Bindung und Autonomie

Wie ich bereits gesagt habe, zählen unser Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit und unser Bedürfnis, freie, autonome Menschen zu sein, zu unseren existenziellen menschlichen Grundbedürfnissen. Unser gesamtes Leben von Anfang bis Ende ist von ihnen durchdrungen. Wir kommen an die Nabelschnur gebunden auf die Welt und werden dann entbunden. Wenn der Säugling keine Bindungsperson findet, die sich seiner annimmt, stirbt er. Er ist vollkommen abhängig von der Pflege und Versorgung durch andere Menschen. Unser erstes Erleben auf dieser Welt ist also von einer existenziellen Abhängigkeit bestimmt. Bindung und Abhängigkeit sind miteinander assoziiert. Die einzig autonome Handlung, die dem Säugling verbleibt, um auf sich aufmerksam zu machen, ist Schreien. Nur durch Schreien kann er Einfluss auf seine Eltern nehmen. Wenn die Eltern darauf nicht reagieren und das Kind ewig schreien lassen, macht es die Erfahrung, dass sein Handeln wirkungslos ist und es nicht in sein Leben eingreifen kann. Dies ist eine tiefe Ohnmachtserfahrung, die Auswirkungen bis in das Erwachsenenalter hat, vor allem dann, wenn auch die weitere Kindheit und Jugend davon bestimmt sind, dass das Kind wenig Einfluss auf seine Eltern nehmen kann, weil diese autoritär und rigide an seinen Bedürfnissen vorbei handeln.

Unsere gesamte Entwicklung ist darauf ausgelegt, dass wir immer selbstständiger und autonomer werden. Das Ziel ist, dass wir als junge Erwachsene vollkommen autonom und losgelöst von den Eltern ein eigenständiges Leben führen können. Somit werden auch die Einflussmöglichkeiten des Kindes im Laufe seines Heranwachsens immer größer: Es lernt greifen, krabbeln, laufen, sprechen, und sein Handlungsspielraum wird immer größer. Gleichzeitig spielen aber auch die Bindungsbedürfnisse des Heranwachsenden durchweg eine sehr wichtige Rolle: Am Anfang steht die Bindung an die Eltern, danach folgt die Bindung an die weitere Familie wie Geschwister und Großeltern. Im Kindergarten erweitert sich der Bezugsrahmen um Erzieher, Erzieherinnen und Spielkameraden und in der Schule um Lehrkräfte und Freunde. Ab der Pubertät werden zumeist die ersten Versuche einer Liebesbeziehung gestartet.

Unser gesamtes Leben sind wir damit beschäftigt, einerseits unsere Bindungswünsche zu erfüllen und andererseits selbstbestimmt und frei zu handeln. Dabei beschränkt sich unser Bedürfnis nach Bindung natürlich nicht nur auf Liebesbeziehungen, sondern kann auch beim Chatten, Public Viewing, in der Kneipe oder im Beisammensein mit Freunden erfüllt werden. Sind die ersten zwei Jahrzehnte unseres Lebens davon bestimmt, dass wir immer autonomer werden und sich unser zwischenmenschlicher Bezugsrahmen erweitert, so sollte die Mitte unseres Lebens davon gekennzeichnet sein, dass wir eine gute Balance zwischen Bindung und Autonomie finden. Gegen Ende unseres Lebens verringert sich unsere Autonomie hingegen vielfach wieder, weil wir auf die Hilfe anderer angewiesen sind, und wir verlieren die Bindungen an nahestehende gleichaltrige Menschen, weil diese sterben. Mit unserem eigenen Tod lösen sich schließlich sowohl unsere Bindungen als auch unsere Autonomie auf.