8. KAPITEL

Am folgenden Abend kletterte Anne aus der Reisekutsche der Pleinsworths, blickte sich um und nahm zum ersten Mal Whipple Hill in Augenschein. Es war ein schönes Anwesen, solide und vornehm, auf sanft geschwungenem Terrain gelegen, das einen großen, baumbestandenen Teich umfasste. Es hatte etwas sehr Anheimelndes an sich, was Anne interessant fand, da es sich um den Familiensitz der Earls of Winstead handelte. Nicht dass sie furchtbar vertraut war mit den großen Landsitzen der Aristokraten, aber die, die sie bisher gesehen hatte, waren alle äußerst prächtig und hochherrschaftlich gewesen.

Die Sonne war bereits untergegangen, aber das orangerote Glühen der Dämmerung hing noch in der Luft und verlieh der rasch herabsinkenden Nacht noch eine Spur Wärme. Am liebsten wäre Anne sofort in ihr Zimmer verschwunden, hätte vorher vielleicht noch einen Teller heiße Suppe gegessen, aber Nanny Flanders hatte sich am Abend vor der Abreise den Magen verdorben und war in London geblieben. Daher musste Anne neben ihren Aufgaben als Gouvernante auch die Pflichten der Nanny übernehmen, was bedeutete, dass sie die Mädchen in ihren Zimmern unterbringen musste, bevor sie sich um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern konnte. Lady Pleinsworth hatte ihr einen extrafreien Nachmittag versprochen, solange sie auf dem Land weilten, aber sie hatte nicht gesagt, wann genau, und Anne befürchtete, ihre Dienstherrin könnte es einfach vergessen.

»Kommt mit, Mädchen«, sagte sie energisch. Harriet war zu einer der anderen Kutschen vorgelaufen – die, in der Sarah und Lady Pleinsworth saßen – und Elizabeth zu einer anderen Kutsche weiter hinten. Worüber Elizabeth allerdings mit den Zofen dort sprach, war Anne vollkommen schleierhaft.

»Ich bin aber hier«, sagte Frances tapfer.

»Allerdings«, erwiderte Anne. »Ein goldenes Sternchen für dich.«

»Es ist wirklich schade, dass Sie keine echten Goldsterne haben. Dann müsste ich mein eigenes Geld nicht so zusammenzuhalten.«

»Wenn ich tatsächlich Goldsterne hätte«, entgegnete Anne mit hochgezogenen Brauen, »dann müsste ich nicht eure Gouvernante sein.«

»Touché!« , rief Frances bewundernd.

Anne zwinkerte ihr zu. Die Bewunderung einer Zehnjährigen errungen zu haben hatte etwas sehr Befriedigendes an sich. »Wo sind deine Schwestern jetzt?«, brummte sie und rief dann: »Harriet! Elizabeth!«

Harriet kam herbeigehüpft. »Mama sagt, dass ich mit den Erwachsenen zu Abend essen darf, solange wir hier sind.«

»Oooh, darüber wird Elizabeth aber gar nicht glücklich sein«, prophezeite Frances.

»Worüber werde ich nicht glücklich sein?«, erkundigte sich Elizabeth, die ebenfalls erschienen war. »Und ihr glaubt nicht, was Peggy mir eben erzählt hat.«

Peggy war Sarahs Zofe. Anne mochte sie, auch wenn sie ein schreckliches Klatschweib war.

»Was hat sie denn gesagt?«, fragte Frances. »Und Harriet wird mit den Erwachsenen essen, solange wir hier sind.«

Elizabeth keuchte vor plötzlich aufwallendem Zorn laut auf. »Das ist ganz offensichtlich ungerecht. Und Peggy hat gesagt, Sarah hätte gesagt, Daniel hätte gesagt, dass Miss Wynter ihre Mahlzeiten ebenfalls mit der Familie einnehmen soll.«

»Dazu wird es nicht kommen«, meinte Anne entschieden. Es wäre höchst ungewöhnlich – eine Gouvernante gesellte sich normalerweise nur dann zur Familie, wenn ein zusätzlicher Gast vonnöten war –, und darüber hinaus hatte sie zu arbeiten. Sie legte Frances eine Hand auf den Kopf. »Ich esse mit dir.«

Nanny Flanders’ Krankheit erwies sich nun unerwartet als Segen. Anne konnte sich nicht vorstellen, was Lord Winstead sich dabei gedacht hatte, sie zum Essen in den Kreis der Familie zu bitten. Wenn es je einen Schachzug gab, der dazu angetan war, sie in eine ungünstige Lage zu manövrieren, dann war es dieser. Der Schlossherr wollte mit der Gouvernante dinieren? Da hätte er gleich damit herausrücken können, dass er versuchte, sie in sein Bett zu bekommen.

Was er ihrer Meinung nach auch tat. Es wäre ja schließlich nicht das erste Mal, dass sie unwillkommene Annäherungsversuche seitens ihrer Arbeitgeber abwehren musste.

Aber es wäre das erste Mal, dass ein Teil von ihr gern nachgegeben hätte.

»Guten Abend!« Es war Lord Winstead, der auf den Säulenvorbau getreten war, um sie zu begrüßen.

»Daniel!«, kreischte Frances. Sie machte eine Kehrtwende, schleuderte Staub über ihre Schwestern, rannte auf ihren Vetter zu und hätte ihn beinahe umgeworfen, als sie ihm in die Arme sprang.

»Frances!«, schalt Lady Pleinsworth. »Du bist viel zu alt, um dich derart ungestüm aufzuführen.«

»Es macht mir nichts aus«, sagte Lord Winstead und lachte. Er zauste Frances das Haar, was ihm ein breites Grinsen eintrug.

Frances fragte ihre Mutter: »Wenn ich zu alt bin, um mich so zu benehmen, heißt das dann, dass ich alt genug bin, um mit den Erwachsenen zu essen?«

»Noch lang nicht«, erwiderte Lady Pleinsworth resolut.

»Aber Harriet …«

»… ist fünf Jahre älter als du.«

»Wir machen es uns im Kindertrakt gemütlich«, verkündete Anne und ging hinüber, um ihren Schützling von Lord Winstead zu pflücken. Er drehte sich zu ihr; in seinen Augen blitzte eine Intimität, von der ihr ganz warm wurde. Gleich würde er sie einladen, mit ihnen zu Abend zu essen, und so fügte sie hinzu, laut genug, dass alle sie hören konnten: »Normalerweise esse ich auf meinem Zimmer, aber jetzt, da Nanny Flanders krank ist, übernehme ich sehr gern ihren Platz bei Elizabeth und Frances im Kindertrakt.«

»Wieder einmal sind Sie unsere Rettung, Miss Wynter«, schaltete sich Lady Pleinsworth ein. »Ich weiß nicht, was wir ohne Sie tun würden.«

»Erst die musikalische Soiree und jetzt das«, sagte Lord Winstead anerkennend.

Anne sah zu ihm hinüber, versuchte herauszufinden, was er mit seiner Bemerkung bezweckt haben könnte, aber seine Aufmerksamkeit galt schon wieder Frances.

»Vielleicht veranstalten wir ein Konzert, während wir hier sind«, schlug Elizabeth vor. »Das würde großen Spaß machen.«

In der Dämmerung war es schwer zu sagen, doch Anne hatte den Eindruck, dass Lord Winstead blass wurde. »Ich habe deine Bratsche nicht mitgebracht«, erklärte sie rasch. »Und Harriets Geige auch nicht.«

»Was ist mit …«

»Und dein Kontrafagott auch nicht«, sagte Anne zu Frances, bevor diese überhaupt fragen konnte.

»Ach, aber das hier ist Whipple Hill«, wandte Lady Pleinsworth ein. »Kein Smythe-Smith’sches Heim wäre vollständig ohne eine großzügige Sammlung musikalischer Instrumente.«

»Selbst ein Kontrafagott?«, fragte Frances hoffnungsvoll.

Lord Winstead machte ein zweifelndes Gesicht, meinte aber: »Du könntest ja mal nachsehen.«

»Bestimmt. Miss Wynter, werden Sie mir dabei helfen?«

»Natürlich«, murmelte Anne. Dieses Vorhaben taugte so gut wie jedes andere, um sie von der Familie fernzuhalten.

»Nachdem es Sarah inzwischen so viel besser geht, wären Sie diesmal nicht gezwungen, das Pianoforte zu spielen«, stellte Elizabeth fest.

Zum Glück ist Lady Sarah schon im Haus, dachte Anne, ansonsten hätte sie hier und jetzt einen aufwendigen Rückfall inszenieren müssen.

»Gehen wir rein.« Lord Winstead winkte die Meute ins Haus. »Es besteht kein Grund, dass ihr euch umkleidet. Mrs. Barnaby lässt ein informelles Mahl servieren, an dem ihr alle teilnehmen könnt, auch Elizabeth und Frances.«

Und Sie auch, Miss Wynter.

Er sprach es nicht aus, sah sie nicht einmal an, doch Anne konnte die Worte dennoch förmlich spüren.

»Wenn Sie en famille dinieren«, sagte Anne zu Lady Pleinsworth, »wäre ich sehr dankbar, wenn ich mich auf mein Zimmer zurückziehen dürfte. Ich bin von der Reise recht erschöpft.«

»Natürlich, meine Liebe. Sie werden Ihre Kräfte diese Woche noch brauchen. Leider werden wir Sie sehr strapazieren müssen. Die arme Nanny.«

»Meinst du nicht, die arme Miss Wynter?«, fragte Frances.

Anne lächelte ihren Schützling an. Allerdings.

»Keine Angst, Miss Wynter«, sagte Elizabeth. »Wir werden schonend mit Ihnen umgehen.«

»Ach ja, wirklich?«

Elizabeth setzte eine Unschuldsmiene auf. »Ich bin bereit, während unseres Aufenthalts hier ganz auf die Rechenstunden zu verzichten.«

Lord Winstead lachte und blickte dann zu Anne. »Soll ich Sie auf Ihr Zimmer bringen lassen?«

»Danke, Mylord.«

»Kommen Sie mit. Ich kümmere mich darum.« Zu den anderen sagte er: »Ihr anderen geht schon mal ins Frühstückszimmer voraus. Mrs. Barnaby hat die Lakaien dort aufdecken lassen, weil wir heute Abend ja ganz zwanglos speisen wollen.«

Anne blieb nichts anders übrig, als ihm durch die Eingangshalle und dann durch einen langen Gang, an dessen Wänden unzählige Ahnenporträts hingen, zu folgen. Das muss der ältere Teil des Gebäudes sein, dachte sie, als sie die elisabethanische Halskrause des dicklichen Herrn betrachtete, der auf sie herabstarrte. Sie blickte sich nach einem Dienstmädchen oder einem Lakaien oder sonst irgendwem um, der sie zu ihrem Zimmer führen würde, doch sie und der Earl waren ganz allein.

Bis auf zwei Dutzend Winsteads aus vergangenen Zeiten.

Anne blieb stehen und verschränkte die Hände. »Bestimmt möchten Sie zu Ihrer Familie zurückkehren. Vielleicht könnte ein Dienstmädchen …«

»Da wäre ich aber ein schlechter Gastgeber«, entgegnete er glatt. »Sie wie ein Gepäckstück weiterzureichen!«

»Wie bitte?«, rief Anne erschrocken. Er konnte doch nicht vorhaben …

Er lächelte. Wie ein Wolf. »Ich begleite Sie selbst auf Ihr Zimmer.«

Daniel wusste nicht, welcher Teufel ihn geritten hatte, doch Miss Wynter hatte so bezaubernd ausgesehen, als sie zum dritten Earl of Winstead hinauflinste (der sich offensichtlich zu viele Truthahnkeulen mit Heinrich dem VIII . geteilt hatte). Ursprünglich hatte er ein Dienstmädchen rufen wollen, das Miss Wynter dann zu ihrem Zimmer geleitet hätte, wirklich, aber anscheinend konnte er ihrem zarten Naserümpfen nicht widerstehen.

»Lord Winstead«, begann sie, »Ihnen ist doch sicher bewusst, wie ungehörig ein solches … ein solches …«

»Oh, keine Sorge«, sagte er, froh, sie von ihren Artikulationsschwierigkeiten erlösen zu können, »Ihre Tugend ist bei mir völlig sicher.«

»Nicht aber mein Ruf!«

Da musste er ihr recht geben.

»Ich mache so schnell wie …« Er hielt inne. »Na, eben so schnell, wie ich kann.«

Sie blickte ihn an, als wären ihm Hörner gewachsen. Hässliche Hörner.

Er lächelte forsch. »Ich werde im Handumdrehen wieder bei den anderen sein; niemand wird merken, dass ich Sie gebracht habe.«

»Darum geht es nicht.«

»Nicht? Sie haben gesagt, Sie machen sich Sorgen um Ihren Ruf.«

»Stimmt, aber …«

»So schnell«, unterbrach er sie und erstickte damit jedweden Protest im Keim, den sie auf den Lippen gehabt haben mochte, »dass ich kaum Zeit hätte haben können, Sie zu verführen, selbst wenn ich das im Sinn gehabt haben sollte.«

Sie rang nach Luft. »Mylord!«

Er hätte es nicht sagen sollen. Aber es war so unterhaltsam.

»Ich mache nur Spaß.« Er grinste.

Sie musterte ihn voller Misstrauen.

»Es zu sagen war der Spaß«, erklärte er rasch. »Nicht das Gefühl an sich.«

Sie schwieg weiterhin. Und meinte schließlich: »Ich glaube, Sie sind übergeschnappt.«

»Das ist sicher eine Möglichkeit«, stimmte er freundlich zu. Er deutete auf den Korridor, der zur Westtreppe führte. »Hier entlang.« Er wartete einen Augenblick und fügte hinzu: »Es ist ja nicht so, als hätten Sie eine Wahl.«

Sie erstarrte, und er begriff, dass er einen Fehler begangen hatte. Einen Fehler, der mit irgendetwas in ihrer Vergangenheit zu tun hatte, in einer anderen Zeit, in der sie keine Wahl gehabt hatte.

Aber vielleicht war es auch einfach deswegen ein Fehler, weil es eben ein Fehler war, ganz unabhängig von ihrer Geschichte. Er kniff weder Dienstmädchen in den Po noch versuchte er, junge Damen auf Gesellschaften in die Ecke zu drängen. Er hatte sich immer bemüht, Frauen mit Respekt zu begegnen. Und niemals hatte er die Absicht gehabt, Miss Wynter irgendwie geringer zu behandeln.

»Bitte verzeihen Sie.« Ehrerbietig neigte er den Kopf. »Ich habe mich danebenbenommen.«

Ihre Lippen öffneten sich, und sie blinzelte mehrmals in schneller Folge. Anscheinend wusste sie nicht, ob sie ihm glauben sollte, und wie betäubt erkannte er, dass ihre Unentschlossenheit ihm schier das Herz brach.

»Ich meine es ehrlich«, versicherte er eindringlich.

»Natürlich«, erwiderte sie schnell, und er wünschte sich, dass es stimmte. Er hoffte es. Sicher konnte er sich schließlich nicht sein, möglicherweise war sie einfach nur höflich.

»Ich möchte jedoch noch betonen«, meinte er, »dass ich nicht deswegen gesagt habe, Sie hätten keine Wahl, weil Sie bei meiner Tante angestellt sind, sondern weil Sie sich in dem Haus einfach nicht auskennen.«

»Natürlich.« Regungslos stand sie da.

Aber er hatte das Gefühl, noch mehr sagen zu müssen, weil … weil … weil er die Vorstellung nicht ertragen konnte, dass sie schlecht von ihm dachte. »Jeder Gast wäre in derselben Lage gewesen«, schob er hinterher und betete im Stillen, er möge sie von der Aufrichtigkeit seiner Worte überzeugen.

Sie machte den Eindruck, als wollte sie etwas entgegnen, aber dann schüttelte sie nur leicht den Kopf, vermutlich weil es ein weiteres »Natürlich« gewesen wäre. Er wartete geduldig – sie stand immer noch vor dem Gemälde des dritten Earls –, zufrieden, sie einfach nur anzusehen, bis sie schließlich sagte: »Danke.«

Er nickte. Es war eine elegante Bewegung, vornehm und weltgewandt. Auf diese Art hatte er schon tausendmal einen Dank quittiert. Doch innerlich wurde er von einer Woge der Erleichterung überrollt. Eine Erfahrung, die ihn Demut lehrte. Oder ihn völlig aus der Fassung brachte.

»Sie sind kein Mann, der andere missbraucht«, stellte sie fest, und in diesem Augenblick verstand er.

Jemand hatte ihr wehgetan. Anne Wynter wusste, was es bedeutete, einem Stärkeren, Mächtigeren ausgeliefert zu sein.

Daniel spürte, wie etwas in ihm sich vor Zorn verhärtete. Oder vielleicht vor Kummer. Oder Bedauern.

Er konnte nicht benennen, was er fühlte. Zum ersten Mal in seinem Leben waren seine Gedanken völlig in Aufruhr, jagten einander, überschrieben einander wie eine sich ständig ändernde Geschichte. Die einzige Gewissheit, die ihm blieb, war, dass es ihn seine ganze Kraft kostete, sie nicht in die Arme zu schließen. Sein Körper erinnerte sich an sie, ihren Duft, ihre Rundungen, selbst die Wärme ihrer Haut an seiner.

Er wollte sie. Er wollte sie ganz.

Doch seine Familie wartete mit dem Abendessen auf ihn, und seine Ahnen blickten aus ihren Bilderrahmen auf ihn herab, und sie – die Frau, um die es ging – beobachtete ihn mit einer Vorsicht, die ihn zutiefst berührte.

»Wenn Sie hier warten«, sagte er ruhig, »hole ich ein Dienstmädchen, das Sie zu Ihrem Zimmer bringt.«

»Danke«, erwiderte sie und deutete einen Knicks an.

Er setzte sich in Bewegung, doch nach ein paar Schritten blieb er stehen. Als er sich zu ihr umdrehte, stand sie noch an der Stelle, an der er sie zurückgelassen hatte.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, erkundigte sie sich.

»Ich möchte nur, dass Sie wissen …« Er verstummte.

Was? Was sollte sie wissen? Er hatte keine Ahnung, warum er angefangen hatte zu reden.

Er war ein Narr. Aber das war ihm ohnehin klar. Er war ein Narr, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

»Mylord?«, fragte sie, nachdem er eine ganze Weile schweigend dagestanden hatte, ohne seinen Satz zu beenden.

»Schon gut«, murmelte er und wandte sich wieder um, in der Erwartung, dass ihn seine Füße aus der Galerie tragen würden. Doch sie taten es nicht. Er stand wie angewurzelt, atemlos, mit dem Rücken zu ihr, während sein Verstand ihn anschrie, er solle sich doch einfach … bewegen. Mach einen Schritt. Los!

Doch stattdessen drehte er sich wieder um – irgendein verräterischer Teil von ihm wollte unbedingt noch einmal einen Blick auf sie werfen.

»Wie Sie meinen«, sagte sie ruhig.

Und dann, bevor er es sich noch anders überlegen konnte, ging er zu ihr zurück. »Genau«, erwiderte er.

»Wie bitte?« Ihr Miene zeigte Verwirrung. Verwirrung, in die sich Beunruhigung mischte.

»Wie ich meine«, wiederholte er. »Das haben Sie gesagt.«

»Mylord, ich glaube nicht …«

Drei Fuß vor ihr machte er halt. Außer Reichweite. Er vertraute sich, aber nicht vollkommen.

»Sie sollten das nicht tun«, sagte sie leise.

Aber es war schon zu spät. »Ich möchte Sie küssen. Das war es, was Sie wissen sollten. Denn wenn ich es nicht tue, und es sieht ganz danach aus, weil Sie mir das nicht gestatten, zumindest jetzt nicht … also, wenn ich es nicht tue, dann sollten Sie wissen, dass ich es gern getan hätte.« Er blickte auf ihren Mund, ihre vollen, zitternden Lippen. »Es immer noch tun will.«

Er hörte, wie ihr der Atem stoßweise über die Lippen kam, aber als er ihr in die Augen sah, die so dunkelblau waren, dass sie fast schwarz wirkten, entdeckte er, dass sie ihn begehrte. Er hatte sie erschreckt, das war offensichtlich, aber sie wollte ihn dennoch.

Jetzt würde er sie nicht küssen, er hatte begriffen, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war. Aber er hatte es ihr mitteilen müssen. Sie hatte erfahren müssen, was genau er wollte.

Was sie ebenfalls wollte, wenn sie es sich nur eingestehen würde.

»Dieser Kuss.« Seine Stimme war rau vor mühsam beherrschtem Verlangen. »Dieser Kuss … ich wünsche ihn mir mit einer Leidenschaft, die mich erschüttert. Ich habe keine Ahnung, warum ich mir das wünsche, nur dass ich mich von dem Moment an danach sehnte, als ich Sie am Pianoforte gesehen habe, und seither ist es nur noch stärker geworden.«

Sie schluckte, und der Schein der Kerzen, die den Gang säumten, flackerte über ihren zarten Hals. Aber Miss Wynter ging nicht auf seine Worte ein. Das war in Ordnung, er hatte nicht erwartet, dass sie sich in ein derartiges Gespräch verwickeln ließ.

»Ich will diesen Kuss«, wiederholte er heiser, »und dann will ich noch mehr. Ich will Dinge, von denen Sie vermutlich noch nicht einmal ahnen, dass es sie gibt.«

Schweigend standen sie da, sahen sich tief in die Augen.

»Aber vor allem«, raunte er, »möchte ich Sie küssen.«

Und dann wisperte sie, und ihre Stimme war kaum lauter als ein Hauch: »Ich will es auch.«