Für eine Dame, die sich die letzten acht Jahre darum bemüht hatte, nicht aufzufallen, befand sich Anne Wynter in einer recht misslichen Lage.
In etwa einer Minute war es so weit: Sie musste auf einer behelfsmäßigen Bühne erscheinen, vor mindestens achtzig Mitgliedern der Crème de la Crème der Londoner Gesellschaft knicksen, sich ans Pianoforte setzen und spielen.
Dass sie die Bühne mit drei weiteren jungen Damen teilen sollte, war ein kleiner Trost. Die anderen Musikerinnen – Mitglieder des berüchtigten Smythe-Smith-Quartetts – spielten Saiteninstrumente, mussten dem Publikum also direkt gegenübertreten. Anne konnte sich zumindest tief über ihre elfenbeinernen Tasten beugen. Mit etwas Glück würden sich die Zuhörer so sehr in die schreckliche Musik vertiefen, dass sie die dunkelhaarige Frau gar nicht beachten würden, die in letzter Minute den Platz der Pianistin eingenommen hatte. Die Pianistin war (wie es deren Mutter jedem mitteilte, der ihr zuhörte) furchtbar – nein, höchst bedrohlich – erkrankt.
Anne glaubte keinen Augenblick, dass Lady Sarah Pleinsworth krank war, aber es gab nichts, was sie deswegen hätte tun können, nicht wenn sie ihre Stellung als Gouvernante von Lady Sarahs drei jüngeren Schwestern behalten wollte.
Lady Sarah hatte ihre Mutter jedoch überzeugen können, und diese hatte entschieden, dass die Vorstellung keinesfalls ausfallen sollte. Und nachdem sie einen erstaunlich detaillierten Abriss der siebzehnjährigen Historie der Smythe-Smith’schen musikalischen Soiree abgeliefert hatte, hatte sie erklärt, dass Anne den Platz ihrer Tochter übernehmen würde.
»Sie haben mir einmal erzählt, dass Sie Mozarts erstes Klavierkonzert bereits in Auszügen gespielt haben«, hatte Lady Pleinsworth sie erinnert.
Das bedauerte Anne nun zutiefst.
Es schien vollkommen unwichtig zu sein, dass Anne das fragliche Stück in den letzten acht Jahren kein einziges Mal mehr gespielt hatte und noch nie zur Gänze. Lady Pleinsworth war taub für jegliche Einwände gewesen, und so war Anne schließlich zu Lady Pleinsworths Schwägerin gefahren worden, wo das Konzert stattfinden sollte. Sie hatte acht Stunden zum Üben gehabt.
Es war absurd.
Der einzige Trost bestand darin, dass das übrige Quartett so miserabel spielte, dass Annes Fehler kaum auffielen, wie sie erleichtert während der Proben hatte feststellen können. Ihr erklärtes Ziel für diesen Abend lautete, nicht aufzufallen. Denn das wollte sie wirklich nicht. Auffallen. Aus einer ganzen Reihe von Gründen.
»Gleich ist es so weit«, flüsterte Daisy Smythe-Smith aufgeregt.
Anne lächelte ihr zu. Daisy war anscheinend nicht klar, dass sie lausig spielte.
»Was für eine Freude«, sagte Daisys Schwester Iris mit ausdrucksloser, matter Stimme. Sie wusste Bescheid.
»Kommt schon«, sagte Lady Honoria Smythe-Smith, ihre Cousine. »Es wird ganz wunderbar sein. Wir sind eine Familie.«
»Na, sie gehört aber nicht dazu«, meinte Daisy und nickte zu Anne hinüber.
»Heute Abend schon«, entgegnete Honoria. »Noch einmal vielen Dank, Miss Wynter. Sie sind wirklich unsere Rettung.«
Anne murmelte etwas Unverständliches, da sie sich wirklich nicht dazu durchringen konnte, den anderen zu versichern, es mache ihr keinerlei Umstände oder es sei ihr gar ein Vergnügen. Sie mochte Lady Honoria recht gern. Im Gegensatz zu Daisy war ihr durchaus bewusst, wie schlecht sie spielten, doch anders als Iris wollte sie trotzdem auftreten. Honoria beharrte darauf, dass es nur um die Familie gehe. Um die Familie und um die Tradition. Siebzehn Konzerte des Smythe-Smith-Quartetts waren bereits gegeben worden, und wenn Honoria es entscheiden könnte, würden ihnen siebzehn nachfolgen. Wie ihre Musik klang, war vollkommen nebensächlich.
Iris stöhnte lustlos.
Honoria stupste ihre Cousine mit dem Geigenbogen an. »Familie und Tradition«, mahnte sie Iris. »Darum geht es.«
Familie und Tradition. Dagegen hatte Anne nichts einzuwenden. Obwohl ihre Erfahrungen diesbezüglich alles andere als erfreulich waren.
»Kannst du etwas sehen?«, erkundigte sich Daisy bei Honoria. Sie hüpfte von einem Fuß auf den anderen, wie eine überdrehte Elster, und Anne war schon zwei Mal zurückgewichen, um ihre Zehen in Sicherheit zu bringen.
Honoria, die näher zur Bühne stand als die anderen, nickte. »Ich sehe ein paar leere Plätze, aber nicht viele.«
Iris stöhnte wieder.
»Ist es immer so?«, konnte Anne sich nicht verkneifen zu fragen.
»Wie?« Honoria sah sie offen und freundlich an.
»Nun ja, ähm …« Manche Dinge konnte man zu den Nichten seiner Dienstherrin einfach nicht sagen. Zum Beispiel verbreitete man sich nicht über die mangelhaften musikalischen Fähigkeiten dieser jungen Damen. Man fragte sich auch nicht laut, ob die Konzerte immer so schrecklich waren oder ob es dieses Jahr besonders übel war. Und man fragte ganz bestimmt nicht nach, warum die Leute immer noch kamen, wenn die Konzerte doch so unerträglich waren.
In diesem Augenblick kam die fünfzehnjährige Harriet Pleinsworth durch eine Seitentür gewirbelt. »Miss Wynter!«
Anne schaute sich zu ihr um, doch bevor sie etwas hätte sagen können, verkündete Harriet: »Ich bin gekommen, um für Sie umzublättern.«
»Danke, Harriet. Das ist äußerst hilfsbereit von dir.«
Harriet grinste Daisy an, die ihr darauf einen säuerlichen Blick zuwarf.
Anne wandte sich ab, damit niemand sah, wie sie die Augen verdrehte. Die zwei hatten sich nie verstanden. Daisy nahm sich viel zu ernst, und Harriet nahm überhaupt nichts ernst.
»Es ist so weit!«, rief Honoria.
Und dann gingen sie auf die Bühne und begannen nach einer kurzen Einführung zu musizieren.
Anne hingegen fing an zu beten.
Lieber Himmel, so hart hatte sie noch nie gearbeitet. Ihre Finger rasten über die Tasten, versuchten verzweifelt, mit Daisy Schritt zu halten, die Geige spielte, als gelte es, ein Wettrennen zu gewinnen.
Das ist lächerlich, lächerlich, lächerlich , intonierte Anne innerlich. Es war seltsam, aber diese Selbstgespräche waren der einzige Weg, die Sache durchzustehen. Selbst für geübte Pianisten war es ein äußerst schwieriges Stück.
Lächerlich, lächerlich … hoppla! Cis! Anne streckte den rechten kleinen Finger aus und traf die Taste gerade noch rechtzeitig. Also ungefähr zwei Herzschläge später als erforderlich.
Rasch blickte sie zum Publikum. Eine Frau in der ersten Reihe sah ganz krank aus.
Weiterspielen, weiterspielen. Ach herrje, falsche Note. Egal. Niemand würde es bemerken, nicht einmal Daisy.
Und sie machte weiter, fragte sich dabei nur halb im Spaß, ob sie einfach irgendetwas spielen sollte. Grauenhafter konnte es unmöglich werden. Daisy flog durch ihren Part, ihre Tonstärke wechselte zwischen laut und extrem laut. Honoria stapfte durch die Partitur, jede Note ein entschlossener Schritt, und Iris …
Iris machte ihre Sache tatsächlich gut. Nicht, dass diese Tatsache einen Einfluss auf den Gesamteindruck gehabt hätte.
Anne atmete tief durch, rieb sich während einer kurzen Pause im Klavierpart wärmend die Hände. Dann ging es zurück an die Tasten, und …
Umblättern, Harriet.
Umblättern, Harriet.
»Umblättern, Harriet!«, flüsterte sie.
Harriet blätterte um.
Anne schlug den ersten Akkord an und bemerkte, dass Iris und Honoria bereits zwei Takte weiter waren. Daisy war – lieber Himmel, sie hatte keine Ahnung, wo Daisy war.
Anne übersprang ein paar Takte in der Hoffnung, die anderen an der richtigen Stelle einzuholen. Schlimmstenfalls wäre sie irgendwo in der Mitte.
»Sie haben etwas ausgelassen«, flüsterte Harriet.
»Macht nichts.«
Es machte wirklich nichts.
Und dann gelangten sie endlich, endlich zu einer Passage, in der Anne drei ganze Seiten Pause hatte. Sie lehnte sich zurück, stieß die Luft aus, die sie an die zehn Minuten angehalten hatte, zumindest fühlte es sich so an, und dann …
Sah sie jemanden.
Sie erstarrte. Jemand beobachtete sie aus dem Hinterzimmer. Die Tür, durch die sie die Bühne betreten hatten – und von der Anne sich sicher war, dass sie sie geschlossen hatte –, stand nun einen winzigen Spalt offen. Und weil sie der Tür am nächsten saß und die Einzige im Quartett war, die sie nicht im Rücken hatte, konnte sie einen flüchtigen Blick auf das Gesicht des Mannes werfen, der durch den Spalt linste.
Schiere Angst stieg in ihr auf, drückte ihr die Lungen zusammen, lief ihr heiß über die Haut. Sie kannte das Gefühl. Sie hatte es glücklicherweise nicht oft, aber doch oft genug. Jedes Mal, wenn sie jemanden sah, der ihr merkwürdig vorkam …
Halt.
Sie zwang sich zum Weiteratmen. Sie war im Haus der Dowager Countess of Winstead. Sie war so sicher wie in Abrahams Schoß. Was jetzt nottat …
»Miss Wynter!«, zischte Harriet.
Anne fuhr zusammen.
»Wo sind wir jetzt?«, fragte sie hastig.
»Ich weiß nicht. Ich kann keine Noten lesen.«
Unwillkürlich blickte Anne auf. »Aber du spielst doch Geige.«
»Ich weiß«, sagte Harriet elend.
Anne überflog die Noten auf der Seite, so rasch sie konnte, ihr Blick huschte von Takt zu Takt.
»Daisy sieht uns wütend an«, wisperte Harriet.
»Psst.« Anne musste sich konzentrieren. Sie blätterte um, versuchte die Stelle zu erraten und begann mit einer Passage in g-Moll.
Und wechselte dann zu G-Dur. Das war besser.
Wobei besser ein äußerst relativer Begriff war.
Für den Rest der Aufführung beugte sie sich tief über die Tasten. Sie sah nicht mehr auf, blickte weder ins Publikum noch zu dem Mann, der sie vom Hinterzimmer aus beobachtete. Wie die drei Smythe-Smiths arbeitete sie sich durch die Noten, so gut sie konnte, und als sie fertig waren, stand sie auf und knickste, den Blick zu Boden gerichtet. Dann flüsterte sie Harriet zu, dass sie mal verschwinden müsse, und entfloh.
Daniel Smythe-Smith hatte nicht vorgehabt, zur alljährlichen musikalischen Soiree der Familie nach London zurückzukehren, und seine Ohren wünschten sich auch sehnlichst, er hätte es nicht getan, doch sein Herz … nun, das war eine andere Geschichte.
Es war schön, wieder zu Hause zu sein. Trotz der Katzenmusik.
Vor allem wegen der Katzenmusik. Nichts gab einem männlichen Smythe-Smith ein intensiveres Gefühl von Heimat als ein schlecht gespieltes Musikstück.
Er hatte nicht gewollt, dass ihn irgendwer vor dem Konzert zu Gesicht bekam: Er war drei Jahre weg gewesen, seine plötzliche Rückkehr hätte die musikalische Darbietung in den Schatten gestellt. Das Publikum hätte es ihm vermutlich gedankt, doch er hatte nicht die Absicht, seine Familie vor den versammelten Damen und Herren des ton zu begrüßen. Die meisten waren vermutlich ohnehin der Ansicht, er hätte im Exil bleiben sollen.
Aber er wollte seine Familie sehen. Daher war er, sobald die Musik einsetzte, leise in den Übungsraum gehuscht. Dort war er auf Zehenspitzen zur Tür gegangen und hatte sie einen Spaltbreit geöffnet.
Er schluckte gerührt. Dort saß Honoria und lächelte ihr strahlendes Lächeln, während sie ihre Geige mit dem Bogen bearbeitete. Die Ärmste hatte keine Ahnung, dass sie nicht spielen konnte. Bei seinen anderen Schwestern war es genauso. Aber er liebte sie dafür, dass sie es versuchten.
An der anderen Geige saß – lieber Himmel, war das etwa Daisy? Gehörte sie nicht noch ins Schulzimmer? Nein, inzwischen war sie wohl schon sechzehn, noch nicht in die Gesellschaft eingeführt, aber auch kein kleines Mädchen mehr.
Am Cello saß Iris und wirkte betrübt. Und am Pianoforte …
Er hielt inne. Wer zum Teufel war das am Klavier? Er sah genauer hin. Sie hatte den Kopf gesenkt, ihr Gesicht war kaum zu erkennen, aber eines war sicher – sie war nicht mit ihm verwandt.
Also, das war ihm ein Rätsel. Er wusste genau (seine Mutter hatte es ihm oft genug erzählt), dass das Smythe-Smith’sche Quartett aus unverheirateten jungen Smythe-Smith’schen Damen bestand und niemandem sonst. Die Familie war ziemlich stolz darauf, dass sie so viele musikalisch interessierte (die Worte seiner Mutter, nicht seine) Sprösslinge hervorbrachte. Sobald eine heiratete, stand schon eine andere bereit, um ihren Platz einzunehmen. Bisher war es noch nie nötig gewesen, dass jemand Familienfremdes einsprang.
Vor allem aber: Welche Familienfremde würde da einspringen wollen ?
Eine seiner Cousinen musste krank geworden sein. Das war die einzige Erklärung. Er versuchte sich zu erinnern, wer am Pianoforte hätte sitzen sollen. Marigold? Nein, die war schon verheiratet. Viola? Er glaubte sich zu erinnern, einen Brief erhalten zu haben, in dem stand, dass sie ebenfalls geheiratet habe. Sarah? Es musste wohl Sarah gewesen sein.
Er schüttelte den Kopf. Er hatte wirklich wahnsinnig viele Cousinen.
Neugierig betrachtete er die Frau am Klavier. Sie strengte sich wirklich sehr an mitzukommen. Ihr Kopf nickte auf und ab, während sie auf die Noten blickte, und hin und wieder verzog sie das Gesicht. Harriet stand neben ihr und blätterte stets zur Unzeit die Seiten um.
Daniel lachte in sich hinein. Wer das arme Mädchen auch war, er hoffte, dass seine Familie sie gut bezahlte.
Und dann löste sie schließlich die Finger von den Tasten, als Daisy ihr schmerzvolles Geigensolo begann. Er sah, wie die Fremde den Atem ausstieß, sich die Hände rieb, und dann …
Sie blickte auf.
Die Zeit blieb stehen. Blieb einfach stehen. Das war zwar ein kitschiges Klischee, aber die wenigen Momente, in denen sie sich ihm zuwandte … sie dehnten sich und wurden immer länger, verdichteten sich zur Ewigkeit.
Sie war wunderschön. Aber das erklärte es noch nicht. Schönen Frauen war er schon oft begegnet. Hatte sogar mit einigen geschlafen. Aber das … Ihr … Sie …
Sogar seine Gedanken gerieten ins Stocken.
Ihr Haar war glänzend dunkel und voll, und es machte auch nichts, dass sie es in einem praktischen Knoten trug. Sie brauchte weder Lockenstab noch Samtbänder. Selbst wenn sie sich das Haar straff nach hinten gebunden oder es ganz abrasiert hätte – sie wäre immer noch das bezauberndste Geschöpf gewesen, das er je gesehen hatte.
Es war ihr Gesicht, es musste ihr Gesicht sein. Es war herzförmig und blass, und sie hatte bemerkenswert schön geschwungene Brauen. Ihre Augenfarbe konnte er in dem schummrigen Licht nicht erkennen, es war eine Tragödie. Aber ihre Lippen …
Er hoffte von Herzen, dass sie nicht verheiratet war, denn er war fest entschlossen, sie zu küssen. Es war nur noch eine Frage der Zeit.
Dann – er bemerkte es sofort – entdeckte sie ihn. Sie zuckte zusammen und erstarrte, und ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Er lächelte reuig, schüttelte den Kopf. Hielt sie ihn für verrückt, weil er sich ins Winstead House geschlichen hatte und nun heimlich dem Konzert beiwohnte?
Nun, den Eindruck musste die Situation wohl auf sie machen. Er kannte die Anzeichen von Misstrauen. Sie wusste nicht, wer er war, und während des Auftritts würde man im Hinterzimmer auch gewiss niemanden erwarten.
Das Erstaunliche war, sie schaute nicht weg, vielmehr hielt ihr Blick den seinen fest. Daniel bewegte sich nicht, atmete nicht einmal, bis der Augenblick durch seine Cousine Harriet zerstört wurde, die die dunkelhaarige Frau anstupste und ihr etwas zuflüsterte, wahrscheinlich, dass sie ihren Einsatz verpasst habe.
Danach sah die Frau nicht mehr auf.
Doch Daniel ließ sie nicht aus den Augen. Er beobachtete sie, wie sie sich durch das Stück arbeitete, beobachtete sie bei Läufen und Akkorden, bei piano und fortissimo . So versunken war er in diese Beobachtung, dass er irgendwann nicht einmal mehr die Musik hörte. In ihm spielte eine eigene Symphonie, üppig und voll, die sich auf ihren eigenen vollkommenen, unvermeidlichen Höhepunkt zubewegte.
Den sie nie erreichte. Der Bann wurde gebrochen, als das Quartett die letzten Noten in den Saal schickte und die vier Damen sich daraufhin erhoben und vor dem Publikum knicksten. Die dunkelhaarige Schöne sagte etwas zu Harriet, die den Applaus so strahlend entgegennahm, als hätte sie selbst musiziert, und lief dann so eilig davon, dass Daniel sich nicht gewundert hätte, wenn sie auf dem Boden Spuren hinterlassen hätte.
Egal. Er würde sie schon finden.
Rasch ging er zum rückwärtigen Teil von Winstead House. Als junger Mann hatte er sich selbst oft genug davongeschlichen; er wusste genau, welchen Weg man einschlagen musste, um unbemerkt zu verschwinden. Und wie vermutet, stieß er auf sie, als sie um die letzte Ecke zum Dienstboteneingang bog. Sie sah ihn nicht gleich, sie nahm ihn erst wahr, als …
»Da sind Sie ja!«, sagte er und lächelte, als wäre sie eine lang vermisste Freundin. Wenn man jemanden aus der Reserve locken wollte, gab es nichts Besseres als ein unvermutetes Lächeln.
Vor Schreck geriet sie ins Taumeln, und ihr entfuhr ein spitzer Schrei.
»Lieber Himmel«, sagte Daniel und presste ihr die Hand auf den Mund. »Machen Sie doch nicht so einen Lärm. Am Ende hört Sie noch jemand.«
Er zog sie an sich – anders hätte er ihr den Mund nicht zuhalten können. Ihr Körper fühlte sich klein und zierlich an, und sie zitterte wie Espenlaub. Sie schien nackte Angst zu haben.
»Ich tue Ihnen nichts«, erklärte er. »Ich will nur wissen, was Sie hier machen.« Er wartete einen Augenblick und beugte sich dann vor, um ihr Gesicht besser betrachten zu können. Ihr Blick begegnete dem seinen, dunkel und zutiefst beunruhigt.
»Also«, sagte er, »wenn ich Sie loslasse, sind Sie dann still?«
Sie nickte.
Er dachte kurz nach. »Sie lügen.«
Sie rollte mit den Augen, als wollte sie sagen: Was haben Sie denn erwartet? , und er lachte. »Wer sind Sie?«, fragte er.
Und dann passierte etwas äußerst Merkwürdiges. Sie entspannte sich in seinen Armen. Jedenfalls ein bisschen. Er spürte, wie ihre Verkrampfung sich ein wenig lockerte, spürte ihren Atem, wie er über seine Finger strich.
Interessant. Sie hatte nicht befürchtet, dass er nicht wusste, wer sie war. Sie hatte befürchtet, er wisse, wer sie war.
Langsam und so bedächtig, dass ihr klar sein musste, er könnte es sich jederzeit anders überlegen, hob er die Hand von ihrem Mund. Die andere Hand ließ er allerdings an ihrer Taille liegen. Ihm war durchaus bewusst, dass das selbstsüchtig von ihm war, aber er konnte sich einfach nicht dazu durchringen, sie ganz freizugeben.
»Wer sind Sie?«, murmelte er an ihrem Ohr.
»Wer sind Sie ?«, erwiderte sie.
Er lächelte. »Ich habe zuerst gefragt.«
»Ich spreche nicht mit Fremden.«
Darüber musste er wieder lachen. Er wusste, dass er sich einfach unmöglich benahm, er nötigte das arme Ding praktisch. Für Tändeleien hatte sie keinen Sinn. Liebe Güte, sie hatte im Quartett seiner Familie gespielt. Eigentlich sollte er ihr danken.
Doch ihm war so leicht zumute, beinahe schwindelig. Etwas an dieser Frau beschwingte sein Blut, und er war schon ein wenig benommen gewesen, als er Winstead House nach der wochenlangen Reise endlich erreicht hatte.
Er war zu Hause. Zu Hause. Und er hatte eine schöne Frau im Arm, von der er sich ganz sicher war, dass sie ihn nicht umbringen wollte.
Es war eine ganze Weile her, seit er dieses Gefühl zum letzten Mal auskosten konnte.
»Ich glaube …«, sagte er staunend, »ich glaube, ich muss Sie jetzt vielleicht küssen.«
Sie zuckte zurück, wirkte dabei aber nicht sonderlich verängstigt, sondern eher verwirrt. Oder auch besorgt.
Kluge Frau. Er hörte sich wirklich an wie ein Verrückter.
»Nur ein bisschen«, versicherte er ihr. »Ich muss mich nur erinnern an …«
Sie schwieg, und dann fragte sie, als könnte sie nicht anders: »Woran?«
Er lächelte. Ihre Stimme gefiel ihm. Sie klang tröstlich und rund, wie guter Brandy. Oder ein Sommertag.
»An die Tugend«, sagte er, umfasste mit einer Hand ihr Kinn. Er hielt den Atem an – er hörte, wie sie keuchte –, aber sie wehrte sich nicht. Er wartete kurz, nur einen Augenblick, denn wenn sie sich wehrte, würde er sie loslassen müssen, das war ihm klar. Doch sie tat nichts. Fest blickte sie ihn an, ebenso gebannt von diesem Augenblick wie er.
Also küsste er sie. Zögernd zuerst, fast als befürchtete er, sie könnte sich in seinen Armen auflösen. Aber es reichte nicht. Leidenschaft durchflutete ihn, und er zog die Fremde enger an sich, genoss es, ihren weichen Körper zu spüren.
Sie war zart, feingliedrig auf die Art, die in einem Mann den Wunsch weckte, Drachen zu töten. Doch sie fühlte sich wie eine Frau an, warm und üppig an genau den richtigen Stellen. Er sehnte sich danach, ihre Brüste zu berühren oder ihr perfekt gerundetes Hinterteil. Aber dazu war nicht einmal er wagemutig genug, nicht im Haus seiner Mutter.
Dennoch war er noch nicht bereit, sie gehen zu lassen. Sie duftete nach England, nach sanftem Regen und sonnenüberfluteten Wiesen. Sie war so verführerisch wie das schönste Paradies. Er wollte sie umfangen, sich tief in ihr versenken und für alle Zeiten dort verharren. Er hatte seit drei Jahren nicht mehr getrunken, aber jetzt war er betrunken, sprudelte über vor einer Lebensfreude, von der er nicht mehr gedacht hatte, dass er sie noch einmal würde empfinden können.
Es war Wahnsinn. Musste Wahnsinn sein.
»Wie heißen Sie?«, fragte er eindringlich. Er wollte es wissen. Er wollte alles über sie wissen.
Aber sie antwortete nicht. Wenn er mehr Zeit gehabt hätte, hätte er sie vielleicht überreden können, es ihm zu verraten, aber sie hörten beide, wie jemand die Hintertreppe herunterkam, die sich nicht weit von der Stelle befand, wo sie immer noch eng umschlungen standen.
Sie schüttelte den Kopf, die Augen weit aufgerissen. »So darf man mich nicht sehen«, flüsterte sie drängend.
Er ließ sie los, aber nicht, weil sie ihn darum gebeten hatte. Er hatte gesehen, wer da die Treppe herunterkam – und was sie taten –, und darüber vergaß er seine dunkelhaarige Schönheit.
Seiner Kehle entrang sich ein wütender Schrei, und dann rannte er wie ein Berserker durch den Gang davon.