11. KAPITEL

Als Anne sechs Stunden später die schwarze Schärpe zurechtrückte, die sie als die böse Königin kennzeichnen sollte, musste sie einräumen, dass sie einen äußerst vergnüglichen Nachmittag erlebte.

Grotesk natürlich, auch ohne jeden akademischen Wert, aber dennoch äußerst vergnüglich.

Sie amüsierte sich.

Wann hatte sie sich zum letzten Mal so sehr amüsiert?

Sie hatten den ganzen Tag geprobt (nicht dass sie wirklich vorhatten, Die merkwürdige und traurige Tragödie des Lords, der nicht Finstead hieß tatsächlich vor Publikum aufzuführen), und sie hätte nicht sagen können, wie oft sie sich vor Lachen hatte unterbrechen müssen.

»Du wirst meine Tochter niemals zermalmen!«, deklamierte sie und fuchtelte mit einem Stock herum.

Elizabeth duckte sich.

»Oh!« Anne verzog das Gesicht. »Tut mir furchtbar leid. Alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung«, versicherte Elizabeth ihr. »Ich …«

»Miss Wynter, Sie fallen schon wieder aus der Rolle!«, tadelte Harriet.

»Ich hätte Elizabeth beinahe getroffen«, erklärte Anne.

»Das ist mir egal.«

Empört stieß Elizabeth die Luft aus. »Mir nicht.«

»Vielleicht sollte sie besser keinen Stock benutzen«, gab Frances zu bedenken.

Harriet warf ihrer Schwester einen verächtlichen Blick zu und wandte sich dann den anderen zu. »Könnten wir bitte zum Text zurückkehren«, sagte sie geziert und überaus ernst.

»Natürlich«, entgegnete Anne und blickte in ihr Skript. »Wo waren wir? Ach ja, zerschmettere mir die Tochter nicht, und so weiter.«

»Miss Wynter.«

»Oh nein, ich habe den Text nicht gesprochen, nur gesucht.« Sie räusperte sich und wedelte mit dem Stock herum, wobei sie einen großen Bogen um Elizabeth machte. »Du wirst meine Tochter niemals zermalmen!«

Wie sie das hervorbrachte, ohne lachen zu müssen, war ihr ein Rätsel.

»Ich will sie nicht zermalmen«, erklärte Lord Winstead so theatralisch, dass es auch das Publikum im Drury Lane zum Weinen gebracht hätte. »Ich will sie zur Frau nehmen!«

»Niemals.«

»Nein, nein, Miss Wynter!«, rief Harriet. »Sie klingen überhaupt nicht erregt.«

»Nun, das bin ich auch nicht«, gab Anne zu. »Die Tochter ist ein ziemlicher Dummkopf. Ich hätte gedacht, die böse Königin sei froh, sie endlich los zu sein.«

Harriet seufzte den Seufzer der Leidgeprüften. »Das mag sein, aber die böse Königin findet eben nicht, dass ihre Tochter ein Dummkopf ist.«

»Ich finde, sie ist ein Dummkopf«, mischte sich Elizabeth ein.

»Aber du bist die Tochter«, sagte Harriet.

»Ich weiß! Ich trage ihren Text schließlich schon den ganzen Tag vor. Sie ist völlig idiotisch.«

Während sie miteinander stritten, trat Lord Winstead näher an Anne heran und raunte ihr zu: »Ich komme mir fast wie ein lüsterner alter Mann vor, wenn ich Elizabeth heiraten will.«

Sie lachte.

»Sie würden wohl nicht in Erwägung ziehen, die Rolle zu tauschen?«

»Mit Ihnen?«

Er machte ein finsteres Gesicht. »Mit Elizabeth.«

»Nachdem Sie gesagt haben, ich sei als böse Königin vollkommen? Eher nicht.«

Er beugte sich etwas vor. »Ich will hier keine Haarspalterei betreiben, aber ich glaube, ich habe gesagt, Sie seien als Königin vollkommen böse.«

»Oh ja, das ist so viel besser.« Anne runzelte die Stirn. »Haben Sie Frances gesehen?«

Er nickte nach rechts. »Ich glaube, sie ist ins Gebüsch davongaloppiert.«

Besorgt folgte Anne seinem Blick. »Davongaloppiert?«

»Sie hat mir gesagt, sie wolle fürs nächste Stück üben.«

Anne sah ihn blinzelnd an.

»Wenn sie ein Einhorn sein darf.«

»Ach, natürlich.« Sie lachte. »Sie ist ziemlich hartnäckig.«

Lord Winstead grinste, und Annes Herz tat einen Satz. Er hatte ein so charmantes Lächeln. Spitzbübisch und verwegen, aber mit … Anne hatte keine Ahnung, wie sie es beschreiben sollte, nur, dass er ein guter Mann war, ein ehrenhafter Mann, der Gut und Böse voneinander unterscheiden konnte. So verführerisch sein Lächeln auch sein mochte …

Sie wusste, dass er ihr niemals wehtun würde.

Darauf hatte sie sich nicht einmal bei ihrem eigenen Vater verlassen können.

»Sie wirken plötzlich so ernst«, meinte Lord Winstead.

Anne schüttelte die Erinnerung ab. »Ach, es ist nichts«, sagte sie rasch und hoffte, dabei nicht rot zu werden. Manchmal musste sie sich daran erinnern, dass er ihr nicht in den Kopf schauen konnte. Sie sah zu Harriet und Elizabeth hinüber, die immer noch stritten, allerdings nicht mehr über die Intelligenz (oder den Mangel daran) der schönen Prinzessin, sondern über …

Lieber Himmel, redeten die beiden etwa über Wildschweine?

»Ich glaube, wir müssen eine Pause einlegen.« Anne deutete auf die beiden Streithähne.

»Lassen Sie sich eines gesagt sein«, erklärte Lord Winstead. »Ich werde kein Wildschwein spielen.«

»Ich denke nicht, dass Sie da etwas zu befürchten haben«, meinte Anne. »Diese Rolle wird sich bestimmt Frances unter den Nagel reißen.«

Er sah sie an. Sie sah ihn an. Und dann brachen sie in Gelächter aus. Sie lachten so sehr, dass sogar Harriet und Elizabeth mit dem Zanken aufhörten.

»Was gibt es denn da zu lachen?«, fragte Harriet, gefolgt von Elizabeths äußerst misstrauischem: »Lacht ihr über mich?«

»Wir lachen über uns alle.« Lord Winstead wischte sich die Tränen aus den Augen. »Sogar über uns selbst.«

»Ich habe Hunger«, tat Frances kund, die in diesem Augenblick aus dem Gebüsch zurückkam. An ihrem Kleid hafteten ein paar Blätter, und seitlich am Kopf ragte ein kleines Ästchen heraus. Anne glaubte nicht, dass es das Horn des Einhorns darstellen sollte, doch die Wirkung war dennoch ganz reizend.

»Ich habe auch Hunger.« Harriet seufzte.

»Eine von euch könnte zum Haus laufen und in der Küche einen Picknickkorb zusammenstellen lassen«, schlug Anne vor. »Wir könnten alle eine kleine Stärkung gebrauchen.«

»Ich gehe«, bot Frances an.

»Ich komme mit«, sagte Harriet. »Beim Gehen habe ich manchmal die besten Einfälle.«

Elizabeth sah ihre Schwestern und dann die Erwachsenen an. »Also, allein bleibe ich aber nicht hier«, erklärte sie, anscheinend zählten die Erwachsenen nicht als richtige Gesellschaft. Und so machten sich die drei Mädchen zum Haus auf, erst gingen sie nur, doch sehr bald begannen sie zu rennen.

Anne schaute ihnen nach, während sie aus ihrem Blickfeld verschwanden. Vermutlich sollte sie nicht mit Lord Winstead allein hier draußen verweilen, aber es fiel ihr schwer, Einwände zu erheben. Es war helllichter Tag, sie waren draußen, und außerdem hatten sie an diesem Nachmittag so viel Spaß gehabt, dass sie jetzt einfach keine Einwände erheben mochte .

Sie fühlte sich wohl und lächelte.

»Ich finde, Sie können Ihre Schärpe jetzt abnehmen«, meinte Lord Winstead. »Niemand muss die ganze Zeit böse sein.«

Anne lachte und ließ den schwarzen Stoff durch die Finger gleiten. »Ich weiß nicht. Ich stelle fest, dass es mir großen Spaß macht, böse zu sein.«

»Das glaube ich Ihnen sofort. Ich muss zugeben, dass ich fast ein wenig neidisch bin auf all Ihre ruchlosen Taten. Der arme Lord Finstead oder wie immer er dann heißen mag, könnte ein wenig Bosheit vertragen. Er ist eine recht unglückselige Gestalt.«

»Ah, aber am Ende bekommt er die Prinzessin«, erinnerte Anne ihn, »und die böse Königin muss für den Rest ihres Lebens auf einem Dachboden leben.«

»Was doch die Frage aufwirft«, stirnrunzelnd sah er sie an, »warum Lord Finsteads Geschichte traurig ist. Merkwürdig unterschreibe ich sofort, aber wenn die böse Königin auf einen Dachboden verbannt wird …«

»Es ist sein Dachboden«, unterbrach Anne ihn.

»Oh.« Er machte den Eindruck, als müsste er sich das Lachen verkneifen. »Nun, dann sieht die Sache natürlich anders aus.«

Und dann lachten sie. Beide. Gemeinsam.

Schon wieder.

»Oh, ich habe auch Hunger«, sagte Anne, sobald ihr lautes Gelächter zu einem leisen Lächeln geworden war. »Hoffentlich trödeln die Mädchen nicht allzu sehr.«

Und dann spürte sie, wie Lord Winstead ihre Hand ergriff. »Ich hoffe, dass sie ganz lang brauchen«, sagte er leise. Dann zog er Anne an sich, und sie ließ es zu, denn in diesem Augenblick war sie so glücklich, dass sie sich weigerte, daran zu denken, auf wie viele Arten er ihr später das Herz brechen würde.

»Ich habe doch gesagt, dass ich Sie wieder küssen werde«, flüsterte er.

»Sie haben gesagt, Sie würden es versuchen.«

Seine Lippen berührten die ihren. »Ich wusste, dass ich es schaffen würde.«

Er küsste sie noch einmal, und sie entzog sich ihm, aber nur ein bisschen. »Sie sind sich Ihrer Sache ja ziemlich sicher.«

»Mmm-hmmm.« Seine Lippen fanden ihren Mundwinkel, streiften weich über ihre Haut, bis Anne nicht länger widerstehen konnte, den Kopf in den Nacken sinken ließ und ihm ihren Hals darbot.

Die Pelisse rutschte ihr von den Schultern, legte in der kühlen Nachmittagsluft noch mehr Haut frei, und er küsste sie direkt am Rand ihres Ausschnitts, ehe er zu ihren Lippen zurückkehrte. »Lieber Himmel, ich begehre dich so sehr«, sagte er, und seine Stimme war nicht viel mehr als ein Keuchen. Er hielt sie fester, umfasste ihr Hinterteil, presste sie an sich … bis sie eine verrückte Sehnsucht durchströmte, ihm die Beine um den Leib zu schlingen. Das war es doch, was er wollte, und sie wollte es auch.

Dem Himmel sei Dank für ihren Rock, der möglicherweise das einzige Hindernis war, das sie davon abhielt, sich absolut schamlos aufzuführen. Trotzdem, als er sich mit einer Hand in ihr Mieder stahl, wehrte sie sich nicht. Und als er ihr mit der Handfläche über die Brustspitze strich, stöhnte sie nur.

Das hier musste aufhören. Nur nicht sofort.

»Ich habe letzte Nacht von dir geträumt«, flüsterte er. »Willst du wissen, was ich geträumt habe?«

Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie es natürlich wissen wollte, unbedingt. Aber sie kannte ihre Grenzen. Allzu weit durfte sie sich auf diesem Pfad nicht vorwagen. Wenn sie von seinen Träumen hörte, wenn sie die Worte aus seinem Mund hörte und sie sacht auf sie herabregneten, dann würde sie alles wollen, alles, was er sagte.

Und etwas zu wollen, das sie nicht bekommen konnte, tat einfach zu sehr weh.

»Wovon hast du geträumt?«, fragte er.

»Ich träume nicht«, erwiderte sie.

Er wurde still, löste sich ein wenig von ihr, um sie anzusehen. In seinen Augen – diesen überwältigenden strahlend blauen Augen – stand Neugier. Und vielleicht eine Spur Traurigkeit.

»Ich träume nicht«, wiederholte sie. »Seit Jahren nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. Inzwischen war es für sie so normal; bis zu diesem Augenblick war sie gar nicht auf die Idee gekommen, wie seltsam diese Tatsache auf andere wirken könnte.

»Und als Kind? Hast du da geträumt?«, fragte er.

Sie bejahte. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, vielleicht hatte sie auch nicht darüber nachdenken wollen. Doch wenn sie seit ihrem Aufbruch aus Northumberland vor acht Jahren doch einmal geträumt haben sollte, so konnte sie sich nicht daran erinnern. Morgens, kurz bevor sie die Augen öffnete, war rings um sie nichts als die Schwärze der Nacht. Ein vollkommen leerer Ort, erfüllt von absolutem Nichts. Keine Hoffnungen. Keine Träume.

Aber auch keine Albträume.

Es erschien ihr ein geringer Preis. Sie vergeudete schon genug wache Stunden damit, sich wegen George Chervil und seines irren Rachefeldzugs zu sorgen.

»Du findest das nicht irritierend?«

»Dass ich nicht träume?« Sie wusste, was er meinte, aber aus irgendeinem Grund war es ihr ein Bedürfnis, es noch einmal auszusprechen.

Er nickte.

»Nein.« Ihre Stimme klang ausdruckslos. Aber fest. Es mochte irritierend sein, aber sie war froh darum.

Er schwieg, doch er betrachtete sie mit so durchdringender Intensität, dass sie den Blick abwenden musste. Er sah viel zu viel von ihr. In weniger als einer Woche hatte dieser Mann mehr über sie herausbekommen, als sie irgendjemandem während der letzten acht Jahre offenbart hatte. Es war beunruhigend.

Es war gefährlich.

Widerstrebend entfernte sie sich von ihm, so weit, dass er sie nicht mehr erreichte. Sie bückte sich, um ihre Pelisse vom Boden aufzuheben und legte sie sich wortlos um die Schultern. »Bald kommen die Mädchen zurück«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte. Sie würden frühestens in einer Viertelstunde zurückkehren, vermutlich noch später.

»Gehen wir ein wenig spazieren.« Er bot ihr den Arm.

Misstrauisch beäugte sie ihn.

»Ich habe nicht bei allem, was ich tue, unlautere Absichten«, sagte er und lachte. »Ich dachte, ich könnte dir einen meiner Lieblingsorte hier auf Whipple Hill zeigen.« Als sie sich bei ihm einhakte, fügte er hinzu: »Der See ist nicht weit.«

»Gibt es Fische darin?«, erkundigte sie sich. Sie konnte sich nicht daran entsinnen, wann sie zum letzten Mal angeln gegangen war, aber als Kind hatte es ihr großen Spaß gemacht. Sie und Charlotte waren der Fluch ihrer Mutter gewesen, die gewünscht hatte, dass sie sich die Zeit auf weiblichere Art vertrieben. Was sie irgendwann auch gemacht hatten. Aber selbst nachdem Anne angefangen hatte, sich für Kleider zu begeistern und genau aufzupassen, wie oft ein heiratsfähiger junger Mann eine heiratsfähige junge Dame ansah …

… war sie immer noch furchtbar gern angeln gegangen. Sie hatte sogar das Schuppen und Ausnehmen der Fische übernommen. Und natürlich das Essen. Sie konnte nicht leugnen, wie befriedigend sie es fand, ihr eigenes Essen zu fangen.

»Es sollten welche darin sein«, antwortete Lord Winstead. »Vor meiner Abreise wurde der See mit Fischen bestückt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Verwalter die Anweisung missachtet hat.« Ihr Blick musste ihr Entzücken verraten haben, denn er lächelte nachsichtig und fragte: »Demnach gehst du gern angeln?«

»Ach, furchtbar gern«, erwiderte sie und seufzte sehnsüchtig. »Als Kind …« Aber sie beendete den Satz nicht. Einen Moment lang hatte sie vergessen, dass sie nicht von ihrer Kindheit sprechen wollte, jetzt war es ihr wieder eingefallen.

Aber wenn er neugierig war – und sie war davon überzeugt, dass er es war –, so ließ er es sich nicht anmerken. Während sie den sanft geneigten Pfad zu einem kleinen Wäldchen hinabschlenderten, sagte er nur: »Ich habe als Kind auch gern geangelt. Ich war dauernd mit Marcus hier – Lord Chatteris«, fügte er hinzu, da sie den Earl natürlich nicht mit Vornamen kannte.

Anne nahm die Landschaft in sich auf. Es war ein herrlicher Frühlingstag, in den Blättern und dem Gras schienen hundert verschiedene Grüntöne ineinanderzufließen. Die Welt fühlte sich völlig neu an, und täuschend hoffnungsvoll. »War Lord Chatteris als Kind oft zu Besuch?«, fragte sie, darauf bedacht, die Unterhaltung in harmlosen Bahnen zu halten.

»Ständig«, erwiderte Lord Winstead. »Oder zumindest in den Ferien. Als wir dann dreizehn waren, bin ich ohne ihn gar nicht mehr nach Hause gefahren, glaube ich.« Sie gingen noch ein Stück, und dann streckte er eine Hand aus und pflückte ein tief hängendes Blatt ab. Er betrachtete es, runzelte die Stirn, schnipste es dann mit den Fingern fort. Es wirbelte durch die Luft, und etwas an seiner Bewegung entfaltete anscheinend faszinierende Wirkung, denn Anne und er blieben stehen und sahen zu, wie es langsam ins Gras segelte.

Und dann nahm Lord Winstead den Gesprächsfaden wieder auf, als hätte es diesen Moment nie gegeben. »Marcus hatte kaum Familie. Keine Geschwister, und seine Mutter starb, als er noch ziemlich klein war.«

»Und sein Vater?«

»Ach, mit dem hat er kaum geredet.« Er erzählte das äußerst beiläufig, als wären ein Vater und ein Sohn, die nicht miteinander sprachen, nicht weiter ungewöhnlich. Irgendwie passt das nicht recht zu ihm, dachte Anne. Es war nicht direkt gefühllos, aber … Nun, sie wusste nicht, wie sie es benennen sollte, nur dass es sie überraschte. Und dann war sie überrascht, dass sie ihn bereits gut genug kannte, um eine Unstimmigkeit zu bemerken.

Überrascht und vielleicht ein wenig besorgt, denn eigentlich hätte sie ihn nicht so gut kennen dürfen. Das schickte sich nicht für sie, eine solche Verbindung konnte nur mit einem gebrochenen Herzen enden. Sie wusste das, und er sollte es auch wissen.

»Waren sie entfremdet?« Ihr Interesse an Lord Chatteris’ Geschichte war aufrichtig. Sie kannte den Earl zwar nicht, war ihm nur einmal kurz über den Weg gelaufen, aber anscheinend hatten sie etwas gemeinsam.

Lord Winstead schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube eher, dass der ältere Lord Chatteris einfach nichts zu sagen hatte.«

»Auch nicht zu seinem eigenen Sohn?«

Er zuckte mit den Achseln. »Das ist gar nicht so abwegig. Die Hälfte meiner Schulkameraden hätte vermutlich nicht sagen können, welche Augenfarbe ihre Eltern haben.«

»Blau«, flüsterte Anne, die urplötzlich von einer Woge von Heimweh überrollt wurde. »Und grün.«

Die Augen ihrer Schwestern waren ebenfalls blau und grün, doch Anne hatte sich wieder in der Gewalt, ehe sie auch noch damit herausplatzen konnte.

Er neigte den Kopf, stellte aber keine Fragen, und dafür war sie ihm wahnsinnig dankbar. Stattdessen sagte er: »Mein Vater hatte genau dieselben Augen wie ich.«

»Und deine Mutter?« Anne war seiner Mutter begegnet, hatte aber nicht auf deren Augen geachtet. Und sie wollte, dass sich das Gespräch weiter hauptsächlich um ihn drehte. Das machte alles leichter.

Ganz zu schweigen davon, dass sie dieses Thema tatsächlich fesselte.

»Meine Mutter hat ebenfalls blaue Augen«, sagte er, »aber dunkler. Nicht so dunkel wie deine …« Er drehte den Kopf, musterte sie einen Moment. »Aber ich muss sagen, ich glaube nicht, dass ich schon einmal Augen wie deine gesehen habe. Sie wirken beinahe violett.« Er legte den Kopf schief. »Aber das sind sie nicht. Sie sind blau.«

Anne lächelte und wandte den Blick ab. Sie war schon immer stolz auf ihre Augen gewesen. Jetzt war es die einzige Eitelkeit, die sie sich noch gestattete. »Von Weitem sehen sie immer braun aus«, sagte sie.

»Umso mehr Grund, die Zeit zu genießen, in der man sie aus nächster Nähe betrachten kann«, murmelte er.

Sie hielt den Atem an und warf ihm einen verstohlenen Blick zu, doch er schaute sie nicht länger an. Stattdessen zeigte er nach vorn und sagte: »Kannst du den See schon entdecken? Direkt hinter den Bäumen.«

Anne reckte den Hals und sah zwischen den Baumstämmen silbernes Wasser glitzern.

»Im Winter sieht man den See ziemlich gut, aber die Blätter verdecken ihn.«

»Es ist wunderschön«, sagte Anne ehrlich. Auch jetzt, da der Blick auf das Wasser nicht sonderlich gut war, war es idyllisch. »Wird der See so warm, dass man darin schwimmen kann?«

»Nicht mit Absicht, aber früher oder später ging jedes Familienmitglied im See baden.«

Anne lachte. »Ach herrje.«

»Manche von uns mehr als einmal«, sagte Lord Winstead betreten.

Sie blickte zu ihm hinüber, und er sah so hinreißend jungenhaft aus, dass es ihr schlicht die Sprache verschlug. Wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie mit sechzehn ihm begegnet wäre und nicht George Chervil? Oder wenn schon nicht ihm (einen Earl hätte sie nicht einmal als Annelise Shawcross heiraten können), dann jemandem, der war wie er. Jemandem namens Daniel Smythe oder Daniel Smith. Aber es wäre Daniel gewesen. Ihr Daniel.

Er wäre vielleicht Erbe eines Gutes gewesen, hätte gar keinen Titel gehabt, wäre ein einfacher Landedelmann gewesen mit einem kleinen, gemütlichen Haus, vier Hektar Land und einem Rudel träger Hunde.

Und sie hätte es geliebt. Jeden einzelnen alltäglichen Moment.

War sie wirklich einmal auf Aufregungen aus gewesen? Mit sechzehn hatte sie gedacht, sie wolle unbedingt nach London, Theater und Opern besuchen und jede Gesellschaft, zu der sie eine Einladung bekam. Eine flotte verheiratete junge Frau – das hatte sie sein wollen, wie sie Charlotte damals erzählt hatte.

Aber das war nichts als jugendliche Torheit gewesen. Selbst wenn sie einen Mann geheiratet hätte, der sie nach London gebracht und ins glitzernde Leben des ton eingeführt hätte, wäre sie des Ganzen doch bestimmt überdrüssig geworden. Gewiss hätte sie sich bald nach Northumberland gesehnt, wo die Uhren langsamer tickten und die Luft nicht rußig, sondern neblig war.

Alles, was sie gelernt hatte, hatte sie zu spät gelernt.

»Sollen wir diese Woche einmal angeln gehen?«, fragte er, als sie an dem Ufer des Sees angelangt waren.

»Oh, das wäre himmlisch.« Die Worte sprudelten ihr nur so über die Lippen. »Die Mädchen müssen wir natürlich auch mitnehmen.«

»Natürlich«, bestätigte er, ganz der Gentleman.

Eine Weile standen sie schweigend da. Anne hätte den ganzen Tag dort bleiben und auf das stille, glatte Wasser hinausblicken können. Hin und wieder durchbrach ein Fisch die Oberfläche, worauf sich an dieser Stelle konzentrische Ringe wie auf einer Schießscheibe ausbreiteten.

»Wenn ich ein Junge wäre«, sagte Daniel, ebenso begeistert vom Wasser wie sie, »müsste ich jetzt einen Stein über das Wasser hüpfen lassen.«

Daniel. Seit wann sprach sie ihn in Gedanken mit dem Vornamen an?

»Wenn ich ein Mädchen wäre«, sagte sie, »müsste ich Strümpfe und Schuhe ausziehen.«

Er nickte, und mit schiefem Grinsen gestand er: »Wahrscheinlich hätte ich dich hineingestoßen.«

Sie hielt den Blick auf die Wasseroberfläche gerichtet. »Ach, ich hätte dich schon mitgenommen.«

Er lachte, und dann schwiegen sie wieder, vollkommen zufrieden, das Wasser zu betrachten, die Fische und die Löwenzahnschirmchen, die auf der Wasseroberfläche trieben.

»Das war ein vollkommener Tag«, sagte Anne leise.

»Fast«, raunte Daniel, und dann lag sie wieder in seinen Armen. Er küsste sie, aber diesmal war es anders. Nicht so drängend. Nicht so feurig. Die Berührung ihrer Lippen war herzzerreißend weich, sie löste in Anne nicht das verhängnisvolle Bedürfnis aus, sich an ihn zu drängen und ihn in sich spüren zu wollen. Stattdessen vermittelte er ihr ein Gefühl der Schwerelosigkeit, als könnte sie seine Hand nehmen und mit ihm davonschweben, solange er nicht aufhörte, sie zu küssen. Ein Prickeln überlief sie, und sie stellte sich auf die Zehenspitzen, fast als wartete sie auf den Moment, in dem sie abheben würden.

Und dann beendete er den Kuss, legte seine Stirn an die ihre. »So«, sagte er und umfasste ihr Gesicht. »Jetzt ist es ein vollkommener Tag.«