»Winstead, du verdammter Betrüger!«
Daniel Smythe-Smith blinzelte. Er war leicht angetrunken, aber er glaubte gehört zu haben, dass ihn eben jemand beschuldigt hatte, beim Kartenspielen zu betrügen. Er hatte einen Augenblick gebraucht, um zu begreifen, dass er gemeint war, schließlich trug er den Titel Earl of Winstead erst seit knapp einem Jahr, und es kam immer noch vor, dass er nicht reagierte, wenn ihn jemand damit ansprach.
Aber nein, er war Winstead, beziehungsweise Winstead war er, und …
Er neigte den Kopf, wiegte ihn hin und her. Worum ging es gerade noch?
Ach ja. »Nein«, sagte er langsam, immer noch recht verwirrt von der ganzen Angelegenheit. Er hob eine Hand, um Widerspruch einzulegen, denn er war sich ganz sicher, dass er nicht betrogen hatte. Er musste zugeben, das war nach dieser letzten Flasche Wein das Einzige, dessen er sich noch ganz sicher war. Aber er war nicht in der Lage, sich noch weiter zu äußern. Tatsächlich war es ihm gerade noch möglich, aus dem Weg zu springen, als der Tisch krachend auf ihn zukam.
Der Tisch? Herr im Himmel, wie betrunken war er denn?
Aber der Tisch stand nun schräg, und die Karten lagen auf dem Boden, und Hugh Prentice schrie wie ein Verrückter auf ihn ein.
Hugh schien auch betrunken zu sein.
»Ich habe nicht betrogen«, sagte Daniel. Er zog die Brauen zusammen und blinzelte, als könnte er auf diese Weise den Schleier der Betrunkenheit lüften, der alles, nun ja, verschleierte. Er sah zu Marcus Holroyd hinüber, seinem besten Freund, und schüttelte den Kopf. »Ich betrüge doch nicht.«
Jeder wusste, dass er nicht betrog.
Doch Hugh war offenbar verrückt geworden, und Daniel konnte ihn nur anstarren, wie er wütete, mit den Armen um sich schlug, lauthals herumbrüllte. Irgendwie erinnerte er Daniel an einen Schimpansen. Ohne Fell.
»Was hat er bloß?«, fragte er in die Runde.
»Dieses Ass kann er unmöglich gehabt haben«, schimpfte Hugh. Er kam auf Daniel zugestürmt, einen Arm schwenkend zur Anklage erhoben. »Dieses Ass hätte dort … dort …«, er wedelte vage in die Richtung, wo vor Kurzem noch der Tisch gestanden hatte. »Na, du hättest es jedenfalls nicht haben dürfen«, murrte er.
»Aber ich hatte es«, erklärte Daniel. Nicht zornig, nicht einmal abwehrend. Nur ganz nüchtern, mit einem »Was soll ich denn noch dazu sagen«-Schulterzucken.
»Das konntest du aber nicht«, schoss Hugh zurück. »Ich kenne doch meine Karten.«
Das stimmte allerdings. Hugh kannte seine Karten. Sein Verstand war in dieser Hinsicht außergewöhnlich scharf. Kopfrechnen konnte er auch. Komplizierte Rechnungen, mit Zahlen, die mehr als dreistellig waren, komplett mit Übertrag und eins gemerkt und all dem Kram, der ihnen in der Schule eingebläut worden war.
Im Nachhinein betrachtet, hätte Daniel ihn vermutlich besser nicht zu einem Spiel auffordern sollen. Aber auf Plaudereien hatte er keine Lust gehabt, und er hatte ehrlich damit gerechnet zu verlieren.
Niemand besiegte Hugh Prentice beim Kartenspielen.
Außer anscheinend er.
»Bemerkenswert«, murmelte Daniel und blickte auf die Karten hinunter. Auch wenn sie jetzt über den ganzen Boden verteilt lagen, wusste er ganz genau, was er auf der Hand gehabt hatte. Er war genauso überrascht gewesen wie die anderen, als sich seine Karten als das Siegerblatt herausstellten. »Ich habe gewonnen«, verkündete er, obwohl er das Gefühl hatte, dass er das wohl schon gesagt hatte. Er wandte sich an Marcus. »Kannst du das glauben?«
»Hörst du überhaupt zu?«, zischte Marcus. Er klatschte vor Daniels Gesicht in die Hände. »Wach auf!«
Daniels Miene wurde finster, er krauste die Nase, als es in seinen Ohren zu klingeln begann. Also wirklich, das wäre jetzt wirklich nicht nötig gewesen. »Ich bin wach«, sagte er.
»Ich will Satisfaktion«, knurrte Hugh.
Daniel betrachtete ihn verwundert. »Was?«
»Nenne deine Sekundanten.«
»Willst du mich zu einem Duell fordern?« Denn genau danach hörte es sich an. Allerdings war er ja auch betrunken. Und sein Verdacht, dass Prentice auch nicht mehr nüchtern war, erhärtete sich.
»Daniel!« Marcus stöhnte.
Daniel drehte sich um. »Ich glaube, er fordert mich zum Duell.«
»Daniel, halt die Klappe !«
»Pfff.« Daniel winkte ab. Er liebte Marcus zwar wie einen Bruder, aber manchmal konnte er äußerst schwerfällig sein. »Hugh«, sagte Daniel zu dem zornbebenden Mann vor sich, »sei doch kein Trottel.«
Hugh stürzte sich auf ihn.
Daniel machte einen Satz zur Seite, aber nicht schnell genug, und im nächsten Augenblick gingen beide zu Boden. Daniel war zwar gut zehn Pfund schwerer als Hugh, doch Hugh war wütend, während Daniel nur durcheinander war, und so konnte Hugh mindestens vier Hiebe landen, ehe Daniel überhaupt zuschlagen konnte.
Und selbst der Schlag war kein Treffer, weil Marcus und ein paar andere sich zwischen die Streithähne warfen und sie voneinander trennten.
»Du bist ein verdammter Betrüger«, keuchte Hugh und versuchte sich von den beiden Männern loszureißen, die ihn festhielten.
»Und du bist ein Idiot.«
Hugh verengte seine Augen zu zwei schmalen Schlitzen. »Ich fordere Satisfaktion.«
»Vergiss es«, fuhr Daniel ihn an. An irgendeinem Punkt – möglicherweise in dem Moment, als Hugh ihm den Fausthieb ans Kinn verpasste – hatte sich Daniels Verwirrung in glühenden Zorn verwandelt. »Jetzt verlange ich Satisfaktion.«
Marcus stöhnte wieder auf.
»Auf dem kleinen Rasen?«, fragte Hugh kühl, wobei er die versteckte Wiese im Hyde Park meinte, wo Gentlemen ihre Differenzen austrugen.
Daniel sah ihm in die Augen. »Im Morgengrauen.«
Gespanntes Schweigen breitete sich im Raum aus, jeder wartete darauf, dass die beiden wieder zur Vernunft kamen.
Aber sie kamen nicht wieder zur Vernunft. Natürlich nicht.
Hugh nickte grimmig. »Einverstanden.«
»Ach, verflucht«, ächzte Daniel, »mir dröhnt der Schädel.«
»Tatsächlich?«, entgegnete Marcus ironisch. »Woher das wohl kommen mag?«
Daniel schluckte und rieb sich das heile Auge. Das, das Hugh ihm am Vorabend nicht blau geschlagen hatte. »Ironie passt nicht zu dir.«
Marcus ignorierte ihn. »Du kannst der Sache immer noch Einhalt gebieten.«
Daniel sah sich um, schaute auf die Bäume, die die Lichtung umgaben, betrachtete das leuchtend grüne Gras, das sich ringsum erstreckte, von ihm bis zu Hugh Prentice und dem Mann neben ihm, der die Pistole untersuchte. Die Sonne war eben erst aufgegangen, und überall hing noch der Morgentau. »Dafür ist es jetzt ein wenig spät, meinst du nicht?«
»Daniel, das ist doch Unfug. Was fällt dir ein, hier mit Pistolen zu hantieren? Wahrscheinlich bist du noch betrunken von letzter Nacht.« Besorgt sah Marcus zu Hugh hinüber. »Und er auch.«
»Er hat mich einen Betrüger genannt.«
»Das ist doch nicht wert, dafür zu sterben.«
Daniel rollte mit den Augen. »Ach, nun mach mal einen Punkt, Marcus. Er bringt mich doch nicht um.«
Wieder blickte Marcus zu Hugh hinüber. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«
Daniel tat diese Bemerkung mit einem weiteren Augenrollen ab. »Er schießt in die Luft.«
Marcus schüttelte den Kopf und trat in die Mitte der Lichtung, um sich dort mit Hughs Sekundanten zu beraten. Daniel beobachtete, wie sie die Pistolen kontrollierten und mit dem Wundarzt sprachen.
Wer zum Kuckuck war auf die Idee verfallen, einen Wundarzt mitzubringen? Bei derartigen Veranstaltungen wurde normalerweise niemand verletzt.
Marcus kehrte mit düsterer Miene zurück und reichte Daniel die Pistole. »Bring dich nach Möglichkeit nicht damit um«, brummte er. »Oder ihn.«
»In Ordnung«, meinte Daniel gerade sorglos genug, um Marcus bis aufs Blut zu reizen. Er zielte, hob den Arm und wartete darauf, dass bis drei gezählt wurde.
Eins.
Zwei.
Dr…
»Verdammt und zugenäht, du hast mich angeschossen!«, schrie Daniel und sah Hugh voll Wut und Entsetzen an. Dann blickte er auf seine Schulter hinab, aus der nun Blut quoll. Es war nur eine Muskelwunde, aber lieber Gott, sie tat furchtbar weh. Und es hatte ihn an dem Arm erwischt, mit dem er die Pistole führte. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, schrie er.
Hugh stand einfach nur wie ein Trottel da und starrte ihn an, als wäre ihm bisher nicht klar gewesen, dass eine Kugel blutige Folgen haben konnte.
»Du Idiot!«, sagte Daniel, hob erneut die Pistole, um den Schuss zu erwidern. Er zielte ein Stück daneben – dort stand ein schöner, dicker Baum, der eine Kugel vertragen konnte –, doch dann kam der Wundarzt herbeigeeilt, brabbelte dabei irgendetwas, und als Daniel sich ihm zuwandte, geriet er auf einer feuchten Stelle ins Straucheln, sein Finger schloss sich um den Abzug, und der Schuss löste sich, ohne dass Daniel es beabsichtigt hätte.
Zum Henker , tat der Rückschlag weh. Dummer …
Hugh schrie.
Daniel wurde eiskalt, und mit wachsendem Entsetzen blickte er auf die Stelle, wo Hugh eben noch gestanden hatte.
»Oh Gott.«
Marcus rannte schon hinüber, ebenso der Wundarzt. Überall war Blut, so viel, dass Daniel sehen konnte, wie es sich im Gras ausbreitete, sogar von der anderen Seite der Lichtung aus. Die Pistole glitt ihm aus der Hand, und wie in Trance tat er einen Schritt nach vorn.
Lieber Himmel, hatte er gerade einen Menschen umgebracht?
»Meine Tasche!«, schrie der Wundarzt, und Daniel machte noch einen Schritt vorwärts. Was sollte er nur tun? Helfen? Das tat Marcus schon, zusammen mit Hughs Sekundanten, und außerdem, hatte er Hugh nicht eben erschossen?
Wurde das von einem Gentleman erwartet? Einem Mann zu helfen, nachdem er ihn mit einer Kugel durchlöchert hatte?
»Halt durch, Prentice«, flehte jemand, und Daniel machte noch einen Schritt und noch einen, bis ihm der metallische Geruch von Blut in die Nase stieg – er spürte, wie ihm die Knie weich wurden.
»Binden Sie das ganz fest«, sagte jemand.
»Er wird das Bein verlieren.«
»Besser das Bein als das Leben.«
»Wir müssen die Blutung stoppen.«
»Drücken Sie fester!«
»Nicht einschlafen, Hugh!«
»Er blutet immer noch!«
Daniel hörte zu. Er wusste nicht, wer was sagte, und es spielte auch keine Rolle. Hugh lag im Sterben, mitten auf dem Gras, und er, Daniel, war dafür verantwortlich.
Es war ein Unfall gewesen. Hugh hatte ihn getroffen. Und das Gras war nass gewesen.
Er war ausgerutscht. Lieber Gott, wussten sie überhaupt, dass er ausgerutscht war?
»Ich … ich …« Er versuchte etwas zu sagen, aber ihm fehlten die Worte, und Marcus war ohnehin der Einzige, der ihn hörte.
»Du hältst dich besser im Hintergrund«, sagte Marcus ernst.
»Ist er …« Daniel wollte die einzig bedeutsame Frage stellen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt.
Und dann fiel er in Ohnmacht.
Als Daniel zu sich kam, lag er in Marcus’ Bett, den schmerzenden Arm bandagiert. Marcus saß neben dem Bett auf einem Stuhl und starrte aus dem Fenster, das von der Mittagssonne hell erleuchtet war. Als er Daniel stöhnen hörte, wandte er sich zu seinem Freund um.
»Hugh?«, fragte Daniel heiser.
»Er lebt. Ich weiß allerdings nicht, ob ich da ganz auf dem Laufenden bin.«
Daniel schloss die Augen. »Was habe ich getan?«, flüsterte er.
»Sein Bein ist völlig hinüber«, sagte Marcus. »Du hast eine Arterie getroffen.«
»Das wollte ich doch nicht.« Es klang erbärmlich, doch es entsprach der Wahrheit.
»Ich weiß.« Marcus drehte sich wieder zum Fenster. »Du bist ein lausiger Schütze.«
»Ich bin ausgerutscht. Es war nass.« Er wusste nicht, warum er das überhaupt sagte. Es spielte keine Rolle. Nicht, wenn Hugh starb.
Himmel, sie waren doch Freunde. Das war das Idiotische an der ganzen Sache. Sie waren Freunde, er und Hugh. Sie kannten sich schon seit Jahren, seit ihrem ersten Jahr in Eton.
Aber er hatte getrunken, Hugh hatte getrunken, alle hatten sie getrunken, bis auf Marcus, der nach dem ersten Glas aufgehört hatte.
»Wie geht es deinem Arm?«, erkundigte sich Marcus.
»Er tut weh.«
Marcus nickte.
»Das ist gut, dass er wehtut«, sagte Daniel und senkte den Blick.
Vermutlich nickte Marcus auch dazu.
»Weiß es meine Familie schon?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Marcus. »Wenn nicht, so werden sie es bald erfahren.«
Daniel schluckte. Was auch passierte, er war nun ein Ausgestoßener, und das würde sich auch auf seine Familie auswirken. Seine älteren Schwestern waren verheiratet, doch Honoria war eben erst in die Gesellschaft eingeführt worden. Wer würde sie jetzt noch nehmen?
Und er wollte nicht einmal darüber nachdenken, was das für seine Mutter bedeutete.
»Ich werde das Land verlassen müssen«, sagte Daniel ausdruckslos.
»Noch ist er nicht tot.«
Daniel musterte den Freund erstaunt, konnte diese schlichte Direktheit gar nicht fassen.
»Wenn er es überlebt, brauchst du das Land nicht zu verlassen«, meinte Marcus.
Das stimmte, aber Daniel konnte sich nicht vorstellen, dass Hugh durchkam. Er hatte das Blut gesehen. Er hatte die Wunde gesehen. Verdammt, er hatte sogar den Knochen gesehen, so tief war der Schuss eingedrungen.
Eine solche Verletzung überstand niemand. Wenn ihn der Blutverlust nicht umgebracht hatte, würde ihn der Wundbrand erledigen.
»Ich sollte zu ihm gehen«, entschied Daniel schließlich und richtete sich auf. Er schwang die Beine über den Bettrand und wollte gerade aufstehen, als Marcus ihn zurückhielt.
»Das ist keine gute Idee«, warnte Marcus ihn.
»Ich muss ihm sagen, dass ich es nicht absichtlich getan habe.«
Marcus zog die Augenbrauen hoch. »Ich glaube nicht, dass das noch eine Rolle spielt.«
»Für mich schon.«
»Gut möglich, dass der Friedensrichter dort ist.«
»Wenn der Friedensrichter hinter mir her wäre, wäre er hier längst aufgekreuzt.«
Marcus dachte einen Moment nach, trat schließlich zur Seite und sagte: »Da hast du recht.« Er streckte einen Arm aus, und Daniel ergriff ihn, um sich daran festzuhalten.
»Ich habe Karten gespielt«, erklärte Daniel mit hohler Stimme, »wie es sich für einen Gentleman gehört. Und als er mich einen Betrüger nannte, habe ich ihn gefordert, ebenfalls, wie es sich für einen Gentleman gehört.«
»Geh nicht so streng mit dir ins Gericht«, sagte Marcus.
»Nein«, widersprach Daniel langsam. Er würde es zu Ende führen. Ein paar Dinge mussten einfach geklärt werden. Mit blitzenden Augen sah er Marcus an. »Ich habe danebengeschossen, wie es üblich ist unter Ehrenmännern«, rief er aufgebracht »Und ich habe mein Ziel verfehlt. Ich habe mein Ziel verfehlt und ihn getroffen, und jetzt mache ich das, was ein Mann tun muss, ich gehe zu ihm und sage ihm, dass es mir leidtut.«
»Ich begleite dich.« Marcus straffte die Schultern. Mehr gab es nicht zu sagen.
Hugh war der zweite Sohn des Marquess of Ramsgate, und er war ins Haus seines Vaters in St. James gebracht worden. Daniel hatte schnell herausgefunden, dass er dort nicht willkommen war.
»Sie!«, donnerte Lord Ramsgate und deutete mit ausgestrecktem Arm auf Daniel, als stünde der Teufel höchstpersönlich in der Halle seines vornehmen Hauses. »Wie können Sie es wagen, sich hier blicken zu lassen?«
Daniel blieb vollkommen ruhig. Ramsgate hatte alles Recht der Welt, zornig zu sein. Er hatte Furchtbares durchlitten. Er trauerte. »Ich bin gekomm…«
»Um Ihr Beileid zu bekunden?«, unterbrach ihn Lord Ramsgate höhnisch. »Bestimmt ist Ihnen die Nachricht nicht willkommen, dass es dafür noch ein wenig früh ist.«
Daniel verspürte einen Funken Hoffnung. »Dann ist er noch am Leben?«
»Kaum.«
»Ich möchte mich gern entschuldigen«, sagte Daniel steif.
Ramsgate riss die Augen auf. »Entschuldigen? Wahrhaftig? Sie glauben, eine Entschuldigung könnte Sie vor dem Galgen bewahren, wenn mein Sohn tot ist?«
»Deswegen habe ich nicht …«
»Ich sorge dafür, dass Sie am Galgen enden! Glauben Sie bloß nicht, dass ich dazu nicht imstande bin.«
Daniel bezweifelte es keine Sekunde.
»Hugh war derjenige, der die Forderung ausgesprochen hat«, sagte Marcus ruhig.
»Mir doch egal, wer damit angefangen hat«, herrschte Ramsgate ihn an. »Mein Sohn hat sich richtig verhalten. Er hat danebengeschossen. Aber Sie …« Er wirbelte zu Daniel herum und goss all sein Gift und seine Trauer über ihm aus. »Sie haben ihn angeschossen. Warum haben Sie das getan?«
»Es lag nicht in meiner Absicht.«
Einen Augenblick konnte Ramsgate ihn nur anstarren. »Es lag nicht in Ihrer Absicht. Das soll Ihre Entschuldigung sein?«
Daniel schwieg. Die Erklärung klang auch in seinen Ohren schwach. Aber es war die Wahrheit. Und es war schrecklich.
Er sah zu Marcus, hoffte auf irgendeinen stillen Rat, etwas, das ihm verriet, was er sagen oder tun sollte. Doch Marcus wirkte ebenfalls verloren. Vermutlich hätten sie sich noch einmal entschuldigt und wären dann gegangen, wenn nicht in diesem Augenblick der Butler eingetreten wäre mit der Nachricht, der Arzt habe soeben Hughs Krankenzimmer verlassen und wünsche, den Hausherrn zu sprechen.
»Wie geht es ihm?«, fragte Ramsgate scharf, nachdem der Arzt erschienen war.
»Er wird es überleben«, erklärte der Arzt, »vorausgesetzt, er holt sich keinen Wundbrand.«
»Und das Bein?«
»Er wird es behalten. Aber auch das nur, wenn sich die Wunde nicht entzündet. Aber ein Hinken wird wohl zurückbleiben, möglich, dass er lahm sein wird. Der Knochen ist zersplittert. Ich habe ihn gerichtet, so gut ich konnte …« Der Arzt zuckte mit den Achseln. »Aber Wunder kann auch ich keine vollbringen.«
»Wann kann man sicher sagen, dass die Gefahr einer Entzündung vorüber ist?«, fragte Daniel. Er musste es einfach wissen.
Der Arzt blickte ihn misstrauisch an. »Wer sind Sie?«
»Der Verrückte, der meinen Sohn angeschossen hat«, zischte Ramsgate.
Der Arzt fuhr zusammen, vor Überraschung und dann noch einmal vor Schreck, als Ramsgate durch den Raum marschiert kam. Unmittelbar vor Daniel blieb der Marquess stehen. »Sie werden für das bezahlen, was Sie meinem Sohn angetan haben. Selbst wenn er es überlebt, ist er am Ende. Sein Bein ist kaputt, sein ganzes Leben ist ruiniert.«
Daniel wurde immer unwohler zumute. Ihm war klar, dass Ramsgate überfordert war, dazu hatte er auch allen Anlass. Aber seine Reaktion ging darüber weit hinaus. Der Marquess wirkte völlig außer sich, fast wie besessen.
»Wenn er stirbt«, schrie Ramsgate, »wandern Sie an den Galgen. Und wenn er nicht stirbt, wenn Sie dem Gesetz irgendwie entkommen können, werde ich Sie töten.«
Sie standen jetzt so dicht voreinander, dass Daniel die Speicheltropfen abbekam, die Ramsgate mit jedem Wort versprühte. Und als Daniel in die glitzernden grünen Augen des älteren Mannes blickte, wusste er, was es hieß, nackte Angst zu verspüren.
Lord Ramsgate würde ihn umbringen. Es war nur eine Frage der Zeit.
»Sir«, begann Daniel, denn irgendetwas musste er ja von sich geben. Er konnte das alles nicht einfach schweigend hinnehmen. »Ich muss Ihnen sagen …«
»Nein, ich sage Ihnen etwas«, schnauzte Ramsgate ihn an. »Mir ist gleich, wer Sie sind oder welchen Titel Ihr gottverlassener Vater Ihnen vererbt hat. Sie werden sterben. Haben Sie mich verstanden?«
»Ich glaube, wir sollten aufbrechen«, mischte Marcus sich ein. Er schob einen Arm zwischen die beiden Männer und vergrößerte den Abstand zwischen ihnen. »Doktor«, sagte er und nickte dem Arzt zu, während er Daniel an ihm vorbeiführte. »Lord Ramsgate.«
»Ihre Tage sind gezählt, Winstead«, sagte Lord Ramsgate. »Beziehungsweise Ihre Stunden.«
»Mylord«, sagte Daniel noch einmal in dem Versuch, dem älteren Mann Respekt zu erweisen. Er wollte doch alles in Ordnung bringen. Er musste alles dafür tun. »Ich möchte, dass Sie wissen …«
»Sprechen Sie nicht mit mir«, unterbrach Ramsgate ihn. »Nichts, was Sie sagen, könnte Sie jetzt noch retten. Es gibt keinen Ort, an dem Sie vor mir sicher sein werden.«
»Wenn Sie ihn töten, enden Sie ebenfalls am Galgen«, gab Marcus zu bedenken. »Und wenn Hugh überlebt, wird er Sie brauchen.«
Ramsgate betrachtete Marcus, als wäre er ein Idiot. »Sie meinen, ich würde mir selbst die Hände schmutzig machen? Eine solche Aufgabe lässt sich ganz leicht übertragen. Ein Leben ist nicht viel wert.« Er nickte zu Daniel hinüber. »Ihn töten zu lassen, wird nicht viel kosten.«
»Ich sollte langsam aufbrechen«, sagte der Arzt. Und entfloh.
»Denken Sie daran, Winstead«, meinte Lord Ramsgate und warf Daniel einen giftigen, abschätzigen Blick zu. »Sie können weglaufen, Sie können versuchen, sich zu verstecken, doch meine Männer werden Sie finden. Und da Sie sie nicht kennen, werden Sie Ihr Ende auch nicht kommen sehen.«
Diese Worte verfolgten Daniel die nächsten drei Jahre. Von England nach Frankreich, von Frankreich nach Preußen, von Preußen nach Italien. Er hörte sie im Traum, im Rauschen der Bäume und in jedem Schritt, der hinter ihm ertönte. Er gewöhnte sich daran, immer mit dem Rücken zur Wand zu stehen, niemandem zu trauen, nicht einmal den Frauen, mit denen er sich hin und wieder vergnügte. Und er akzeptierte die Tatsache, dass er nie wieder einen Fuß auf englischen Boden setzen oder seine Familie wiedersehen würde, bis zu seiner Überraschung eines Tages Hugh in einem kleinen italienischen Dorf auf ihn zugehinkt kam.
Er wusste, dass Hugh überlebt hatte. Ab und zu hatte Daniel Briefe von zu Hause erhalten. Aber er hatte nicht erwartet, ihn wiederzusehen, vor allem nicht hier, wo die Mittelmeersonne heiß auf den alten Marktplatz hinabbrannte und die Arrivedercis und Buon giornos durch die Luft hallten.
»Ich habe dich gefunden«, sagte Hugh. Er gab ihm die Hand. »Tut mir leid.«
Und dann sagte er die Worte, von denen Daniel geglaubt hatte, er würde sie nie hören:
»Du kannst jetzt nach Hause kommen. Versprochen.«