, was sie zu erzählen hat – egal wie skandalös es ist. Ganz besonders dann, wenn es skandalös ist.« Sie grinste aufreizend.
»Anna, bist du jetzt nicht an der Reihe?«, fragte Matthew, in gespielt ernsthaftem Ton. »Was möchtest du zu alldem beitragen?«
Anna winkte ab. »Nichts. Mir gefällt alles, was ich habe, und ich billige all meine Taten.«
Sogar Alastair musste darüber lachen, und Ari ließ ihren Kopf gegen Annas Schulter sinken. Cordelia bemerkte, dass Annas Weste rosa Streifen besaß, die zu Aris Kleid passten. Anna hatte in letzter Zeit regelmäßig Teile ihrer Garderobe an Aris Kleidung angepasst – was für Anna eine ernsthaftere Bindung darstellte als Ehe-Runen.
»Also gut.« Bei diesen Worten drehten sich alle um: Grace sagte nur selten etwas, und deshalb war es immer eine Überraschung, ihre Stimme zu hören. »Als jemand, der vieles zu bereuen hat, würde ich gern die Nächste sein. Falls es keine Einwände gibt.«
Niemand protestierte, und Grace ging langsam zu dem Sarg, der einst ihrem Bruder gehört hatte. In den vergangenen Monaten hatte sie einen Platz in ihrer Gruppe gefunden, als Jesses Schwester. Es bestand nicht der geringste Zweifel: Ohne ihren erfolgreichen Abschluss von Christophers Forschungen hätten die Nephilim Belial nicht besiegt. Und Christophers Worte – dass sie alle nicht besser wären als Tatiana, wenn sie Grace auf ewig für ihre früheren Taten verurteilen würden – waren ihnen allen im Gedächtnis geblieben.
Trotzdem war das Verhältnis nach wie vor angespannt. Als James seinen Eltern die Geschichte von dem Armband und dessen Fluch erzählt hatte, waren sie völlig erschüttert gewesen. Cordelia hatte den Moment miterlebt und sehen können, wie intensiv sie James’ Schmerz nachempfanden – vermutlich intensiver, als sie eigene Schmerzen jemals empfinden würden. Und dazu hatten sie die typischen Schuldgefühle von Eltern verspürt, die etwas hätten sehen müssen, hätten ahnen müssen, ihren Sohn hätten beschützen müssen.
James hatte dagegen protestiert und ihnen erklärt: Das eigentlich Bösartige des Armbands bestand ja gerade darin, dass es Wissen, Schutz und Hilfe verhinderte. Sie hatten sich nichts vorzuwerfen. Dennoch war eine Wunde zurückgeblieben, und Grace hatte noch am selben Tag ohne weiteres Aufsehen das Institut verlassen und war ins Haus der Konsulin gezogen, wo sie Henry bei der Reorganisation seines Labors half.
Jesse hatte sich Sorgen gemacht, dass die Situation dort für sie auch nicht viel besser wäre, in Anbetracht ihrer ehemaligen Beziehung zu Charles. Aber Grace hatte ihn beruhigt: Charlotte und Henry wussten über alles Bescheid, und Charles und sie hatten sich inzwischen miteinander verständigt. Anfangs war Charles natürlich sehr zornig gewesen, doch inzwischen hatte er Grace versichert, dass er ihr für die Durchkreuzung seiner Hochzeitspläne mit Ari dankbar war. Schließlich hätten beide Seiten nur darunter gelitten. Inzwischen lebte er in Idris und arbeitete dort für den neuen Inquisitor, Kazuo Satō. Gelegentlich schickte er Briefe nach London – meistens an Matthew, doch hin und wieder auch an Ari, mit Neuigkeiten über ihren Vater. Aus ihnen wäre ein entsetzliches Ehepaar geworden, meinte Ari, doch als Freunde kamen sie überraschend gut miteinander aus.
Was Grace betraf, so hatten sich natürlich alle Augen zunächst einmal auf James gerichtet: Schließlich war er derjenige, den sie am tiefsten verletzt hatte. Doch zur allgemeinen Überraschung schien sich seine Wut auf sie nach Belials Tod relativ schnell zu legen. Eines Abends, als Cordelia und er bereits im Bett lagen, hatte sie gesagt: »Ich weiß, dass wir nicht sehr oft darüber sprechen, aber alle warten auf deine Reaktion, um dann für sich zu entscheiden, wie sie mit Grace umgehen wollen. Und du scheinst ihr vergeben zu haben.« Dann hatte sie sich auf die Seite gedreht und ihn neugierig angeschaut. »Ist das der Fall?«
Daraufhin hatte er sich ebenfalls in ihre Richtung gedreht, sodass sie einander ansahen. Seine Augen flackerten golden, wie der Schein eines Feuers, und sein Blick erzeugte in ihr ein Gefühl der Hitze, an den Stellen, wo er über die Konturen ihrer Schulter und die Wölbung ihres Halses wanderte. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihn eines Tages nicht mehr zu begehren – und er hatte durch nichts zu erkennen gegeben, dass er in irgendeiner Form anders darüber dachte. »Ich glaube, wir haben deshalb kaum darüber gesprochen, weil ich selbst nur selten daran denke«, antwortete er. »Am schwersten war es für mich, allen davon zu erzählen. Aber danach … Na ja, ich weiß nicht, ob das wirklich Vergebung ist. Aber ich denke, dass ich nicht richtig wütend auf sie sein kann, wenn ich selbst so viel habe und sie so wenig.«
»Und du hältst es nicht für nötig, mit ihr zu sprechen? Eine Entschuldigung von ihr zu bekommen?«, hatte Cordelia gefragt.
Doch James hatte nur den Kopf geschüttelt. »Nein. Das brauche ich für mich nicht. Und was sie betrifft: Sie wird auf ewig von ihrer Kindheit und von den Dingen gebrandmarkt sein, die sie getan hat. Was könnten Strafen oder Entschuldigungen da noch bewirken?«
Die Dinge, die sie getan hat. Cordelia dachte an James’ Worte, als Grace jetzt die beiden silbernen Halbmonde hochhielt … die zerbrochenen Überreste des verfluchten Armbands. Dann schaute Grace James an, mit einem ruhigen Ausdruck in den grauen Augen. Sie hatte inzwischen eine Narbe auf der Wange – nicht von der Schlacht in Westminster, sondern von einem Becherglas, das im Labor der Fairchilds explodiert war.
James nickte ihr zu, und plötzlich erkannte Cordelia: Um die Vergangenheit zu begraben, waren keine weiteren Worte zwischen Grace und James mehr nötig. Der Prozess war längst vollzogen, und James’ früherer Schmerz war von seinem heutigen Ich absorbiert worden – wie die Erinnerung an eine Nadel, an der man sich nicht länger blutig stechen konnte.
Grace ließ das zerbrochene Armband in den Sarg fallen; die Teile klirrten, als sie auf ein Stück Glas prallten. Sie betrachtete sie für einen Moment, drehte sich dann um und entfernte sich, mit geradem Rücken, während ihr helles Haar im Wind wehte.
Sie gesellte sich zu Jesse, der ihr kurz eine Hand auf die Schulter legte, bevor er selbst zum Sarg ging. Seit Januar hatte er sich von allen Anwesenden am stärksten verändert, dachte Cordelia. Damals war er für einen Schattenjäger noch immer sehr blass und dünn gewesen, obwohl er mit großem Eifer gelernt und trainiert hatte, um die gleiche Kraft und Balance zu erwerben, die die meisten Nephilim schon von früher Kindheit an besaßen. Heute, einige Monate später – Monate, in denen er fast täglich mit Matthew und James trainiert hatte, bis er die Seile im Fechtsaal hinaufklettern konnte, ohne dabei außer Atem zu geraten –, war er schlank und kräftig, mit von der Sonne gebräunter Haut und mit frischen Runenmalen versehen. Sämtliche eleganten Kleidungsstücke, die Anna für ihn ausgesucht hatte, mussten mehrfach ausgelassen werden, damit sie den neuen Konturen seines Körpers Platz boten. Jesse wirkte nicht länger wie ein Junge, der im Schatten aufgewachsen war – er war inzwischen fast ein Mann, und kräftig und gesund dazu.
Jetzt hielt er ein schartiges Stück Metall in die Höhe, das in der Sonne glitzerte – das zerbrochene Heft des Blackthorn-Schwerts, wie Cordelia plötzlich begriff. Die eingravierte Dornenkrone war vor der geschwärzten Parierstange noch immer deutlich zu erkennen. »Ich begrabe die komplizierte Geschichte meiner Familie«, sagte Jesse mit fester Stimme. »Die Tatsache, dass ich ein Blackthorn bin. Natürlich ist keine Familie von Natur aus schlecht. Jede Familie hat gute und weniger gute Mitglieder. Aber die schrecklichen Dinge, die meine Mutter getan hat, geschahen alle, nachdem sie diesen Namen angenommen hatte. Sie hängte das Blackthorn-Schwert über meinem Sarg an die Wand, denn selbst dem Tode nahe sollte ich immer daran erinnert werden, dass ich ihrer Vorstellung von einem Blackthorn entsprach. Also begrabe ich hiermit die Ansichten meiner Mutter darüber, wie ein Blackthorn sein muss. Ich lasse sie hinter mir und werde ein neuer Blackthorn werden – die Art von Mann, die ich selbst sein will.«
Er legte das zerbrochene Heft neben die anderen Objekte und schaute eine Weile auf den Sarg, der für so lange Zeit sein Gefängnis gewesen war. Dann kehrte er ihm entschlossen den Rücken zu, schritt mit erhobenem Kopf hinüber zu Lucie und stellte sich neben sie.
Als Nächstes war Lucie an der Reihe. Sie drückte Jesse kurz die Hand und ging zum Sarg. Sie hatte Cordelia zuvor schon erzählt, was sie mitbringen wollte: die Zeichnung einer Pyxis, die sie in der Wohnung des Hexenmeisters Emmanuel Gast gefunden hatten.
Cordelia wusste, dass Lucie noch immer Schuldgefühle verspürte wegen dem, was mit Gast passiert war – und im Grunde für all die Male, in denen sie die Toten befehligt hatte, auch wenn es mit Gast am schlimmsten gewesen war. Lucie konnte zwar weiterhin Geister sehen, doch die Macht über sie war ihr mit Belials Tod genommen worden. Cordelia gegenüber hatte sie zugegeben, dass sie darüber sehr froh war – denn das bedeutete, dass sie nie wieder in Versuchung geraten konnte, diese Fähigkeit zu nutzen.
Jetzt stand Lucie schweigend da und ließ einfach nur die Skizze in den Sarg fallen: Ihr, die normalerweise ununterbrochen reden konnte, schienen in diesem Moment die Worte zu fehlen. Stattdessen schaute sie zu, wie das Papier langsam hinabflatterte, verfolgte seinen Weg in den Sarg, bis James sich zu ihr an das Grab gesellte … Nein, es war kein Grab, ermahnte Cordelia sich: Man konnte es zwar als eine Abschiedszeremonie bezeichnen, aber nicht in diesem Sinne.
Als James neben Lucie stand, warf er Cordelia einen Blick zu. Hier, im Schatten der Bäume, besaßen seine Augen die Farbe des Sonnenlichts. Dann schaute er der Reihe nach die anderen Anwesenden an und zog langsam seine abgenutzte Pistole aus dem Gürtel. »Ich habe fast das Gefühl, als müsste ich mich bei Christopher entschuldigen«, setzte er an. »Schließlich hat er so viel Zeit aufgewendet und so viele Gegenstände zerstört, um dieses Ding funktionsfähig zu machen.« Ein wehmütiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Und dennoch werde ich diese Pistole begraben. Nicht, weil sie nicht länger auf mein Kommando hin feuert, obwohl das tatsächlich der Fall ist. Sondern weil sie immer nur dank Belials Magie funktioniert hat. Und Belial ist tot. Die Kräfte, die er Lucie und mir übertragen hat, waren nie Geschenke, sondern immer eine Last – ein Gewicht, an dem wir schwer zu tragen hatten, und das wir beide mit großer Erleichterung abgeschüttelt haben.« Er bedachte Lucie mit einem schnellen Seitenblick, und Lucie nickte mit leuchtenden Augen. »Ich nehme einmal an, dass Christopher das verstanden hätte«, sagte er, kniete sich hin und legte die Pistole in den Sarg.
Dann atmete er tief durch – wie jemand, der nach einer Wanderung auf einer langen, staubigen Straße endlich an einem Rastplatz angekommen war. Anschließend nahm er den Deckel mit beiden Händen und verschloss den Sarg mit einem hörbaren Klicken. Als er sich wieder erhob, schwieg die ganze Gruppe. Selbst Anna lächelte nicht mehr; ihre blauen Augen wirkten ernst und nachdenklich.
»Tja«, sagte James, »das war dann alles.«
»Konstantinopel!« James sah Cordelia erwartungsvoll an.
Sie saßen auf einer gelben Picknickdecke, die sie auf dem grünen Gras des Hyde Park ausgebreitet hatten. In der Ferne schimmerte silbern der Serpentine. Um sie herum waren ihre Freunde dabei, ebenfalls Decken auszurollen und Picknickkörbe daraufzustellen. Matthew tollte mit Oscar im Gras herum, der verzweifelt versuchte, das Gesicht seines Herrchens abzulecken. Cordelia wusste, dass ihre Familien jeden Augenblick eintreffen mussten, doch im Moment waren nur sie hier.
Cordelia ließ sich gegen James sinken. Sie saß zwischen seinen Beinen, und ihr Rücken ruhte an seiner Brust. Er spielte verträumt mit ihren Haaren. Eigentlich hätte sie ihm sagen müssen, dass er dadurch bald alle Nadeln lockern und so eine Frisurkatastrophe auslösen würde, doch sie konnte sich nicht dazu überwinden. »Was ist mit Konstantinopel?«
»Schwer zu glauben, dass wir in vierzehn Tagen dort sein werden.« Er schlang die Arme um sie. »Auf unserer Hochzeitsreise.«
»Wirklich? Mir kommt das alles ziemlich normal vor. So lala.« Cordelia grinste ihn über ihre Schulter hinweg an. In Wahrheit konnte sie es selbst kaum glauben. Sie wachte noch immer jeden Morgen auf und brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie im selben Bett lag wie James. Und dass sie verheiratet war – inzwischen mit allen Ehe-Runen versehen, obwohl Cordelia kaum daran denken konnte, ohne zu erröten.
Sie hatten das Zimmer, das einst James gehört hatte, in einen Planungsraum verwandelt, in dem sie – wie James mit grandioser Geste und einem Bleistift hinter dem Ohr behauptet hatte – ihre nächsten Abenteuer planen wollten. Im Geiste waren sie schon in Konstantinopel und Schanghai und Timbuktu gewesen; jetzt würden sie auch in Wirklichkeit dorthin reisen. Sie wollten gemeinsam die Welt kennenlernen, und zu diesem Zweck hatten sie überall im Raum Landkarten und Zugfahrpläne und die Adressen von Instituten in aller Welt an die Wand gehängt.
»Aber was wird passieren, wenn ihr Kinder bekommt, bei dieser ganzen Herumtreiberei?«, hatte Will in gespielter Verzweiflung genörgelt. Doch James hatte nur gelacht und geantwortet, dass sie ihre Kinder überallhin mitnehmen würden, möglicherweise in speziell angefertigtem Reisegepäck.
»Du bist eine grausame Herrin, Daisy«, sagte James jetzt und küsste sie. Cordelia überlief eine Gänsehaut. Rosamund hatte ihr einmal erzählt, dass ihre Küsse mit Thoby langweilig wären, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr das mit James jemals passieren würde. Sie drängte sich auf der Decke enger an ihn heran, während er mit einer Hand zärtlich ihr Gesicht umfasste …
»Hey!«, rief Alastair gut gelaunt herüber. »Hör sofort auf, meine Schwester zu küssen!«
Cordelia rückte etwas von James ab und lachte. Sie wusste, dass Alastair nur einen Scherz machte. Inzwischen war er ein fester Bestandteil ihres Freundeskreises und fühlte sich wohl genug, um die anderen aufzuziehen. Er würde sich nie wieder fragen müssen, ob er bei einem Treffen in der Devil Tavern willkommen wäre, oder bei einer Party oder einem mitternächtlichen Treffen bei Anna. Die Einstellung der anderen gegenüber ihrem Bruder hatte sich verändert – aber viel wichtiger war, dass er sich verändert hatte. Alastair machte den Eindruck, als wäre er in einem Raum eingesperrt gewesen und als hätte Thomas die Tür zu diesem Raum geöffnet: Er schien sich endlich frei genug zu fühlen, die Liebe und Zuneigung für seine Freunde und Familie offen zu zeigen, die er zuvor immer unterdrückt und versteckt hatte. Sona und Cordelia waren völlig überwältigt von der Aufmerksamkeit, die er seinem neuen kleinen Bruder schenkte. Solange Alastair in seiner Nähe war, musste Zachary Arash nie befürchten, auch nur für eine Sekunde allein gelassen zu werden: Alastair hielt ihn ständig im Arm, warf ihn die Luft und fing seinen fröhlich quietschenden Bruder wieder auf. Und es verging kaum ein Tag, an dem er nicht mit einer Rassel oder einem kleinen Spielzeug zu Hause erschien, um den Kleinen zu unterhalten.
Eines Abends war Cordelia nach dem Abendessen in Cornwall Gardens am Salon ihrer Mutter vorbeigekommen und hatte gesehen, wie Alastair mit dem Baby auf dem Sofa saß: ein Nest aus Decken, aus dem zwei rosa Fäustchen hervorschauten und winkten, während Alastair mit leiser Stimme eine persische Melodie sang, an die Cordelia sich noch erinnern konnte: Du bist der Mond am Himmel, und ich bin der Stern, der um dich kreist.
Dieses Lied hatte ihr Vater ihnen während ihrer Kindheit immer vorgesungen. Seltsam, wie sich manche Kreise schlossen, dachte Cordelia – und vor allem auf eine Art und Weise, wie sie es nie erwartet hätte.
»Blätterteigtörtchen«, sagte Jesse. »Bridget hat sich wieder einmal selbst übertroffen.«
Lucie und er breiteten den Inhalt eines Picknickkorbs von der Größe des Buckingham-Palasts auf einer blau-weiß karierten Decke aus, die Lucie auf dem Gras unter einer Gruppe von Kastanien ausgerollt hatte.
Bridget hatte sich tatsächlich selbst übertroffen. Denn jedes Mal wenn Lucie dachte, dass der Korb leer wäre, holte Jesse eine weitere Köstlichkeit daraus hervor: Schinkensandwiches, kaltes Huhn mit Mayonnaise, Fleischpasteten, Erdbeeren, verschiedene Sorten Blätterteiggebäck, Käse, Trauben, Limonade und Ingwerbier. Seit Bridget sich von ihrer Verletzung in Westminster erholt hatte, war sie unaufhörlich in der Küche aktiv – ehrlich gesagt schien sie mehr Energie zu haben als je zuvor. Die grauen Strähnen waren verschwunden, und wie Will bemerkt hatte, schien sie eher jünger als älter zu werden. Außerdem sang sie jetzt noch mehr – und viel schaurigere – Lieder als zuvor.
»Ich werde ein paar davon verstecken, sonst isst Thomas sie alle«, sagte Jesse und legte einige Törtchen beiseite. Als er sich bewegte, blitzte eine tiefschwarze Rune auf seinem rechten Unterarm auf. Heimat. Dieses Runenmal zählte zu den eher selten genutzten Runen; sie waren mehr symbolischer als praktischer Natur, ähnlich den Runen für Trauer und Glück.
Er hatte es am Tag nach seiner Rückkehr aus Idris erhalten, nach seiner Vernehmung durch das Engelsschwert. Obwohl Tessas und Wills Befragungen – und der Tod von Belial – die meisten Bedenken des Rats bezüglich ihrer Loyalität ausgeräumt hatten, waren die Fragen rund um Jesse und um Lucies Beteiligung an seiner Wiedererweckung unbeantwortet geblieben. Der Rat hatte sie beide nach Idris beordern wollen, doch Jesse hatte darauf bestanden, allein mithilfe des Schwerts verhört zu werden. Er wollte keinen Zweifel daran lassen, dass er Tatianas Sohn war und dass sie ihn in einem Zustand zwischen Leben und Tod gehalten hatte, bis Lucie gehandelt hatte … ein Vorgang, der nichts mit Nekromantie zu tun hatte. Außerdem wollte er sich nicht länger als Jeremy Blackthorn ausgeben, sondern seinen eigenen Namen benutzen und sich den damit verbundenen Konsequenzen stellen.
Und letztendlich – so hatte er gemeint – würde nur eine Vernehmung durch das Engelsschwert ans Licht bringen, wie sehr er sich gegen Belial gewehrt hatte und dass er weder mit ihm noch mit irgendeinem anderen Dämon gemeinsame Sache gemacht hatte. Lucie wusste, dass Jesse außerdem hoffte, mit seiner Aussage nicht nur ihr, sondern auch Grace zu helfen. Und sie war sich sicher, dass ihm das gelungen war – auch wenn sie ihn auf seinen Wunsch hin nicht nach Alicante begleitet hatte, sondern die zwei Tage seiner Abwesenheit dazu genutzt hatte, unter größter Anstrengung eine Novelle mit dem Titel Der heldenhafte Prinz Jethro besiegt den Unheiligen Rat der Dunkelheit fertigzustellen.
Als Jesse aus Idris zurückkehrte, war sein Name von allen Verdächtigungen reingewaschen, und das Gleiche galt auch für Lucie. Er hieß jetzt offiziell Jesse Blackthorn, und er strahlte eine ganz neue Entschlossenheit aus. Jesse war nun Teil der Brigade und konnte sich mit hocherhobenem Kopf unter den Nephilim bewegen – schließlich hatten die meisten ihn in Westminster tapfer kämpfen sehen, und einige wussten sogar, wie sehr er den Schattenjägern geholfen hatte. Er ging auf Patrouille, besuchte Versammlungen, begleitete Lucie zu ihrer Parabatai- Zeremonie mit Cordelia. Die permanente Heimat-Rune hatte er von Will erhalten, der ihm dazu noch eine Stele geschenkt hatte, die einst Wills Vater gehörte (und die genau wie alle anderen Stelen so modifiziert worden war, dass sich damit auch Flammenbotschaften schreiben ließen). Die Rune und die Stele waren beides Geschenke, von denen Lucie hoffte, dass Jesse sie als Willkommensgruß und als Versprechen verstand.
»Du kannst Thomas nicht immer damit aufziehen, dass er ständig hungrig ist, wenn du ständig hungrig bist«, stellte Lucie klar.
»Dafür trainiere ich auch täglich, über Stunden …«, setzte Jesse empört an, hielt dann aber inne und runzelte die Stirn. »Stimmt etwas nicht, Luce?«
»Dort drüben. Auf der Bank«, flüsterte sie.
Sie nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie er ihrem Blick folgte: Entlang eines niedrigen Zauns, unweit der Steinskulptur eines Jungen mit einem Delfin, stand eine Reihe von Parkbänken. Auf einer dieser Bänke saß Malcolm Fade; er trug einen cremefarbenen Leinenanzug und hatte sich einen Strohhut tief in die Stirn gezogen. Dennoch konnte Lucie erkennen, dass er sie unverwandt und intensiv anstarrte.
Ihr drehte sich der Magen um. Sie hatte Malcolm seit der Weihnachtsfeier im Institut nicht mehr gesehen, und es kam ihr vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen.
Er hob die Hand und machte eine Geste in ihre Richtung, als ob er sagen wollte: Komm her und sprich mit mir .
Sie zögerte. »Ich gehe besser hinüber und rede mit ihm.«
Jesse runzelte die Stirn. »Das gefällt mir nicht. Lass mich dich begleiten.«
Ein Teil von Lucie wünschte sich, dass sie Jesse tatsächlich bitten könnte, sie zu begleiten. Sie konnte Malcolms Gesicht nicht genau erkennen, aber sie spürte die Intensität seines Blicks, und sie war sich nicht sicher, ob dieser Blick besonders freundlich war. Andererseits wusste sie genau, dass sie diejenige gewesen war, die sich mit einem Versprechen an Malcolm gebunden hatte. Ein Versprechen, das lange genug nicht eingelöst worden war.
Sie schaute sich um: Keiner ihrer Freunde schien die Anwesenheit des Hexenmeisters bemerkt zu haben. Matthew lag im Gras, das Gesicht der Sonne zugewandt, während Thomas und Alastair mit Oscar Stöckchenwerfen spielten. James und Cordelia hatten nur Augen füreinander, und Anna und Ari waren unten am Flussufer, völlig in ein Gespräch vertieft.
»Es wird schon gut gehen … Du bist ja in Sichtweite. Wenn ich dich brauche, gebe ich dir ein Zeichen«, sagte Lucie, stand auf und küsste Jesse, der noch immer die Stirn runzelte. Dann ging sie über die Wiese auf Malcolm zu.
Während sie sich dem Obersten Hexenmeister näherte, fiel ihr auf, wie sehr er sich seit ihrer letzten Begegnung verändert hatte. Malcolm war immer sehr elegant gewesen und hatte seine Kleidung sorgfältig nach der neuesten Mode und Passform ausgewählt. Aber heute wirkte er deutlich schäbiger. Die Ärmel seines weißen Leinenjacketts hatten Löcher, und an seinen Schuhen klebten Reste von Blüten und Heu.
Vorsichtig setzte Lucie sich auf die Parkbank – nicht zu eng neben Malcolm, aber auch nicht zu weit entfernt, um ihn dadurch möglicherweise zu beleidigen. Dann faltete sie die Hände im Schoß und blickte hinaus auf den Park. Sie konnte ihre Freunde auf ihren leuchtend bunten Picknickdecken sehen und Oscar, der zwischen ihnen wie ein blassgoldener Schemen hin und her schoss. Dagegen beobachtete Jesse sie mit ernster Miene.
»Ein wunderschöner Tag, nicht wahr?«, sagte Malcolm. Seine Stimme klang distanziert. »Als ich London verlassen habe, lagen noch Schnee und Eis auf den Straßen.«
»Das stimmt«, sagte Lucie bedächtig. »Malcolm, wo bist du gewesen? Ich hatte gedacht, wir würden dich nach der Schlacht in Westminster zu sehen bekommen.« Als er darauf nicht antwortete, fuhr sie fort: »Inzwischen sind sechs Monate vergangen, und …«
Die Worte schienen ihn zu überraschen. »Sechs Monate? Ich war im Feenreich. Für mich sind nur ein paar Wochen verstrichen.«
Die Antwort erstaunte Lucie. Sie hatte nur äußerst selten von Hexenwesen gehört, die ins Feenreich reisten. Aber das erklärte das Heu und die Blütenblätter an seinen Schuhen. Sie hätte ihn natürlich nach dem Grund seiner Reise fragen können, doch sie hatte das sichere Gefühl, mit dieser Frage auf Ablehnung zu stoßen. Stattdessen sagte sie: »Malcolm, meine Kräfte sind verschwunden. Das hast du dir wahrscheinlich schon gedacht, oder? Seit Belial tot ist, kann ich die Toten nicht länger befehligen.« Malcolm schwieg. »Es tut mir leid, aber …«
»Ich hatte gehofft«, unterbrach er sie, »dass deine Kraft inzwischen vielleicht zurückgekehrt wäre. Wie eine Verletzung, die ausheilt.« Dabei blickte er noch immer starr auf das Gras vor ihnen, als ob er etwas suchte, es aber nicht finden konnte.
»Nein«, sagte Lucie. »Sie ist nicht zurückgekehrt, und ich glaube auch nicht, dass das je geschehen wird. Diese Kraft war an meinen Großvater gebunden und ist gleichzeitig mit seinem Tod verschwunden.«
»Hast du es denn versucht? Hast du versucht, sie zu benutzen?«
»Ja, das habe ich«, räumte Lucie gedehnt ein. »Jessamine hat mir erlaubt, es mit ihr zu versuchen. Doch es hat nicht funktioniert, und … ich bin froh darüber. Es tut mir sehr leid, dass ich dir nicht helfen kann, aber es tut mir nicht leid, dass ich diese Kraft nicht mehr besitze. Ich hätte Annabel damit ohnehin keinen Gefallen erwiesen. Mir ist bewusst, dass du noch immer um sie trauerst, aber …«
Malcolm warf ihr einen Seitenblick zu – so schnell, dass Lucie die aufflackernde Wut in seinen Augen und den verzerrten Mund nur kurz zu sehen bekam. Er machte den Eindruck, als würde er sie am liebsten schlagen. »Du verstehst gar nichts «, zischte er. »Du bist wie alle anderen Schattenjäger: Wenn ihr einem Schattenweltler ein Versprechen gebt, werdet ihr es unweigerlich brechen.«
Erschüttert fragte Lucie: »Kann ich dir nicht auf andere Weise helfen? Ich könnte versuchen, eine Art Wiedergutmachung vom Rat einzufordern, eine offizielle Entschuldigung für das, was man Annabel angetan hat.«
»Nein.« Malcom sprang förmlich auf die Füße. »Ich werde meine eigene Wiedergutmachung einfordern. Die Nephilim sind für mich nicht länger von Nutzen.« Dann schaute er an Lucie vorbei zu Jesse. Jesse, mit seinem schwarzen Haar und den grünen Augen. Jesse mit seiner Ähnlichkeit zu den Familienporträts in Chiswick House. Dachte Malcolm darüber nach, wie sehr er Annabel ähnelte, wie all seine Vorfahren? Die Miene des Hexenmeisters verriet jedoch nichts – die Wut war daraus verschwunden und einer Art berechnender Gefühllosigkeit gewichen. »Ich werde nie wieder einem Schattenjäger trauen«, sagte er und ging davon, ohne sie noch einmal anzusehen.
Lucie blieb einen Moment reglos auf der Bank sitzen. Sie konnte nichts dagegen tun, sie machte sich Vorwürfe. Niemals hätte sie ein solch törichtes Versprechen abgeben dürfen, hätte niemals sagen sollen, dass sie ihre Kraft einsetzen würde … selbst nach dem, was mit Gast geschehen war. Sie hatte nicht vorgehabt, Malcolm auszunutzen, sondern geplant, ihren Teil der Abmachung einzuhalten, ganz gleich, wie sehr sie es hinterher auch bedauert hätte. Aber sie wusste, dass er ihr das nie glauben würde.
Als Lucie zu ihrer Picknickdecke zurückkehrte, war Jesse aufgestanden und kam ihr entgegen. Mit besorgter Miene ergriff er ihre Hand. »Ich wollte gerade zu euch gehen.«
»Keine Sorge«, sagte Lucie. »Malcolm ist meinetwegen verärgert. Ich habe ihm ein Versprechen gegeben und es nicht gehalten. Und ich fühle mich schrecklich deswegen.«
Jesse schüttelte den Kopf. »Es war nicht deine Schuld. Schließlich wusstest du nicht, dass deine Kraft ausgelöscht werden würde. Letztendlich richtet sich sein Zorn nicht gegen dich, sondern gegen die Dinge, die vor langer Zeit passiert sind. Ich hoffe nur, dass er irgendwann seinen Frieden damit machen kann. Für Annabel lässt sich nichts mehr tun, und das ständige Grübeln über die Vergangenheit wird seine Zukunft vergiften.«
»Seit wann bist du so weise?«, flüsterte Lucie, und Jesse zog sie in seine Arme. Einen Moment standen sie einfach nur da und genossen die Nähe des anderen. Es war ein Wunder, dachte Lucie, dass sie sich an Jesse schmiegen konnte, ohne dabei in diese schreckliche Dunkelheit zu versinken. Außerdem empfand sie es als großen Vorteil, dass sie einander in den Armen halten konnten, ohne ihre Eltern in der Nähe zu wissen, die sie nicht aus den Augen ließen. Obwohl Jesse und sie gemeinsam im Institut lebten, durften sie einander nur dann in ihren Zimmern besuchen, wenn die Zimmertüren dabei geöffnet blieben. Will hatte sich diesbezüglich nicht von Lucies Beschwerden umstimmen lassen. »Ich bin mir sicher, dass Mutter und du … dass ihr alle möglichen skandalösen Dinge getan habt, als ihr gemeinsam im Institut wart«, hatte Lucie gesagt.
»Ganz genau«, hatte Will finster bestätigt.
Tessa hatte nur gelacht und fröhlich verkündet: »Wir können über die Lockerung der Regeln sprechen, sobald ihr verlobt seid.«
Es lag nicht an Jesse, dass sie noch nicht verlobt waren. Lucie hatte ihm gesagt, dass sie heiraten könnten, sobald sie ihren ersten Roman verkauft hatte, und er schien dies ebenfalls für den richtigen Zeitpunkt zu halten. Sie arbeitete gerade daran: Die schöne Cordelia und die geheime Prinzessin Lucie besiegen die wilden Mächte der Dunkelheit.
Jesse hatte vorgeschlagen, den Titel zu kürzen. Lucie hatte geantwortet, dass sie darüber nachdenken wollte; sie begann langsam, den Wert konstruktiver Kritik zu schätzen. Jetzt unterdrückte sie ihr schlechtes Gewissen wegen Malcolm, legte den Kopf in den Nacken und schaute lächelnd zu Jesse hoch.
»Du hast mir einmal gesagt, dass du nicht an ein Ende glaubst – egal ob Happy End oder nicht«, sagte er und legte seine schwielige Hand sanft auf ihren Handrücken. »Gilt das noch immer?«
»Aber natürlich«, versicherte sie. »Es liegt noch so vieles vor uns … Gutes, Schlechtes und alles, was dazwischen kommt. Deswegen glaube ich, dass dies unsere glückliche Mitte ist. Geht es dir nicht auch so?«
Und Jesse küsste sie – was Lucie vertrauensvoll als ein »Ja« interpretierte.
»Ich verstehe nicht, warum dieser Hund eine Medaille erhalten hat«, sagte Alastair, als Oscar ihm ein Stöckchen vor die Füße legte. »Von uns anderen hat niemand eine Medaille bekommen.«
»Na ja, eigentlich ist es keine offizielle Medaille«, meinte Thomas und kniete sich hin, um Oscar über den Kopf zu streichen und mit seinen Ohren zu spielen. »Das ist dir doch bewusst, oder?«
»Die Konsulin hat sie ihm verliehen«, sagte Alastair und kniete sich ebenfalls hin. Dann griff er nach dem kleinen Medaillon an Oscars Halsband. In die Gedenkmünze waren die Worte OSCAR WILDE, HELDENHUND eingraviert. Charlotte hatte das Medaillon Matthew gegeben und gesagt, ihrer Ansicht nach hatte Oscar mindestens genauso viel für die Rettung Londons getan wie jedes menschliche Wesen.
»Das liegt nur daran, dass die Konsulin die Mutter des Hundebesitzers ist«, erklärte Thomas und versuchte vergeblich, Oscar davon abzuhalten, ihm das Gesicht abzulecken.
»Diese Günstlingswirtschaft … einfach widerlich«, sagte Alastair.
Noch vor einem Jahr hätte Thomas angenommen, dass Alastair diese Worte ernst meinte. Doch heute wusste er, dass er einfach nur einen Scherz machte. Ohnehin war Alastair viel kindsköpfiger, als die meisten glaubten. Vor einem Jahr hätte Thomas sich nicht vorstellen können, dass Alastair jemals auf den Knien im Gras herumrutschen und mit einem Hund spielen würde. Oder dass Alastair lächeln würde, ganz zu schweigen davon, dass er ihn anlächelte. Und er hätte sich beim besten Willen nicht ausmalen können, wie es sich anfühlte, Alastair zu küssen.
Inzwischen planten Alastair und er Sonas und Zacharys Umzug nach Cirenworth, und danach würde Thomas zu Alastair nach Cornwall Gardens ziehen. (Thomas erinnerte sich noch daran, wie Alastair ihn gefragt hatte, ob es ihm gefallen würde, wenn sie zusammenzögen. Anscheinend hatte er schreckliche Angst gehabt, dass Thomas den Vorschlag ablehnen würde. Daraufhin hatte Thomas ihn so lange küssen müssen, bis Alastair schließlich atemlos und gegen eine Wand gedrückt dastand. Erst in dem Moment hatte er geglaubt, dass Thomas sein »Ja« auch so gemeint hatte.)
Thomas hatte sich gefragt, ob er sich wegen des Umzugs Sorgen machen sollte, stellte aber fest, dass er bei dem Gedanken eines gemeinsamen Heims mit Alastair nur Vorfreude empfand. (Ganz gleich, wie sehr Cordelia ihn damit aufgezogen hatte, dass Alastair manchmal schnarchte und seine schmutzigen Socken überall herumliegen ließ.) Er war nur nervös gewesen, als er seinen Eltern die Wahrheit über sich selbst und seine Gefühle für Alastair erzählen wollte. Dafür hatte er einen ganz gewöhnlichen Abend im Februar ausgewählt, als alle im Salon versammelt waren: Sophie hatte irgendetwas für Charlotte gestrickt, Gideon hatte einige Unterlagen für den Rat durchgesehen und Eugenia hatte Esme Hardcastles Geschichte der Londoner Schattenjäger gelesen und dabei Tränen gelacht. Alles hatte nach einem ganz gewöhnlichen Abend ausgesehen, bis Thomas sich vor den Kamin gestellt und sich laut geräuspert hatte.
Daraufhin hatten ihn alle angeschaut; Sophies Stricknadeln waren mitten in der Bewegung erstarrt.
»Ich liebe Alastair Carstairs«, hatte Thomas laut und langsam gesagt, um jedes Missverständnis auszuschließen. »Und ich werde den Rest meines Lebens mit ihm verbringen.«
Daraufhin hatte einen Moment lang Schweigen geherrscht.
»Ich dachte immer, du würdest Alastair noch nicht mal mögen «, hatte Gideon schließlich mit verblüffter Miene erwidert. »Zumindest nicht sehr.«
Daraufhin hatte Eugenia ihr Buch auf den Boden geworfen, sich erhoben und ihre Eltern – eigentlich den ganzen Raum und sogar die Katze, die auf dem Fensterbrett schlief – empört gemustert. »Wenn irgendjemand hier Thomas für das verurteilt, was er ist oder wen er liebt«, hatte sie verkündet, »werden er und ich dieses Haus sofort verlassen. Ich werde bei ihm wohnen und mich vom Rest dieser Familie lossagen.«
Thomas fragte sich gerade höchst beunruhigt, wie er Alastair die Tatsache erklären sollte, dass Eugenia bei ihnen wohnen wollte, als Sophie ihre Lesebrille mit einem hörbaren Klicken zusammenklappte.
»Mach dich nicht lächerlich, Eugenia«, sagte sie. »Niemand hier wird Thomas verurteilen .«
Thomas stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, nur Eugenia wirkte ein wenig enttäuscht. »Nein?«
»Nein«, bestätigte Gideon mit fester Stimme.
Sophie schaute Thomas mit großer Zuneigung an. »Thomas, mein Junge, wir lieben dich, und wir wollen, dass du glücklich bist. Wenn Alastair dich glücklich macht, dann erfreut uns das über alle Maßen. Obwohl ich es natürlich gutheißen würde, wenn du ihn uns vorstellst «, fügte sie nachdrücklich hinzu. »Vielleicht könntest du ihn einmal zum Abendessen mitbringen?«
Auch wenn Eugenia vermutlich etwas enttäuscht war – für Thomas galt das ganz und gar nicht. Er hatte immer gewusst, dass seine Eltern ihn liebten. Aber die Gewissheit, dass sie ihn auch liebten, nachdem sie die ganze Wahrheit kannten, fühlte sich an, als hätte ihm jemand eine sehr schwere Last von den Schultern genommen, die er unbewusst über eine lange Zeit mit sich getragen hatte.
Alastair war tatsächlich zum Abendessen erschienen und hatte alle Anwesenden mit seinem Charme bezaubert. Das wiederum hatte zu vielen weiteren Abendessen geführt – mit köstlichen persischen Speisen im Hause der Familie Carstairs – und sogar zu einer Abendeinladung bei den Bridgestocks, bei der alle Familien zusammenkamen. Jetzt, da Maurice ausgezogen war, hatte Flora ihr Vergnügen an Abendgesellschaften wiederentdeckt, und Thomas freute sich sehr darüber, Anna glücklich zu sehen: liebevoll im Umgang mit Ari und so freigiebig mit ihrem Lachen und ihrem Lächeln, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht gewesen war. Sie verabredeten sogar, dass Alastair und er auf Winston den Papagei aufpassen würden, während Ari, Flora und Anna nach Indien reisen wollten. Dort würden sie die Orte besichtigen, an denen Ari als Kind gelebt hatte, und außerdem den Verwandten ihrer Großmutter, ihren Tanten und Onkeln einen Besuch abstatten.
Alastair hatte Winston bereits einige unanständige Worte auf Persisch beigebracht und plante, seine Erziehung in diesem Sinne weiter fortzusetzen. Thomas hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, ihn davon abzuhalten – mittlerweile wusste er, welche Kämpfe es wert waren, ausgefochten zu werden.
Oscar hatte sich inzwischen auf den Rücken gerollt und hechelte; seine rosa Zunge hing ihm aus dem Maul. Nachdenklich kraulte Alastair ihm den Bauch. »Was meinst du, sollen wir Zachary einen Hund schenken? Vielleicht hätte er ja gern einen Hund.«
»Ich denke, wir sollten noch etwa sechs Jahre damit warten«, erwiderte Thomas. »Dann besteht wenigstens die Chance, dass er das Wort ›Hund‹ aussprechen und sein Tier füttern und versorgen kann. Andernfalls wäre es weniger sein Hund als der Hund deiner Mutter, und sie muss sich bereits um ein Baby kümmern.«
Alastair betrachtete Thomas versonnen. Thomas’ Herz machte einen Satz – wie jedes Mal, wenn er Alastairs ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich gerichtet spürte. »Ich schätze, Zachary wird die Aufgabe zufallen, den Familiennamen weiterzuführen«, sagte er. »Jedenfalls höchstwahrscheinlich.«
Thomas wusste, dass Anna und Ari planten, ein Kind zu adoptieren. Schließlich gab es unter den Nephilim immer Kinder, die Adoptiveltern brauchten. Doch er selbst hatte noch nie konkret über Kinder für Alastair und sich nachgedacht, bestenfalls in vagen Zukunftsvorstellungen. Im Moment genügte ihm Zachary völlig. »Hättest du etwas dagegen?«, fragte er.
»Warum sollte ich etwas dagegen haben?«, erwiderte Alastair lächelnd, und seine Zähne blitzten förmlich in seinem sonnengebräunten Gesicht auf. »Mein Thomas«, sagte er und umfasste sein Gesicht mit seinen langen, schlanken, wunderschönen Händen, »ich bin mit allem völlig zufrieden … genau so, wie es ist.«
»James«, sagte Anna resolut, »es ist eines Gentleman entschieden unwürdig, seine Frau in aller Öffentlichkeit derart leidenschaftlich zu küssen. Hör sofort damit auf und hilf mir stattdessen lieber, das Krocketspiel aufzubauen.«
James warf ihr einen trägen Blick zu. Cordelias Frisur hatte sich wie erwartet gelöst, und seine Finger spielten mit den langen dunkelroten Strähnen. »Ich habe nicht die leiseste Idee, wie man Krocket spielt«, sagte er.
»Und ich weiß nur, was ich in Alice im Wunderland darüber gelesen habe«, meinte Cordelia.
»Ah«, sagte James. »Also Flamingos und … Igel?«
Anna stemmte die Hände in die Hüften. »Wir haben Bälle, Schläger und Tore. Alles Weitere müssen wir improvisieren. Entschuldige, Cordelia, aber …«
Cordelia hütete sich, Anna von etwas abbringen zu wollen, das sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Sie winkte James nach, der von Anna mitten auf die Wiese gezogen wurde, wo Ari bereits einem davongerollten, bunten Ball hinterherlief und Grace ein Krockettor in der Hand hielt und es ratlos betrachtete.
Aus dem Augenwinkel nahm sie einen goldenen Schimmer unten am Serpentine wahr. Matthew war zum Ufer gegangen und beobachtete die langsamen Bewegungen des Wassers im Licht der blassen Junisonne. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Cordelia konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie kannte Matthew gut genug, um seine Körpersprache deuten zu können: Sie wusste, dass er an Christopher dachte.
Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Rasch stand sie auf und ging quer über das kurz geschnittene Gras zu Matthew. Enten hackten ungeduldig mit ihren Schnäbeln zwischen den Binsen herum, und Kinderspielzeugboote tanzten fröhlich auf den Wellen. Cordelia spürte, dass Matthew ihre Anwesenheit bemerkt hatte. Er wusste, dass sie neben ihm stand, doch er schwieg. Sie fragte sich, ob der Blick auf den Serpentine ihn an Christopher erinnerte, so wie es bei James der Fall war. James erzählte ihr oft von Träumen, in denen Christopher auf der anderen Seite eines gewaltigen, silberhellen Stroms stand und geduldig darauf wartete, dass seine Freunde sich eines Tages zu ihm gesellten.
»Du wirst uns fehlen«, sagte Cordelia. »Jeder Einzelne von uns wird dich sehr vermissen.«
Matthew hob einen glatten Stein auf und betrachtete ihn; offenbar dachte er darüber nach, ihn über das Wasser hüpfen zu lassen. »Sogar Alastair?«
»Sogar Alastair. Auch wenn er es nie zugeben würde.« Sie hielt einen Moment inne, weil sie sehr gern etwas sagen wollte, sich jedoch nicht sicher war, ob sie es auch sagen sollte. »Irgendwie ist es eigenartig, dass du uns jetzt verlassen willst – gerade wenn es so aussieht, als ob du wieder zu dir selbst gefunden hast. Bitte sag mir, dass … deine Abreise nichts mit mir zu tun hat.«
»Daisy.« Er wandte sich ihr überrascht zu. »Ich bin dir noch immer sehr zugetan. Und ein Teil meines Herzens wird für immer so empfinden, und das weiß James auch. Aber ich freue mich sehr, dass ihr zusammen seid. Die letzten Monate haben mir klargemacht, wie zutiefst unglücklich James gewesen sein muss – und zwar für lange Zeit. Und sein Glück ist auch meines. Du wirst das verstehen; schließlich hast du auch eine Parabatai .«
»Ich denke, das ist auch der Grund dafür, warum James den Gedanken an deine lange Abwesenheit ertragen kann. Er weiß, dass du nicht vor etwas davonläufst , sondern einige großartige Pläne verfolgst«, sagte sie lächelnd.
»Viele großartige Pläne«, bestätigte Matthew und drehte den kleinen Stein zwischen den Fingern hin und her. Es handelte sich um einen ganz gewöhnlichen Flusskiesel, durchsetzt mit etwas Katzengold, das in der Sonne glitzerte. »Als ich noch getrunken habe, war meine Welt winzig klein. Ich konnte mich nie weit von meinem nächsten Glas Alkohol entfernen. Jetzt hat meine Welt wieder ihre frühere Größe. Ich möchte Abenteuer erleben, verrückte, wunderbare, spannende Dinge tun. Und jetzt, da ich frei bin …«
Cordelia fragte nicht, wovon er sich befreit hatte – sie wusste es. Matthew hatte seinen Eltern die Wahrheit erzählt: Was er vor Jahren getan hatte, und weshalb seine Mutter … sie alle so gelitten hatten. Er hatte James zu der Aussprache mitgenommen, und James hatte neben ihm gesessen, während Matthew alles erklärt und dabei kein Detail ausgelassen hatte. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, hatte er vor Angst am ganzen Körper gezittert. Charlotte und Henry hatten fassungslos dagesessen, und einen Moment lang hatte James die schreckliche Befürchtung gehabt, dass er Zeuge des Endes einer Familie werden würde.
Doch dann hatte Charlotte Matthews Hand ergriffen.
»Dem Erzengel sei Dank, dass du es uns erzählt hast«, sagte sie. »Wir haben immer gewusst, dass irgendetwas geschehen sein musste, aber wir wussten nicht, was. Damals haben wir nicht nur dieses Kind verloren, sondern noch ein weiteres – dich. Du hast dich immer weiter von uns entfernt, und wir konnten nichts tun, um dich zurückzuholen.«
»Ihr vergebt mir? Tatsächlich?«, flüsterte Matthew.
»Wir wissen, dass du niemandem etwas antun wolltest«, antwortete Henry. »Und ganz sicher hast du deine Mutter nicht verletzen wollen … Du hast einer schrecklichen Geschichte geglaubt und einen schrecklichen Fehler begangen.«
»Aber es war nur ein Fehler «, beharrte Charlotte. »Es ändert absolut nichts an der Liebe, die wir für dich empfinden. Und es ist wirklich ein Geschenk, dass du uns gerade jetzt davon erzählst, denn …« Charlotte tauschte einen Blick mit Henry, den James nur als »zuckersüß« bezeichnen konnte. »Denn wir haben dir auch etwas mitzuteilen. Matthew: Ich erwarte ein weiteres Kind.«
Matthew hatte sie nur sprachlos angestarrt. Es war ein Tag der ganz großen Enthüllungen gewesen, hatte James später berichtet.
»Du verlässt uns doch nicht wegen eines Babys, oder?«, fragte Cordelia Matthew jetzt mit einem verschmitzten Lächeln.
»Babys« , erinnerte Matthew sie mit düsterem Blick. »Laut den Stillen Brüdern handelt es sich um Zwillinge.« Dann grinste er. »Nein, eigentlich gefällt mir die Vorstellung von kleinen Schwestern oder Brüdern sogar. Bis ich von meiner Reise zurück bin, werden sie fast ein Jahr alt sein und den ersten Anflug einer Persönlichkeit entwickelt haben. Genau der richtige Zeitpunkt, um ihnen beizubringen, dass ihr großer Bruder Matthew die beste und anständigste Person ist, die es gibt.«
»Ah«, sagte Cordelia. »Du bist also fest entschlossen, sie zu bestechen.«
»Ganz genau.« Matthew schaute auf sie herunter; der Wind vom See blies ihm sein hellblondes Haar in die Augen. »Als du nach London kamst«, sagte er, »konnte ich nur daran denken, dass ich deinen Bruder nicht mochte. Und ich bin davon ausgegangen, dass du genauso sein würdest wie er. Aber du hast mich schnell für dich eingenommen: Du warst liebenswürdig und tapfer und hattest viele der Eigenschaften, die ich selbst gern besessen hätte.« Er nahm ihre Hand, doch an dieser Geste war nichts Romantisches. Matthew legte nur den glatten Flusskiesel in ihre Handfläche und schloss ihre Finger darum. »Bis zu jener Nacht, als du die Tollkühnen Gesellen in meiner dunkelsten Stunde zu mir geschickt hast, war mir gar nicht klar, wie sehr ich jemanden in meinem Leben brauchte, der mein wahres Ich sah und mir auch dann Freundlichkeit und Güte geschenkt hat, wenn ich gar nicht darum gebeten – und sie meiner Meinung nach auch nicht verdient – hatte. Wenn ich bald mit Oscar über das weite Meer reise, werde ich jedes Mal, wenn meine Augen ein neues Land erblicken, an dich denken, an deine Freundlichkeit und Güte. Das werde ich immer mit mir tragen … genau wie das Wissen, dass die Geschenke, um die zu bitten wir nicht die Kraft haben, die wertvollsten Geschenke sind.«
Cordelia seufzte. »Ein furchtbar selbstsüchtiger Teil von mir möchte, dass du hier in London bleibst. Aber ich schätze, wir können dich nicht länger für uns behalten, wenn der Rest der Welt sehnsüchtig darauf wartet, im Glanz deiner Anwesenheit zu baden.«
Matthew grinste. »Schmeicheleien – so was wirkt bei mir immer.«
Und während Cordelia den glatten Kiesel fest umklammert hielt, bemerkte sie plötzlich, dass die Distanz, die zwischen ihnen geherrscht hatte, verschwunden war. Auch wenn Matthew ein Jahr auf der anderen Seite der Erde verbringen würde, so würden sie im Geiste nie weit voneinander entfernt sein.
Plötzlich raschelte etwas hinter ihnen: James lief durch das Gras auf sie zu, einen Stapel angesengtes Papier in der Hand. »Ich habe gerade eben die siebte Flammenbotschaft von meinem Vater erhalten«, sagte er anstelle einer Begrüßung und blätterte den Stapel durch. »In dieser hier steht, sie hätten sich verspätet und würden in zehn Minuten eintreffen. Diese hier informiert uns, dass sie in neun Minuten da sein werden. In dieser teilt er mit, es wären noch acht Minuten. Und diese hier …«
»Lässt dich wissen, dass sie noch sieben Minuten brauchen?«, mutmaßte Matthew.
James schüttelte den Kopf. »Nein. Darin fragt er, ob wir auch genug Senf haben.«
»Und was würde er machen, wenn das nicht der Fall wäre?«, fragte Cordelia.
»Das weiß der Erzengel allein«, antwortete James. »Mein Vater wird ganz sicher nicht erfreut sein über all diese Enten.« Er grinste Matthew an, der seinen Blick auf eine Weise erwiderte, in der alles lag, was er an James liebte: dass ihre Freundschaft äußerst kindsköpfig und sehr ernst zugleich sein konnte. Sie lachten miteinander bei Tag und riskierten ihr Leben bei Nacht. Das Schicksal jedes Schattenjägers, dachte Cordelia.
James spähte mit zusammengekniffenen Augen über den Park. »Math, ich glaube, deine Familie ist hier.«
Und tatsächlich: Offenbar waren jetzt endlich auch die anderen eingetroffen. Charlotte, die Henry in seinem Rollstuhl schob, kam über einen der Parkwege auf sie zu.
»Die Pflicht ruft«, sagte Matthew und lief seinen Eltern entgegen. Oscar verließ Thomas und Alastair, schloss sich ihm an und bellte einen Willkommensgruß.
James lächelte Cordelia an – mit jenem wunderbaren, trägen Lächeln, das jedes Mal dafür sorgte, dass ihr ein Schauer den Rücken hinunterlief. Sie drängte sich näher an ihn und ließ den Stein, den Matthew ihr geschenkt hatte, in ihre Tasche gleiten. Einen Moment lang standen sie beide einfach nur da und blickten in einvernehmlichem Schweigen über den Park.
»Das Krocketspiel läuft gut, wie ich sehe«, bemerkte Cordelia schließlich. In Wahrheit hatten Anna, Ari und Grace einen eigentümlichen Turm aus Toren und Krocketschlägern errichtet, der an keine Krocketbahn erinnerte, die sie je gesehen hatte. Sie umstanden die Skulptur und betrachteten sie: Anna schien begeistert, Ari und Grace eher verblüfft. »Ich wusste nicht, dass Grace das Armband begraben wollte«, sagte Cordelia. »Am Herrenhaus. Hatte sie mit dir darüber gesprochen?«
James nickte; seine goldenen Augen wirkten nachdenklich. »Sie hat mich gefragt, ob ich Einwände dagegen hätte, dass sie das Armband begräbt, und ich hatte nichts dagegen. Letztlich ist es ihre eigene Reue, die sie begräbt.«
»Und deinen Kummer«, sagte Cordelia sanft.
Er schaute sie an. Sie entdeckte einen Schmutzfleck auf seiner Wange und einen Grasfleck an seinem Kragen. Und dennoch – als sie ihn ansah, wirkte er noch schöner als damals … als sie ihn für distanziert, unerreichbar und perfekt gehalten hatte. »Ich habe keinen Kummer«, sagte er, nahm ihre Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. »Das Leben ist eine lange Kette von Ereignissen, von Entscheidungen und Möglichkeiten. Als ich mich in dich verliebt habe, hat mich das verändert. Belial konnte das nicht ändern – nichts konnte das ändern. Und alles, was danach geschah … alles, was er mithilfe des Armbands versucht hat, hat meine Gefühle für dich nur verstärkt und uns einander nähergebracht. Es ist ihm und seiner Einmischung zu verdanken, dass wir überhaupt geheiratet haben. Ich liebte dich bereits davor, aber durch unsere Heirat habe ich mich nur noch unausweichlicher in dich verliebt. Nie zuvor war ich so glücklich wie in jenen Momenten, die wir zusammen verbracht haben. Und es war diese Liebe, die mir die Kraft verliehen hat, das Armband zu sprengen und zu erkennen, dass mein eigener Wille stark genug war, um mich gegen Belial aufzulehnen.« Sanft strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, den Blick unverwandt auf ihre Augen gerichtet. »Und deshalb empfinde ich keinen Kummer. Denn alles, was ich durchgemacht habe, hat mich dorthin gebracht, wo ich heute bin. Zu dir. Wir haben die Feuerprobe bestanden … und wir haben uns als pures Gold erwiesen.«
Cordelia stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn rasch auf den Mund. James zog eine Augenbraue hoch. »Ist das alles? Das war immerhin eine wirklich romantische Rede, also hatte ich eine entsprechend leidenschaftliche Reaktion erwartet – oder zumindest, dass du anfängst, meinen Namen in Gänseblümchen am Seeufer zu buchstabieren …«
»Es war eine sehr romantische Rede«, bestätigte Cordelia, »und du kannst mir glauben, dass ich dazu nachher noch einiges zu sagen habe.« Sie lächelte ihn auf diese gewisse Art an, die seine Augen jedes Mal wie Feuer aufflackern ließ. »Aber unsere Familien sind gerade eingetroffen, und falls du nicht gerade planst, deine Leidenschaft vor den Augen unserer Eltern unter Beweis zu stellen, sollten wir damit bis nachher warten, wenn wir wieder zu Hause sind.«
James drehte sich um und sah, dass Cordelia die Wahrheit gesagt hatte. Denn inzwischen waren alle eingetroffen und schlenderten winkend auf den Picknickplatz zu: Will und Tessa, lachend und Seite an Seite mit Magnus Bane. Sona, die Zachary Arash in einem Kinderwagen vor sich her schob und sich mit Flora Bridgestock unterhielt. Gabriel und Cecily, die Alexander an der Hand hielten. Gideon und Sophie, die mit Charlotte, Henry und Matthew sprachen. Thomas, Lucie und Alastair gingen bereits quer über das Gras zu ihren Familien. Jesse war zurückgeblieben und half Grace mit dem Turm aus Krocketutensilien, der umgestürzt war. Und Anna und Ari mussten sich vor Lachen gegenseitig stützen, während Krocketbälle in alle Richtungen rollten.
»Wenn wir wieder zu Hause sind?«, wiederholte James leise. »Hier stehen wir, umgeben von allen, die wir lieben, und allen, die uns lieben. Wir sind zu Hause.«
Alastair hatte seinen kleinen Bruder aus dem Kinderwagen gehoben und winkte Cordelia zu, mit Zachary auf dem Arm. Matthew, der gerade mit Eugenia sprach, lächelte, und Lucie machte eine auffordernde Geste in James’ und Cordelias Richtung, als ob sie sagen wollte: Worauf wartet ihr noch? Kommt her!
Cordelias Herz war so randvoll vor Glück, dass sie nicht sprechen konnte. Wortlos ergriff sie die Hand ihres Ehemanns.
Und dann rannte sie los – mit James an ihrer Seite.