2. KAPITEL

Eine Viertelstunde später stand Anne immer noch dort, wo sie sich eine Viertelstunde zuvor wiedergefunden hatte, nachdem sie durch den Gang und durch die erstbeste unverschlossene Tür gestürzt war. Bei dem Glück, das sie in letzter Zeit gehabt hatte (nämlich keines), war sie in einem finsteren, fensterlosen Vorratsraum gelandet. Eine kurze Untersuchung – Anne tastete mit den Händen wie eine Blinde durch die Dunkelheit – offenbarte ein Cello, drei Klarinetten und möglicherweise eine Posaune.

Das hatte etwas Passendes. Sie hatte den Raum gefunden, in den die Smythe-Smith’schen Musikinstrumente zum Sterben kamen. Und sie steckte hier fest, zumindest so lange, bis der Wahnsinn draußen auf dem Flur vorüber war. Sie hatte keine Ahnung, was dort los war, nur dass es mit jeder Menge Geschrei einherging, ziemlich viel Gestöhne und ein paar Geräuschen, die sich erschreckend nach Faustschlägen anhörten.

Bis auf den Fußboden gab es nichts, wo sie sich hätte hinsetzen können, und so ließ sie sich auf dem kalten, blanken Holzfußboden nieder, lehnte sich an ein freies Stück Wand neben der Tür und beschloss, einfach abzuwarten, bis die Rauferei vorüber war. Was auch immer da draußen los sein mochte, Anne wollte nichts damit zu tun haben, vor allem aber wollte sie nicht in der Nähe sein, wenn die anderen entdeckt wurden. Und das konnte nicht mehr lang dauern, bei dem Krach, den sie veranstalteten.

Männer. Das waren doch Idioten, allesamt.

Obwohl dort draußen auch eine Frau zu sein schien – dem Gekreische nach zu schließen. Anne glaubte, sie habe den Namen Daniel verstanden und dann möglicherweise Marcus, in dem sie dann den Earl of Chatteris vermutete, den sie früher am Abend kennengelernt hatte. Er schien ganz verrückt nach Lady Honoria zu sein …

Wenn sie es sich recht überlegte, klang das Gekreische tatsächlich ein wenig nach Lady Honoria.

Anne schüttelte den Kopf. Das ging sie nichts an. Niemand würde es ihr verübeln, wenn sie sich heraushielt.

Jemand knallte gegen die Wand direkt hinter ihr, worauf Anne erschrocken zusammenfuhr und das Gesicht in den Händen barg. Sie würde nie wieder hier herauskommen. Jahre später würde man ihren leblosen, vertrockneten Körper hier finden, über einer Tuba liegend, während zwei Flöten ein Kreuzzeichen bildeten.

Wieder schüttelte Anne den Kopf. Sie musste wirklich damit aufhören, vor dem Schlafengehen in Harriets melodramatischen Erzählungen zu schmökern. Ihre junge Schutzbefohlene betrachtete sich als Schriftstellerin, und ihre Geschichten wurden von Tag zu Tag schauerlicher.

Schließlich verebbte der Lärm auf dem Korridor, und die Männer ließen sich an der Wand nach unten gleiten (sie konnte es spüren, direkt durch die Wand hindurch). Einer war direkt hinter ihr; ohne die Mauer würden sie nun Rücken an Rücken hocken. Anne konnte sie keuchen hören, dann hörte sie sie in der für Männer so typischen Art reden, in kurzen, knappen Sätzen. Auch wenn sie eigentlich nicht lauschen wollte, konnte sie gar nicht anders, schließlich saß sie hier fest.

Und in diesem Augenblick wurde es ihr klar.

Der Mann, der sie geküsst hatte – er war Lady Honorias großer Bruder, der Earl of Winstead! Sie hatte sogar schon einmal ein Bild von ihm gesehen, sie hätte ihn gleich erkennen müssen. Vielleicht auch nicht. Das Porträt stimmte zwar grundsätzlich – kaffeebraunes Haar und fein geschwungener Mund –, doch es gab ihn nicht richtig wieder. Er war ziemlich attraktiv, das konnte man nicht leugnen, aber weder Farbe noch Pinselstrich konnten das lässige, elegante Selbstvertrauen eines Mannes einfangen, der seinen Platz auf der Welt kannte.

Himmel, nun befand sie sich wahrhaftig in Schwierigkeiten. Sie hatte den berüchtigten Daniel Smythe-Smith geküsst! Anne wusste alles über ihn, wie jeder. Er hatte sich vor ein paar Jahren duelliert und war vom Vater seines Kontrahenten aus dem Land gejagt worden. Aber anscheinend waren sie jetzt zu einer Einigung gekommen. Lady Pleinsworth hatte erwähnt, dass der Earl endlich nach Hause zurückkehren würde, und Harriet hatte Anne all den Klatsch dazu erzählt.

In dieser Hinsicht war Harriet wirklich recht nützlich.

Doch wenn Lady Pleinsworth erfuhr, was an diesem Abend geschehen war … Nun, damit wäre Anne als Gouvernante erledigt, sowohl für die Pleinsworth-Schwestern als auch für alle anderen. Schon nach dieser Stellung hatte Anne lange suchen müssen; niemand würde sie nehmen, wenn herauskäme, dass sie mit einem Earl getändelt hatte. Keine besorgte Mama stellte eine Gouvernante von zweifelhafter Moral ein.

Und es war noch nicht einmal ihre Schuld. Diesmal konnte sie absolut nichts dafür.

Sie seufzte. Draußen war es ruhig geworden. Waren sie endlich gegangen? Sie hatte Schritte vernommen, doch war es schwer zu sagen, von wie vielen Menschen sie rührten. Sie wartete noch ein paar Augenblicke, und als sie dann sicher war, dass sie draußen nichts als Stille antreffen würde, drehte sie den Türknopf und trat vorsichtig hinaus auf den Gang.

»Da sind Sie ja!«, sagte er. Zum zweiten Mal an diesem Abend.

Bestimmt hatte sie vor Schreck einen Satz in die Höhe gemacht. Nicht weil Lord Winstead sie überrascht hatte, obwohl das auch der Fall war, sondern weil sie so erstaunt war, dass er so lang im Flur hatte bleiben können, ohne den geringsten Laut zu verursachen. Sie hatte wirklich nichts gehört.

Aber das war nicht der Grund, warum ihr der Mund offen stand.

»Sie sehen ja schrecklich aus«, sagte sie, bevor sie es sich noch hätte verkneifen können. Er war allein, saß auf dem Boden, die langen Beine in den Gang gestreckt. Anne hätte nicht gedacht, dass jemand im Sitzen torkeln konnte, aber es machte doch ganz den Anschein, dass der Earl umgefallen wäre, wenn er nicht an der Wand gelehnt hätte.

Er hob eine Hand und grüßte lässig. »Marcus sieht noch schlimmer aus.«

Sie betrachtete sein Auge, das am Rand bläulich anzulaufen begann, und sein Hemd, das voller Blutflecken war, die wer weiß woher stammten. Oder von wem. »Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«

Lord Winstead stieß den Atem aus. »Er hat meine Schwester geküsst.«

Anne wartete auf mehr, doch offenbar war das für ihn Erklärung genug. »Ähm …«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen, denn in keinem Benimmbuch fanden sich Hinweise darauf, wie man sich in einer solchen Lage verhalten sollte. Am Ende entschied sie, dass sie am besten beraten wäre, sich nach dem Ausgang des Streits zu erkundigen und nicht nach den Ursachen. »Dann ist jetzt alles in Ordnung, ja?«

Er nickte übertrieben. »Bald sind Glückwünsche fällig.«

»Oh. Na, das ist aber schön.« Sie lächelte, nickte, flocht die Finger ineinander, um sich am Herumzappeln zu hindern. Wirklich, das alles war schrecklich heikel. Was sollte man bloß mit einem verletzten Earl anfangen? Der eben aus seinem drei Jahre währenden Exil heimgekehrt war? Und schon vor seiner Flucht einen recht zweifelhaften Ruf genossen hatte.

Ganz zu schweigen von dieser ganzen Küsserei eben.

»Kennen Sie meine Schwester?«, fragte er und wirkte plötzlich sehr müde. »Oh, natürlich kennen Sie sie. Sie haben ja mit ihr musiziert.«

»Ihre Schwester ist Lady Honoria?« Es erschien ihr klug, sich zu vergewissern.

Er nickte. »Ich bin Winstead.«

»Ja, natürlich. Ich habe gehört, dass Sie zurückerwartet werden.« Sie lächelte noch einmal, doch sie fühlte sich immer noch nicht wohl. »Lady Honoria ist sehr liebenswürdig und freundlich. Ich freue mich sehr für sie.«

»Sie ist furchtbar unmusikalisch.«

»Sie war die beste Geigenspielerin auf der Bühne«, erwiderte Anne aufrichtig.

Das entlockte ihm ein lautes Lachen. »Als Diplomatin würden Sie sich sehr gut machen, Miss …« Er hielt inne, wartete, erklärte dann: »Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wie Sie heißen.«

Sie zögerte, weil sie bei dieser Frage stets zögerte, aber dann rief sie sich in Erinnerung, dass er der Earl of Winstead war und somit der Neffe ihrer Dienstherrin. Von ihm hatte sie nichts zu befürchten. Zumindest nicht, solange sie keiner zusammen sah. »Ich bin Miss Wynter«, sagte sie, »die Gouvernante Ihrer Cousinen.«

»Welcher Cousinen? Den Pleinsworths?«

Sie nickte.

Er blickte ihr direkt in die Augen. »Sie armes, armes Ding.«

»Still! Sie sind wirklich reizend!«, protestierte sie. Sie betete ihre drei Schützlinge an. Harriet, Elizabeth und Frances mochten wilder sein als viele andere junge Mädchen, aber sie hatten ein gutes Herz. Und sie bemühten sich immer so.

Er hob die Augenbrauen. »Reizend, von mir aus. Wohlerzogen eher weniger.«

Das war nicht zu leugnen, und Anne konnte ein leises Lächeln nicht unterdrücken. »Ich bin mir sicher, dass sie sehr viel reifer geworden sind, seit Sie sie zum letzten Mal gesehen haben«, erwiderte sie spröde.

Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu und fragte dann: »Wie kam es, dass Sie am Pianoforte saßen?«

»Lady Sarah wurde krank.«

»Ah.« Dieses »Ah« war äußerst vielsagend. »Überbringen Sie doch bitte meine besten Genesungswünsche.«

Anne war sich ziemlich sicher, dass sich Lady Sarah besser gefühlt hatte, sobald sie von ihrer Mutter von ihrem Auftritt entschuldigt worden war, doch sie nickte nur und sagte, sie würde es nicht vergessen. Obwohl sie nicht die Absicht hatte, die Grüße auszurichten. Niemals würde sie irgendwem erzählen, dass sie dem Earl of Winstead begegnet war.

»Weiß Ihre Familie schon, dass Sie zurück sind?«, fragte sie. Sie betrachtete ihn ein bisschen genauer. Er sah seiner Schwester wirklich sehr ähnlich. Sie fragte sich, ob er dieselben außergewöhnlichen Augen hatte – von einem kräftigen Hellblau, beinahe Lavendel. In dem schummrigen Licht konnte man das unmöglich feststellen. Ganz zu schweigen davon, dass das eine Auge rasch zuschwoll. »Neben Lady Honoria, meine ich«, fügte sie hinzu.

»Noch nicht.« Er schaute zu den offiziellen Räumlichkeiten und verzog das Gesicht. »Sosehr ich jeden bewundere, der sich dazu überwinden konnte, zum Konzert zu kommen, wollte ich doch nicht in aller Öffentlichkeit meiner Familie unter die Augen treten.« Er blickte an sich herab. »Vor allem nicht in diesem Zustand.«

»Natürlich nicht«, sagte sie schnell. Nicht auszudenken, was es für einen Aufruhr auslöste, wenn er jetzt blutig und zerschlagen auf dem Empfang auftauchte.

Leise stöhnend wechselte er die Position auf dem Boden, brummte dann etwas in sich hinein, von dem Anne überzeugt war, dass es nicht für ihre Ohren bestimmt war. »Ich sollte gehen«, platzte sie heraus. »Tut mir schrecklich leid, und … ähm …«

Sie befahl sich, sich in Bewegung zu setzen, wirklich. Ihr Verstand flehte sie an, vernünftig zu sein und sich davonzumachen, ehe jemand kam, doch alles, woran sie denken konnte, war – er hatte seine Schwester verteidigt.

Wie konnte sie einen Mann im Stich lassen, der so etwas tat?

»Kommen Sie, ich helfe Ihnen«, sagte sie wider alles bessere Wissen.

Er lächelte schwach. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Sie ging in die Hocke, um seine Blessuren in Augenschein nehmen zu können. Sie hatte schon öfter Schnitt- und Schürfwunden verarztet, aber etwas Derartiges war ihr noch nicht untergekommen. »Wo tut es denn weh?«, fragte sie. Und räusperte sich. »Abgesehen von den offensichtlichen Stellen.«

»Offensichtlich?«

»Nun …« Vorsichtig wies sie auf sein verletztes Auge. »Da kriegen Sie ein blaues Auge. Und dort …«, fügte sie hinzu und deutete auf den linken Unterkiefer und dann die Schulter, die unter seinem zerrissenen, blutverschmierten Hemd zu sehen war, »… und dort.«

»Marcus sieht schlimmer aus«, sagte Lord Winstead wieder.

»Ja«, erwiderte Anne und unterdrückte ein Lächeln. »Das haben Sie bereits erwähnt.«

»Es ist ein wichtiges Detail.« Er grinste schief, zuckte dann zusammen und legte eine Hand an die Wange.

»Ihre Zähne?«, fragte sie besorgt.

»Die sind anscheinend noch alle da«, murmelte er. Er öffnete den Mund, als wollte er den Klappmechanismus prüfen, und schloss ihn dann stöhnend. »Glaube ich.«

»Kann ich irgendwen holen?«, fragte sie.

Er bedachte sie mit einem überraschten Blick. »Sie möchten gern weiterverbreiten, dass Sie hier mit mir allein waren?«

»Oh. Natürlich nicht. Ich kann nicht mehr klar denken.«

Wieder zeigte er das schiefe Grinsen, bei dem sie innerlich irgendwie ganz unruhig wurde. »Diese Wirkung habe ich auf Frauen.«

Darauf fielen ihr eine ganze Menge Antworten ein, doch sie verzichtete darauf, sie laut zu äußern. »Ich könnte Ihnen auf die Füße helfen«, schlug sie vor.

Er seufzte. »Sie könnten sich auch zu mir setzen und mit mir plaudern.«

Sie starrte ihn an.

Wieder dieses schiefe Lächeln. »Nur so eine Idee«, meinte er.

Eine schlechte Idee, dachte sie umgehend. Liebe Güte, eben hatte sie ihn geküsst. Sie sollte nicht in seiner Nähe sein, gewiss nicht neben ihm auf dem Fußboden, wo es so einfach wäre, sich ihm zuzuwenden, ihr Gesicht dem seinen zuzuneigen …

»Vielleicht könnte ich Ihnen etwas Wasser bringen«, bot sie an, so hastig, dass sie sich an den Worten beinahe verschluckt hätte. »Haben Sie ein Taschentuch? Sie werden sich wohl das Gesicht säubern wollen, vermute ich.«

Er griff in die Tasche und holte ein zerknittertes Stück Stoff hervor. »Feinstes italienisches Leinen«, scherzte er matt. Er runzelte die Stirn. »War es zumindest mal.«

»Bestimmt ist es genau das Richtige«, sagte sie, nahm es entgegen und faltete es zurecht. Dann tupfte sie ihm damit die Wange ab. »Tut das weh?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich wollte, ich hätte ein wenig Wasser. Das Blut ist schon getrocknet.« Sie runzelte die Stirn. »Haben Sie etwas Brandy? Vielleicht in einer Taschenflasche?« So etwas führten Gentlemen oft mit sich. Ihr Vater zum Beispiel. Ohne seine Taschenflasche hatte er nur selten das Haus verlassen.

Doch Lord Winstead sagte: »Ich trinke keinen Alkohol.«

Etwas an seinem Ton verblüffte sie, und sie sah auf. Sein Blick ruhte auf ihr, und sie hielt den Atem an. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie nahe sie ihm gekommen war.

Ihre Lippen öffneten sich. Und sie wollte …

Zu viel. Sie hatte immer zu viel gewollt.

Sie rutschte ein Stück nach hinten, ein wenig verstört davon, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Er war ein Mann, der gern und oft lächelte. Man musste nicht viel Zeit mit ihm verbringen, um das zu erkennen. Weswegen der scharfe, ernste Unterton in seiner Stimme sie so gebannt hatte.

»Aber ein Stück den Flur hinunter finden Sie wahrscheinlich welchen«, sagte er plötzlich, und der merkwürdige Bann war gebrochen. »Die dritte Tür rechts. Da war früher das Arbeitszimmer meines Vaters.«

»Im hinteren Teil des Hauses?« Das kam ihr ungewöhnlich vor.

»Das Zimmer hat zwei Eingänge. Die andere Seite geht auf den Hauptgang hinaus. Jetzt dürfte sich dort niemand aufhalten, seien Sie aber trotzdem vorsichtig, wenn Sie hineingehen.«

Anne stand auf und schlug den beschriebenen Weg ein. In dem Arbeitszimmer schien der Mond durch die Fenster, und so entdeckte sie die Karaffe sofort. Sie nahm das ganze Ding mit und schloss sorgfältig die Tür hinter sich.

»Auf dem Regal am Fenster?«, fragte Lord Winstead, als Anne wieder bei ihm war.

»Ja.«

Er lächelte. »Manche Dinge ändern sich eben nie.«

Anne zog den Stopfen aus der Karaffe, legte das Taschentuch über die Öffnung und kippte großzügig Brandy auf den Stoff. Sofort roch es durchdringend nach Alkohol. »Stört Sie das?«, fragte sie in plötzlicher Sorge. »Der Geruch?« In ihrer letzten Stellung – direkt bevor sie bei den Pleinsworths zu arbeiten begonnen hatte – hatte der Onkel ihres Schützlings dem Alkohol zu sehr zugesprochen und dann damit aufgehört. Seine Gegenwart war äußerst schwer zu ertragen gewesen. Ohne Alkohol war er sogar noch reizbarer gewesen, und wenn er auch nur das kleinste Tröpfchen Alkohol gerochen hatte, war er vollkommen außer sich geraten.

Anne hatte kündigen müssen. Aus diesem und anderen Gründen.

Doch Lord Winstead verneinte. »Es ist nicht so, als könnte ich keinen Alkohol trinken. Ich will nur nicht.«

Ihre Verwirrung musste sich in ihrem Gesicht widergespiegelt haben, denn er fügte hinzu: »Ich habe kein Verlangen danach, er ist mir einfach zuwider.«

»Verstehe«, antwortete sie. Anscheinend hatte er ebenfalls Geheimnisse. »Das brennt jetzt vermutlich«, warnte sie ihn.

»Es brennt besti… aua!«

»Tut mir leid«, meinte sie und rieb vorsichtig mit dem Taschentuch über die Wunde.

»Ich hoffe, dass sie das verflixte Zeug kannen weise über Marcus schütten«, brummte er.

»Nun, er sieht ja schlimmer aus als Sie«, erwiderte sie.

Verwundert blickte er auf, und dann breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht. »Allerdings.«

Sie wandte sich seinen zerschrammten Knöcheln zu und murmelte: »Ich habe es aus zuverlässiger Quelle.«

Er lachte, doch sie blieb ernst. Die Situation hatte etwas unglaublich Intimes, wie sie sich über seine Hand beugte und seine Wunden reinigte. Sie kannte den Mann nicht, und doch widerstrebte es ihr, diesen Augenblick loszulassen. Es lag nicht an ihm , sagte sie sich. Es war nur … Es war schon so lange her …

Sie war einsam. Das wusste sie. Es war keine große Überraschung.

Sie wies auf die Wunde an seiner Schulter und hielt ihm das Taschentuch hin. Sein Gesicht und seine Hände waren eine Sache, aber seinen Körper konnte sie unmöglich berühren. »Vielleicht sollten Sie …«

»Oh nein, lassen Sie sich bitte nicht aufhalten. Eine so zarte Fürsorge tut ungemein gut.«

Sie warf ihm einen Blick zu. »Sarkasmus steht Ihnen nicht.«

»Nein«, sagte er amüsiert, »hat es noch nie.« Er beobachtete sie, wie sie noch mehr Brandy auf das Taschentuch schwappen ließ. »Außerdem war das gar kein Sarkasmus.«

Über diese Behauptung wollte sie lieber nicht allzu genau nachdenken. Stattdessen presste sie das nasse Tuch an seine Schulter und sagte energisch: »Das brennt jetzt bestimmt.«

»Aaaah-aaaaaaaaaaaah «, schrie er, und sie musste lachen. Er klang wie ein schlechter Opernsänger oder wie ein Possenreißer im Kasperletheater.

»Das sollten Sie öfter tun«, sagte er. »Lachen, meine ich.«

»Ich weiß.« Sie merkte selbst, welch traurigen Eindruck sie mit dieser Antwort erwecken musste, und beeilte sich hinzuzufügen: »Ich bekomme allerdings nicht so oft Gelegenheit, erwachsene Männer zu quälen.«

»Wirklich?«, entgegnete er. »Und ich hätte gedacht, Sie machen das die ganze Zeit.«

Sie sah ihn an.

»Wenn Sie einen Raum betreten«, sagte er leise, »verändert sich die Atmosphäre.«

Ihre Hand verharrte einen Zoll über seiner Schulter. Sie blickte ihn an – konnte nicht anders – und bemerkte das Begehren in seinem Blick. Er wollte sie. Er wollte, dass sie näher kam und ihre Lippen auf die seinen drückte. Es wäre so leicht, sie brauchte nur ein wenig das Gewicht zu verlagern. Sie könnte sich einreden, dass es keine Absicht gewesen sei. Dass sie einfach das Gleichgewicht verloren habe.

Aber sie wusste es besser. Das hier war nicht ihr Augenblick. Es war nicht ihre Welt. Er war ein Earl, und sie war … Nun, sie war die, zu der sie sich gemacht hatte, und das war jemand, der keinen Umgang mit Earls pflegte, vor allem nicht, wenn deren Vergangenheit skandalumwittert war.

Gleich würde eimerweise Aufmerksamkeit auf ihn herabregnen, und wenn das geschah, wollte Anne nicht in der Nähe sein.

»Ich muss jetzt wirklich gehen«, sagte sie entschieden.

»Wohin denn?«

»Nach Hause.« Und weil sie das Gefühl hatte, noch etwas sagen zu müssen, fuhr sie fort: »Ich bin ganz schön müde. Es war ein sehr langer Tag.«

»Ich begleite Sie«, sagte er.

»Das ist nicht nötig.«

Er musterte sie kurz, stemmte sich gegen die Wand und erhob sich, das Gesicht leicht schmerzverzerrt. »Wie wollen Sie denn nach Hause kommen?«

War das ein Verhör? »Zu Fuß.«

»Nach Pleinsworth House?«

»Es ist nicht weit dorthin.«

»Für eine unbegleitete Dame ist es zu weit.«

»Ich bin Gouvernante

Das schien ihn zu belustigen. »Ist eine Gouvernante etwa keine Dame?«

Sie stieß einen gereizten Seufzer aus. »Ich bin völlig sicher«, erklärte sie. »Der ganze Weg ist gut beleuchtet. Wahrscheinlich werden sich auf der gesamten Strecke Kutschen drängen.«

»Und doch beruhigt mich das nicht im Mindesten.«

Er war wirklich hartnäckig. »Es war mir eine Ehre, Sie kennengelernt zu haben«, sagte sie resolut. »Und jetzt freut sich Ihre Familie sicher, Sie wiederzusehen.«

Er umfasste ihr Handgelenk. »Ich kann nicht erlauben, dass Sie allein nach Hause gehen.«

Anne atmete einmal tief durch. Er fühlte sich warm an, und ihr war dort ganz heiß, wo er sie berührte. Ein merkwürdiges, vage vertrautes Gefühl stieg in ihr auf, und entsetzt begriff sie, dass es Erregung war.

»Das verstehen Sie doch sicher«, meinte er, und sie hätte beinahe nachgegeben. Sie wollte es; das Mädchen, das sie früher einmal gewesen war, wollte es unbedingt, und es war schon so lange her, dass sie ihr Herz weit geöffnet und dieses Mädchen herausgelassen hatte.

»So, wie Sie aussehen, können Sie nicht unter die Leute gehen«, stellte sie fest. Es stimmte. Er sah aus, als wäre er aus dem Gefängnis ausgebrochen. Oder möglicherweise aus der Hölle.

Er zuckte mit den Achseln. »Umso weniger werde ich erkannt.«

»Mylord …«

»Daniel«, korrigierte er sie.

Erstaunt starrte sie ihn aus großen Augen an. »Was?«

»Mein Vorname ist Daniel.«

»Ich weiß . Aber ich werde ihn nicht benutzen.«

»Ach, das ist schade. Aber es war einen Versuch wert. Kommen Sie …« Er bot ihr den Arm, doch sie ergriff ihn nicht. »Wollen wir?«

»Ich gehe nicht mit Ihnen.«

Er lächelte verwegen. Obwohl sein Mund auf einer Seite rot und geschwollen war, sah der Earl immer noch teuflisch gut aus. »Heißt das, Sie bleiben bei mir?«

»Sie haben einen Schlag auf den Schädel abbekommen«, sagte sie. »Das ist die einzige Erklärung.«

Er lachte, erwiderte aber nichts. »Haben Sie einen Mantel?«

»Ja, im Übungsraum. Ich … Versuchen Sie nicht, das Thema zu wechseln!«

»Hmmm?«

»Ich gehe«, erklärte sie und hob eine Hand. »Sie bleiben hier.«

Doch er versperrte ihr den Weg. Er streckte einen Arm aus, legte die Hand an die Wand. »Ich habe mich vielleicht nicht ganz klar ausgedrückt«, sagte er, und sie erkannte, dass sie ihn unterschätzt hatte. Er mochte ein Luftikus sein, aber es steckte mehr in ihm, und im Moment war er todernst. Mit leiser, strenger Stimme sagte er: »Bei ein paar Dingen gibt es für mich keine Kompromisse. Die Sicherheit einer Dame gehört dazu.«

Und damit war die Sache erledigt. Er war fest entschlossen und nicht bereit, seine Meinung zu ändern. Und so ließ sie sich von ihm zum Dienstboteneingang von Pleinsworth House begleiten, mit der Ermahnung, dass sie sich im Schatten und in den Gassen halten mussten, wo niemand sie sehen würde. Er küsste ihr zum Abschied die Hand, und Anne versuchte so zu tun, als fände sie diese Geste nicht wunderbar.

Ihn konnte sie damit vielleicht täuschen, nicht aber sich selbst.

»Ich komme Sie morgen besuchen«, sagte er, ihre Hand noch in der seinen.

»Was? Nein!« Anne entriss ihm ihre Hand. »Das geht nicht!«

»Nein?«

»Nein. Ich bin die Gouvernante. Ich kann keinen Herrenbesuch empfangen, das würde mich die Stellung kosten.«

Er lächelte, als ließe sich dieses Problem mit Leichtigkeit lösen. »Dann besuche ich eben meine Cousinen.«

Hatte er denn überhaupt keine Ahnung, wie man sich benahm? Oder war er einfach nur selbstsüchtig? »Ich werde nicht zu Hause sein«, erwiderte sie mit fester Stimme.

»Dann komme ich eben wieder.«

»Dann bin ich wieder nicht zu Hause.«

»Sie schwänzen? Wer soll dann meine Cousinen unterrichten?«

»Ich nicht, wenn Sie hier herumlungern. Ihre Tante würde mich bestimmt entlassen.«

»Entlassen?« Er lachte leise. »Das klingt aber schlimm.«

»Ist es auch.« Lieber Himmel, sie musste ihn zur Einsicht bringen. Es spielte keine Rolle, wer er war oder welche Gefühle er in ihr weckte. Der aufregende Abend … der Kuss … das waren flüchtige Freuden.

Wirklich wichtig war, dass sie ein Dach über dem Kopf hatte. Und Essen auf dem Tisch. Brot, Käse, Butter und Zucker und all die herrlichen Dinge, die sie in der Kindheit jeden Tag bekommen hatte. Obendrein gewährte ihr die Arbeit bei den Pleinsworths Beständigkeit, einen festen Platz in der Gesellschaft und Selbstachtung.

Diese Dinge waren für sie keine Selbstverständlichkeit.

Sie sah zu Lord Winstead. Er betrachtete sie aufmerksam, als glaubte er, er könnte ihr in die Seele blicken.

Aber er kannte sie nicht. Niemand kannte sie. Und so hüllte sie sich in Förmlichkeit wie in einen Mantel, trat einen Schritt zurück und knickste. »Danke für die Begleitung, Mylord. Ich weiß Ihre Sorge um meine Sicherheit zu schätzen.« Sie wandte sich um und schloss den hinteren Eingang auf.

Drinnen angekommen, dauerte es eine Weile, bis alles besprochen und erledigt war. Die Pleinsworths waren nämlich kurz nach ihr eingetroffen, sie musste sich also entschuldigen, was sie mit der Feder in der Hand und der Behauptung tat, gerade habe sie eine Nachricht überbringen lassen wollen, in der sie erklärte, warum sie die musikalische Soiree verlassen habe. Harriet konnte gar nicht aufhören, von dem aufregenden Abend zu berichten – anscheinend hatten sich Lord Chatteris und Lady Honoria tatsächlich verlobt, und das auf höchst spektakuläre Art –, und dann kamen Elizabeth und Frances die Treppe heruntergeeilt, keine von beiden hatte bislang ein Auge zugetan.

Erst zwei Stunden später betrat Anne ihr eigenes Zimmer, zog ihr Nachthemd an und schlüpfte ins Bett. Und es dauerte weitere zwei Stunden, bevor sie an Schlaf überhaupt denken konnte. Sie lag da, starrte an die Decke, dachte nach, staunte und flüsterte in sich hinein.

»Annelise Sophronia Shawcross«, sagte sie schließlich, »in was hast du dich da bloß hineinmanövriert?«