Sind wir nicht doch eine Generation von Beziehungsunfähigen, Frau Stahl?

Diese Frage wird mir seit dem Erscheinen des Bestsellers »Generation Beziehungsunfähig« des Bloggers Michael Nast Anfang des Jahres 2016 von Journalisten häufig gestellt. Nast behauptet ja, dass der Perfektionismus und der Selbstoptimierungswahn in unserer Gesellschaft, vor allem in der jungen Generation, exorbitant seien und die Jüngeren deswegen immer bindungsunwilliger würden. Die jüngere Generation suche nach dem perfekten Partner, den es aber leider nicht gebe. Außerdem werde, vor allem von jungen Männern, die Aussage: »Ich bin beziehungsunfähig!« häufig schlicht als Ausrede für Bindungsunwilligkeit benutzt. Diese sei sozusagen die Migräne des Mannes. Dating-Portale trügen ein Übriges dazu bei, dass die Beziehungen immer oberflächlicher und unverbindlicher würden, so Nast. Michael Nast schreibt aus seiner persönlichen Erfahrung, und wie seine große Anhängerschaft zeigt, teilen viele Menschen seine Erfahrungen.

Sicherlich gibt es nicht wenige Menschen, die man als beziehungsunfähig bezeichnen könnte – aber war das nicht schon immer so? Könnte es nicht sein, dass die Beziehungsunfähigkeit heute nur anders ausgelebt wird als früher? Um diese Frage zu beantworten, habe ich mir als Erstes die aktuelle psychologische Studienlage zum Thema »Liebe und Beziehung über verschiedene Generationen« angeschaut und bin zu folgenden Schlussfolgerungen gekommen: Schwierige Beziehungen und kaputte Ehen hat es schon immer gegeben, und man darf nicht die Dauer einer Beziehung/Ehe als Kriterium für Beziehungsfähigkeit heranziehen. Heutzutage trennen sich Paare zwar öfter und auch schneller, aber nicht, weil die Menschen weniger beziehungsfähig sind, sondern weil die Ansprüche an die Beziehungsqualität gestiegen sind. Dies hat etwas mit der wachsenden Unabhängigkeit von Frauen zu tun, die sehr viel seltener als früher geneigt sind, in einer unglücklichen »Versorgungsehe« auszuharren: Die meisten Scheidungen werden von Frauen eingereicht. Außerdem ist auch das gesellschaftliche Korsett viel lockerer geworden: Kein Mensch muss heutzutage heiraten und eine Familie gründen, um als ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu gelten. Auch die Sexualität kann heute viel freier und unverbindlicher ausgelebt werden. Das Internet macht die Anbahnung von sexuellen Abenteuern mühelos. Aber all diese Umstände tragen nicht dazu bei, dass die Menschen beziehungsängstlicher werden, sondern sie machen es Betroffenen lediglich leichter, mit ihrer Beziehungsangst zu leben. Es gibt also nicht mehr Beziehungsängstliche als früher, sie sind in unserer modernen Gesellschaft nur besser sichtbar. Außerdem möchte ich an dieser Stelle daran erinnern, dass schon in den 1960er Jahren die Beziehungslosigkeit zum Wunschzustand deklariert wurde: »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!«, lautete die Devise – das ging damals auch schon ganz ohne Internet.

Beziehungsunfähigkeit entsteht nicht durch das Internet und die vielen Wahlmöglichkeiten, die sich daraus ergeben, und auch nicht durch das Leben in der Großstadt. Beziehungsfähigkeit ist etwas, das man im Elternhaus lernt. Bei Mama und Papa erfahren wir, ob wir liebenswerte Wesen sind und ob man zwischenmenschlichen Beziehungen im Großen und Ganzen vertrauen kann. Die Prägungen, die wir durch unsere Eltern erfahren, beeinflussen unser späteres Beziehungsleben ganz erheblich. Die Bedingungen für Kinder sind in den letzten Jahrzehnten jedoch nicht schlechter geworden. So sind die Eltern jüngerer Generationen im Schnitt wesentlich besser darüber informiert, was Kindern guttut, und sie gehen einfühlsamer mit ihrem Nachwuchs um, als es die häufig traumatisierten Eltern der Nachkriegsgenerationen taten. Das Wissen über Kindererziehung hat unglaublich zugenommen, und auch in bildungsfernen Schichten hat sich herumgesprochen, dass es nicht gut ist, seine Kinder zu schlagen. Dem steht zwar eine höhere Scheidungsrate gegenüber, aber – auch das haben zahlreiche Studien ergeben – eine Scheidung ist für Kinder besser zu ertragen als ein Dauerstreit der Eltern. Eine hochzerstrittene Beziehung der eigenen Eltern ist übrigens eine häufige Ursache von Bindungsangst.

Bindungsangst entsteht, wenn Kinder sich zu sehr anpassen müssen, um ihren Eltern zu gefallen. Wenn also die Eltern nicht in der Lage sind, die Entwicklung ihres Kindes einfühlsam zu fördern, übernimmt das Kind die Verantwortung dafür, dass seine Beziehung zu seinen Eltern gelingt. Es ist existenziell von ihnen abhängig und bereit, alles zu tun, damit seine Eltern es liebhaben. Hierfür zahlt es jedoch den Preis der Überanpassung, für die ein Teil seiner eigenen Identität auf der Strecke bleibt. Dies ist der Nährboden für Bindungsangst im Erwachsenenalter. Bindungsängste resultieren aus der Mischung von Verlustangst und Angst vor dem Selbstverlust in einer nahen Liebesbeziehung. Hierauf werde ich noch ausführlich zu sprechen kommen. Die Phänomene, die Nast in seinem Buch beschreibt, wie die Suche nach dem perfekten Partner, plötzliches Abtauchen nach den ersten Dates, Promiskuität, Unverbindlichkeit und heftige Wechsel von Nähe und Distanz, sind typische Symptome von Bindungsangst. Wer jedoch meint, Bindungsängstliche heirateten grundsätzlich nicht – weit gefehlt. Es gibt nicht wenige Ehen mit bindungsängstlichen Strukturen: Einer oder beide Protagonisten halten innerhalb der Ehe mithilfe zahlreicher Distanzmanöver Abstand, wie etwa Flucht in die Arbeit und Hobbys, sexuelle Lustlosigkeit, Außenbeziehungen, schweigen oder häufig streiten etc.

Der Bindungswunsch als angeborenes Grundbedürfnis ist jedoch in allen Menschen vorhanden. Und er wird auch in aktuellen Umfragen genau so formuliert: Die allermeisten Menschen wünschen sich nach wie vor, den Partner fürs Leben zu finden bzw. mit ihrem Partner alt zu werden. Daran hat sich nichts geändert. Auch meine persönliche Beobachtung bestätigt dies: Ich kenne sehr viele junge Leute, die sich sehr früh, manchmal schon zu Schulzeiten, an einen Partner binden, und die ewig lang zusammenbleiben – das hat es in meiner Zeit so gut wie nie gegeben. Wir haben früher viel öfter die Partner gewechselt. Vielleicht haben wir es heutzutage also sogar mit einer Generation »beziehungsfähig« zu tun.