17. KAPITEL

Am folgenden Tag traf Daniel genau fünf Minuten vor elf am Pleinsworth House ein. Im Geiste hatte er eine Liste Fragen vorbereitet, die er Anne stellen wollte, doch als der Butler ihn einließ, war das ganze Haus in Aufruhr. Harriet und Elizabeth schrien sich im hinteren Teil der Eingangshalle an, ihre Mutter wiederum schrie die beiden an, und vor dem Salon saßen drei Dienstmädchen auf einer Bank ohne Lehne und schluchzten.

»Was ist denn los?«, fragte er Sarah, die versuchte, eine sichtlich verstörte Frances in den Salon zu lotsen.

Sarah warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. »Es ist wegen Miss Wynter. Sie ist verschwunden.«

Daniel blieb das Herz stehen. »Was? Wann? Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht«, fuhr Sarah ihn an. »Sie hat mich nicht in ihre Pläne eingeweiht.« Sie warf ihm einen verärgerten Blick zu, ehe sie sich wieder Frances zuwandte, die so heftig weinte, dass sie kaum Luft bekam.

»Sie ist nicht zum Unterricht heute Morgen erschienen«, schluchzte Frances.

Daniel sah seine kleine Cousine an. Frances’ Augen waren rot gerändert, ihre Wangen waren tränenverschmiert, und sie zitterte am ganzen Leib. Sie sieht so aus, wie ich mich fühle, dachte er. Er ging neben ihr in die Hocke, damit er ihr in die Augen schauen konnte. »Wann fängt euer Unterricht an?«, fragte er.

Frances rang nach Luft, stieß dann hervor: »Halb zehn.«

Daniel wirbelte zu Sarah herum. »Sie ist seit beinahe zwei Stunden verschwunden und keiner hat mich benachrichtigt?«

»Frances, bitte«, flehte Sarah, »du musst versuchen, dich zu beruhigen. Und, nein«, fuhr sie, an Daniel gewandt, wütend fort, »niemand hat dich benachrichtigt. Warum hätten wir das tun sollen?«

»Spiel jetzt keine Spielchen mit mir, Sarah«, warnte er sie.

»Sehe ich so aus, als würde ich Spielchen spielen?«, zischte sie. Dann sagte sie mit sanfterer Stimme zu ihrer Schwester: »Frances, Liebling, bitte versuch mal, tief durchzuatmen.«

»Man hätte mich informieren müssen«, sagte Daniel scharf. Er verlor allmählich die Geduld. Annes Feind – und dass sie einen hatte, davon war er inzwischen überzeugt – hätte sie auch direkt aus dem Bett heraus entführen können. Daniel brauchte Antworten, kein selbstgerechtes Gemecker. »Sie ist seit mindestens eineinhalb Stunden verschwunden«, sagte er zu ihr. »Ihr hättet …«

»Was?«, unterbrach Sarah ihn. »Was hätten wir tun sollen? Wertvolle Zeit verschwenden, um dich zu benachrichtigen? Dich, der du gar nichts mit ihr zu tun hast? Deine Absichten …«

»Ich werde sie heiraten«, erklärte er da.

Frances hörte auf zu weinen, hob das Gesicht zu ihm. Ihre Augen glänzten vor Hoffnung. Sogar die Dienstmädchen, die immer noch zu dritt auf der Bank saßen, hörten auf zu weinen.

»Was hast du gesagt?«, flüsterte Sarah.

»Ich liebe sie«, sagte er, wobei er das selbst erst in dem Moment begriffen hatte, als er die Worte laut aussprach. »Ich will sie heiraten.«

»Oh, Daniel!«, rief Frances und warf die Arme um ihn. »Du musst sie finden! Unbedingt!«

»Was ist passiert?«, fragte er Sarah, die ihn immer noch mit offenem Mund anstarrte. »Erzähl mir alles. Hat sie eine Nachricht hinterlassen?«

Sie nickte. »Mutter hat sie. Es steht aber nicht viel darin. Nur dass es ihr leidtut, sie uns aber verlassen müsse.«

»Sie hat mich umarmen lassen«, sprach Frances in seine Rockfalten hinein, sodass man sie kaum verstand.

Daniel tätschelte ihr den Rücken, hielt den Blick aber weiterhin auf Sarah gerichtet. »Findet sich in dem Brief irgendein Hinweis darauf, dass sie nicht freiwillig gegangen ist?«

Sarah schüttelte verblüfft den Kopf. »Du glaubst doch nicht etwa, dass jemand sie entführt hat?«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, gab er zu.

»In ihrem Zimmer war alles ganz normal«, berichtete Sarah. »Ihre Sachen waren weg, aber sonst war alles wie immer. Das Bett war ordentlich gemacht.«

»Sie macht ihr Bett immer selbst«, schniefte Frances.

»Gibt es irgendeinen Anhaltspunkt, wann sie das Haus verlassen hat?«, fragte Daniel.

Sarah verneinte. »Sie hat nicht gefrühstückt. Also muss es davor gewesen sein.«

Daniel fluchte in sich hinein und befreite sich dann sanft aus Frances’ Umarmung. Er hatte keine Ahnung, wo er mit der Suche nach Anne beginnen sollte. Was ihren Hintergrund anging, so hatte sie sich immer ausgeschwiegen. Eigentlich wäre es zum Lachen, wenn er nicht so große Angst gehabt hätte. Er wusste … was? Welche Augenfarbe ihre Eltern hatten? Na, das würde ihm wirklich helfen, sie zu finden.

Er wusste nichts. Gar nichts.

»Mylord?«

Er blickte auf. Es war Granby, der altgediente Butler der Pleinsworths, und er wirkte ungewöhnlich beunruhigt.

»Könnte ich Sie kurz sprechen?«, fragte Granby.

»Natürlich.« Daniel trat einen Schritt von Sarah weg, die die beiden Männer neugierig und verwirrt beobachtete, und bedeutete Granby, ihm in den Salon zu folgen.

»Ich habe gehört, wie Sie mit Lady Sarah gesprochen haben«, sagte Granby unbehaglich. »Ich hatte nicht die Absicht zu lauschen.«

»Natürlich nicht«, sagte Daniel aufmunternd. »Fahren Sie fort.«

»Sie … machen sich etwas aus Miss Wynter?«

Daniel sah den Butler aufmerksam an und nickte.

»Gestern kam ein Mann hierher«, erzählte Granby. »Ich hätte es Lady Pleinsworth gegenüber erwähnen sollen, aber ich war mir nicht sicher, und ich wollte keine Geschichten über Miss Wynter weitertragen, höchstwahrscheinlich hatte der Besuch ja nichts zu bedeuten. Aber jetzt, da es sicher zu sein scheint, dass sie weg ist …«

»Was ist geschehen?«, fragte Daniel drängend.

Der Butler schluckte aufgeregt. »Der Mann erkundigte sich nach einer Miss Annelise Shawcross. Ich habe ihn sofort weggeschickt und ihm mitgeteilt, dass hier niemand dieses Namens wohnt. Doch er war hartnäckig, sagte, dass diese Miss Shawcross vielleicht unter einem anderen Namen auftritt. Ich mochte ihn nicht, Mylord, das kann ich Ihnen sagen. Er war …« Granby schüttelte ein wenig den Kopf, fast als wollte er eine unangenehme Erinnerung vertreiben. »Ich mochte ihn nicht«, wiederholte er.

»Was hat er gesagt?«

»Er hat sie beschrieben. Diese Miss Shawcross. Er sagte, sie habe dunkles Haar und blaue Augen und sei sehr schön.«

»Miss Wynter«, murmelte Daniel. Beziehungsweise – Annelise Shawcross . War das ihr echter Name? Warum hatte sie ihn geändert?

Granby nickte. »Genau so hätte ich sie wohl auch beschrieben.«

»Was haben Sie ihm entgegnet?« Daniel versuchte, seine Ungeduld zu bezähmen. Granby war ohnehin schon so schuldbewusst, weil er nicht gleich berichtet hatte, was sich zugetragen hatte.

»Wie gesagt: Ich habe ihm erklärt, dass bei uns niemand wohnt, auf den diese Beschreibung zutrifft. Und ich wollte nicht, dass Miss Wynter zu Schaden kommt.« Er machte eine Pause. »Ich mag unsere Miss Wynter.«

»Ich auch«, sagte Daniel leise.

»Deswegen erzähle ich Ihnen das auch«, meinte Granby. In seiner Stimme lag etwas von seiner alten Energie. »Sie müssen sie finden.«

Daniel holte tief Luft und sah auf seine Hände. Sie zitterten. Das war ihm schon öfter passiert, damals in Italien, als Ramsgates Männer ihm gefährlich nahe gekommen waren. Etwas war dann durch seinen Körper gerauscht, Angst und Schrecken, und es hatte Stunden gedauert, bis er sich davon erholt hatte. Aber das hier war schlimmer. Sein Magen brannte, die Luft wurde ihm knapp, und am liebsten hätte er sich übergeben.

Furcht kannte er. Das hier ging über Furcht weit hinaus.

Er blickte zu Granby. »Glauben Sie, dass dieser Mann sie entführt hat?«

»Ich weiß nicht. Doch nachdem er weg war, habe ich sie gesehen.« Granby wandte sich um und schaute nach rechts. Daniel fragte sich, ob der Butler sich die Szene ins Gedächtnis zurückrief. »Sie ist im Salon gewesen«, erzählte Granby dann, »direkt an der Tür. Sie hat alles mitangehört.«

»Sind Sie sich da sicher?«, fragte Daniel.

»Ich habe es an ihrem Blick erkannt«, sagte Granby ruhig. »Sie ist die Frau, die er sucht. Und sie wusste, dass ich es weiß.«

»Was haben Sie zu ihr gesagt?«

»Ich glaube, ich habe eine Bemerkung über das Wetter gemacht. Oder etwas ähnlich Unwichtiges. Und dann habe ich ihr gesagt, dass wir nun weitermachen wollen.« Granby räusperte sich. »Sie hat wohl verstanden, dass ich nicht die Absicht hatte, sie zu verraten.«

»Ganz bestimmt«, erwiderte Daniel grimmig. »Aber sie hatte vielleicht trotzdem das Gefühl, dass sie gehen müsste.« Er hatte keine Ahnung, was Granby über den Unfall in Whipple Hill wusste. Vermutlich nahm er wie alle anderen an, dass Ramsgate dahintersteckte. Doch Anne hatte offenbar jemand Bestimmtes in Verdacht. Wer auch immer diesen Anschlag verübt hatte, schien sich nicht darum zu scheren, wenn andere mit unter die Räder kamen. Anne würde die Pleinsworth-Mädchen niemals einem solchen Risiko aussetzen. Oder …

Oder auch ihn. Er schloss kurz die Augen. Vermutlich dachte sie, sie könne ihn auf diese Weise beschützen. Aber wenn ihr irgendetwas zustieß …

Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen.

»Ich werde sie finden«, sagte er zu Granby. »Da können Sie ganz beruhigt sein.«

Anne war schon zuvor einsam gewesen. Eigentlich hatte sie sich den Großteil der letzten acht Jahre einsam gefühlt. Doch als sie sich nun auf dem harten Bett in der Pension zusammenkauerte, den Mantel über dem Nachthemd, um die Kälte abzuhalten, wurde ihr klar, dass ihr noch nie so elend zumute gewesen war.

Nicht so wie jetzt.

Vielleicht hätte sie aufs Land gehen sollen. Dort war es sauberer. Vermutlich nicht so gefährlich. Doch London war anonym. In den überfüllten Straßen konnte sie verschwinden, sich unsichtbar machen.

Aber sie konnte dort auch untergehen.

Für Frauen wie sie gab es keine Arbeit. Damen mit ihrem Akzent arbeiteten nicht als Näherin oder als Aufwärterin. Sie hatte sich bereits umgesehen in ihrem neuen Viertel, einer halbwegs ehrbaren Gegend, die irgendwo zwischen bürgerlichen Ladengeschäften und verzweifelten Elendsquartieren lag. Sie hatte sich überall vorgestellt, wo ein Schild mit der Aufschrift »Aushilfe gesucht« im Fenster hing, und auch dort, wo kein Schild hing. Man hatte ihr gesagt, dass sie nicht lang durchhalten würde, dass ihre Hände zu zart seien, ihre Zähne zu weiß. Mehr als ein Mann hatte sie lüstern angegrinst und ihr Arbeit von einer ganz anderen Sorte angeboten.

Ohne Empfehlungsschreiben würde sie keine Stellung als Gouvernante oder Gesellschafterin bekommen, und die beiden Zeugnisse, über die sie verfügte, waren auf Anne Wynter ausgestellt. Und Anne Wynter konnte sie nicht bleiben.

Sie zog ihre Beine noch weiter an, bettete das Gesicht auf die Knie und schloss die Augen. Sie wollte dieses Zimmer nicht sehen, wollte nicht sehen, wie dürftig ihre Habseligkeiten selbst in einem so kleinen Raum wirkten. Sie wollte die nasskalte Nacht nicht sehen, und vor allem wollte sie sich selbst nicht sehen.

Wieder einmal hatte sie keinen Namen. Und das tat weh. Es schmerzte wie eine scharfe, schartige Klinge in ihrem Herzen. Es war ein schreckliches Gefühl, ein großes Grauen, das sie jeden Morgen aufs Neue befiel, und es kostete sie große Überwindung, die Beine aus dem Bett zu schwingen und die Füße auf den Boden zu stellen.

Es war nicht wie damals, als ihre Familie sie hinausgeworfen hatte. Damals hatte sie wenigstens gewusst, wohin sie gehen würde. Sie hatte einen Plan gehabt. Zwar war er für sie gemacht worden, aber sie hatte gewusst, was sie zu tun hatte und wann sie es tun sollte. Nun waren ihr nichts als zwei Kleider, ein Mantel und elf Pfund geblieben, und ihre einzige Perspektive war die Prostitution.

Und das konnte sie nicht tun. Lieber Gott, dazu war sie um keinen Preis bereit. Sie hatte sich einmal zu großzügig hingegeben, diesen Fehler würde sie kein zweites Mal begehen. Und es wäre einfach zu grausam, einem Fremden zu Willen zu sein, während sie Daniel daran gehindert hatte, die Vereinigung zu vollenden.

Sie hatte Nein gesagt, weil … Sie wusste es nicht einmal mehr so genau. Aus Gewohnheit vielleicht. Aus Angst. Sie wollte kein uneheliches Kind zur Welt bringen, ebenso wenig wollte sie einen Mann zu einer Ehe zwingen, der normalerweise nie eine Frau wie sie gewählt hätte.

Vor allem aber hatte sie sich selbst schützen müssen. Weniger ihren Stolz, es war etwas anderes, etwas Tieferes.

Ihr Herz.

Ihr Herz war das einzig Reine, das ihr geblieben war. Es gehörte niemand anderem als ihr selbst. Ihren Körper hatte sie George geschenkt, doch ihr Herz hatte er nie besessen, trotz allem, was sie damals gemeint hatte zu empfinden. Und als Daniel sich schon an seinem Hosenbund zu schaffen machte, um mit ihr zu schlafen, war ihr klar gewesen, wenn sie es ihm erlaubte, wenn sie es sich selbst erlaubte, würde er ihr Herz für immer besitzen.

Aber am Ende war sie die Dumme. Er besaß es längst. Sie hatte etwas wirklich Törichtes gemacht. Sie hatte sich in einen Mann verliebt, den sie nie haben konnte.

Daniel Smythe-Smith, Earl of Winstead, Viscount Streathermore, Baron Touchton of Stoke. Sie wollte nicht an ihn denken, aber sie tat es, sobald sie die Augen schloss. Sein Lächeln, sein Lachen, die Glut in seinem Blick, wenn er sie ansah.

Sie glaubte nicht, dass er sie liebte, diesem Gefühl aber ziemlich nahegekommen war. Zumindest hatte er sich etwas aus ihr gemacht. Und wenn sie eine andere gewesen wäre, wenn sie einen Namen und eine gesellschaftliche Stellung gehabt hätte, wenn kein Verrückter hinter ihr her gewesen wäre, der sie umbringen wollte … Vielleicht hätte sie dann, als er so leichtfertig sagte: »Und wenn ich dich nun heiraten würde?«, freudig die Arme um ihn geschlungen und gerufen: »Ja! Ja! Ja!«

Aber ihr Leben bot nicht viel Platz für Freude. Ihr Leben bestand aus Verzicht. Und es hatte sie schließlich hierhergeführt, wo sie nun so allein war wie selbst in den acht Jahren zuvor nicht.

Ihr Magen knurrte vernehmlich, und Anne seufzte. Sie hatte einen Bärenhunger, aber sie hatte vergessen, sich etwas zu essen zu kaufen, bevor sie in die Pension zurückgekehrt war. Vermutlich war das ganz gut so; sie wollte versuchen, mit ihrem Geld möglichst lang auszukommen.

Wieder rumpelte es in ihrem Magen, diesmal vor Ärger, und Anne richtete sich auf. »Nein«, sagte sie laut. Obwohl sie eigentlich »Ja« hatte sagen wollen. Sie hatte Hunger, verdammt, und sie würde sich etwas zu essen besorgen. Einmal in ihrem Leben wollte sie Ja sagen, selbst wenn es nur einem Fleischpastetchen und einem Viertelliter Apfelwein galt.

Sie sah zu ihrem Kleid, das säuberlich gefaltet auf dem Stuhl lag. Sie hatte keine Lust, es wieder anzuziehen. Ihr Mantel bedeckte sie von Kopf bis Fuß. Wenn sie Schuhe und Strümpfe anzog und sich das Haar aufsteckte, würde niemand ahnen, dass sie im Nachthemd unterwegs war.

Sie lachte, das erste Mal seit Tagen. Was für eine merkwürdige Art, sich schamlos zu zeigen.

Ein paar Minuten später war sie draußen auf der Straße und ging zu einem kleinen Imbiss, an dem sie am vorigen Tag vorbeigekommen war. Bisher war sie noch nie dort drinnen gewesen, doch die Düfte, die nach außen drangen, wenn die Tür geöffnet wurde … himmlisch. Fleischpastetchen, Hackbraten, heiße Brötchen und Gott weiß was für andere Köstlichkeiten.

Sie empfand beinahe Glück, als sie ihre warme Mahlzeit in Händen hielt. Der Imbissbesitzer hatte ihr das Pastetchen in Papier eingepackt, und Anne wollte es mit auf ihr Zimmer nehmen. Manche Gewohnheiten ließen sich nicht so schnell ablegen; sie war immer noch zu sehr vornehme Dame, um auf der Straße zu essen, ganz egal, was die anderen Leute ringsum taten. Gegenüber der Pension konnte sie den Apfelwein besorgen, und auf ihrem Zimmer …

»Du!«

Anne ging weiter. Auf den Straßen dieses Viertels war es immer so laut, ständig wurde herumgeschrien, dass sie gar nicht auf die Idee kam, dass sie mit diesem »Du!« gemeint sein könnte. Doch dann hörte sie es noch einmal, diesmal aus der Nähe.

»Annelise Shawcross.«

Sie drehte sich nicht einmal um. Sie kannte die Stimme, und vor allem kannte die Person, zu der die Stimme gehörte, ihren wahren Namen. Sie begann ihre Schritte zu beschleunigen.

Das kostbare Essen fiel zu Boden, und sie rannte schneller als jemals in ihrem Leben zuvor. Sie huschte um Ecken, rempelte sich durch die Menschenmengen, ohne sich dafür zu entschuldigen. Sie rannte, bis ihr die Lungen brannten und das Nachthemd am Körper klebte, aber am Ende war sie Georges Durchtriebenheit nicht gewachsen.

»Haltet sie! Bitte! Meine Frau!«

Jemand hielt sie fest, wahrscheinlich weil sich seine Worte so verzweifelt angehört hatten, als wäre er jedem furchtbar dankbar, der ihm zu Hilfe eilte. Als er sie erreicht hatte, sagte er zu dem Mann, der sie wie ein Schraubstock umklammerte: »Es geht ihr nicht gut.«

»Ich bin nicht Ihre Frau!«, schrie Anne und wehrte sich strampelnd gegen den Griff ihres Häschers. Sie wand und drehte sich, schlug mit der Hüfte gegen sein Bein, doch der Mann ließ nicht von ihr ab. »Ich bin gar nicht seine Frau«, sagte sie zu ihm und versuchte dabei normal und vernünftig zu klingen. »Er ist verrückt. Er ist schon seit Jahren hinter mir her. Ich bin nicht seine Frau, wirklich nicht.«

»Komm schon, Annelise«, sagte George in beruhigendem Ton. »Du weißt genau, dass das nicht stimmt.«

»Nein!«, heulte sie auf. »Ich bin nicht seine Frau! Er will mich umbringen!«

Allmählich begann der Mann, der sie für George festgehalten hatte, unsicher zu werden. »Sie sagt, sie ist nicht Ihre Frau«, meinte er misstrauisch.

»Ich weiß«, erwiderte George und seufzte. »So ist sie schon seit einigen Jahren. Wir hatten ein Kind …«

»Was?« Anne starrte ihn entsetzt an.

»Eine Totgeburt«, fuhr George fort, ohne auf Annes Einwand zu reagieren. »Sie ist nie drüber hinweggekommen.«

»Er lügt!«, schrie Anne.

Doch George seufzte nur heuchlerisch, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe mich damit abfinden müssen, dass sie nie wieder die Frau sein wird, die ich einmal geheiratet habe.«

Der Mann blickte von Georges traurigem, edlem Gesicht zu Annes wutverzerrter Miene und entschied offenbar, dass George von den beiden wohl eher derjenige sei, der noch alle Sinne beisammenhatte, und drückte sie ihm in die Arme. »Alles Gute«, sagte er.

George dankte dem Mann überschwänglich und nahm dann auch noch sein Taschentuch an, um Anne damit die Hände zu fesseln. Danach zog er sie wütend an sich, und sie stolperte gegen ihn, erschauerte vor Ekel, als sich ihre Körper berührten.

»Oh, Annie«, sagte er, »wie schön, dich wiederzusehen.«

»Sie haben den Riemen durchtrennt«, stellte sie leise fest.

»Allerdings«, erwiderte er mit stolzem Lächeln. Dann runzelte er die Stirn. »Ich hatte gehofft, du würdest dich dabei weitaus schlimmer verletzen.«

»Sie hätten Lord Winstead umbringen können!«

George zuckte nur mit den Achseln, und in diesem Augenblick bestätigten sich Annes dunkelste Ahnungen. Er war geisteskrank. Er war vollkommen wahnsinnig, irre. Eine andere Erklärung gab es nicht. Kein normaler Mensch würde riskieren, ein Mitglied des Hochadels zu töten, nur um sie zu kriegen.

»Und der Überfall?«, fragte sie. »Von dem wir zuerst dachten, es wären nur einfache Straßenräuber gewesen?«

George sah sie an, als spräche sie in fremden Zungen. »Wovon redest du?«

»Der Überfall auf Lord Winstead!«, brüllte sie beinahe. »Warum sollten Sie so etwas tun?«

George straffte die Schultern, und seine Oberlippe kräuselte sich vor Verachtung. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte er hochnäsig, »aber dein kostbarer Lord Winstead hat seine eigenen Feinde. Oder kennst du seine schäbige Geschichte gar nicht?«

»Sie sind es nicht wert, seinen Namen in den Mund zu nehmen«, rief sie.

Doch er lachte nur und trumpfte dann auf: »Weißt du eigentlich, wie lang ich auf diesen Augenblick gewartet habe?«

So lange, wie sie als Ausgestoßene gelebt hatte.

»Na?«, knurrte er, packte das zusammengeknotete Taschentuch und schüttelte sie.

Sie spuckte ihm ins Gesicht.

George lief vor Zorn fleckig rot an, so rot, dass seine blonden Augenbrauen vor diesem Hintergrund förmlich leuchteten. »Das war ein Fehler«, zischte er und zerrte sie grob durch die dunkle Gasse. »Wie praktisch, dass du dir ein derart heruntergekommenes Viertel ausgesucht hast«, kicherte er. »Niemand wird hinschauen, wenn ich …«

Anne begann zu schreien.

Doch niemand beachtete sie, und außerdem währte der Lärm nur kurz. George boxte sie in den Magen, und sie sank gegen eine Mauer und rang nach Atem.

»Ich hatte acht Jahre Zeit, mir diesen Augenblick auszumalen«, murmelte er drohend. »Jedes Mal, wenn ich mich in diesen acht Jahren im Spiegel betrachtete, habe ich an dich gedacht.« Er brachte sein Gesicht dicht an das ihre heran. Sein Blick war wild vor Zorn. »Sieh mich gut an, Annelise. Die Wunde hatte acht Jahre lang Zeit zu heilen, aber sieh her! Sieh her!«

Anne versuchte ihm zu entkommen, doch sie lehnte mit dem Rücken an der Backsteinmauer, und George stand vor ihr, packte sie am Kinn und zwang sie, seine vernarbte Wange anzusehen. Sie war besser verheilt, als Anne erwartet hatte, war nicht mehr rot, sondern weiß, doch sie war immer noch merkwürdig gewellt und gespannt und teilte seine Wange in zwei Hälften.

»Ich habe mir überlegt, dass ich mich vorher noch ein bisschen mit dir vergnüge, da es damals ja nicht mehr dazu kam, aber ich habe mir nicht vorgestellt, dass es in einer schmutzigen Gasse geschieht.« Seine Lippen verzogen sich zu einem schauderhaft lüsternen Grinsen. »Selbst ich hätte nicht gedacht, dass du so tief sinken kannst.«

»Was meinen Sie mit vorher?«, flüsterte Anne.

Eigentlich war es überflüssig zu fragen. Sie wusste es. Sie hatte immer gewusst, was er mit ihr vorhatte, und als er ein Messer zückte, war sie nicht sonderlich überrascht.

Anne kreischte nicht. Sie dachte nicht einmal nach. Sie hätte nicht sagen können, was sie tat, nur dass George einen Augenblick später auf dem Kopfsteinpflaster lag und sich zusammenrollte. Vor Schmerzen brachte er keinen Ton heraus. Anne stand einen letzten Moment über ihm und schnappte nach Luft, und dann trat sie ihn, genau dorthin, wo sie ihn eben mit dem Knie gerammt hatte, und dann rannte sie davon, die Hände immer noch gefesselt.

Diesmal jedoch wusste sie genau, wohin sie sich wenden würde.