Einen ersten großen Bauboom erlebte Barcelona im Spätmittelalter, als die großartigen gotischen Kirchen, Paläste und Werften der Stadt gebaut wurden. Die gotische Altstadt gehört bis heute zu den flächenmäßig größten in ganz Europa. Die meisten dieser Meisterwerke liegen in der Ciutat Vella, aber auch außerhalb der Altstadt finden sich einige Schätze wie etwa das Museu-Monestir de Pedralbes in Sarrià.
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Der Baustil, der dem Himmel entgegenstrebt, nahm seinen Ausgang im Frankreich des 12. Jhs. und verbreitete sich in ganz Europa. Zur gleichen Zeit nahm Jaume I Valencia ein und Mallorca und Ibiza wurden annektiert. In Barcelona entwickelte sich eine blühende Kaufmannsgilde mit weitreichenden Handelsbeziehungen. So deckte der stetig wachsende Reichtum der Stadt die enormen Kosten für den Bau der neuen imposanten Monumente.
Zum wahrscheinlich größten Bauboom kam es unter Pere III (1319–1387), was insofern etwas merkwürdig ist, als seine Regierungszeit in eine ausgesprochen schwierige Periode fiel. Denn Mitte des 14. Jhs. wurde Barcelona von einer Reihe von Katastrophen heimgesucht: Hungersnöten, verheerenden Seuchen und Pogromen.
All das scheint den Regenten nicht beeindruckt zu haben: Er baute oder begann zumindest mit dem Bau der Kathedrale, der Drassanes, der Llotja-Börse, des Saló del Tinell, der Casa de la Ciutat (das heutige Rathaus) und zahlreicher anderer, weniger imposanter Gebäude, aber auch Teilen der Stadtmauer. Ende des 14. Jhs. wurden die Kirchen Santa Maria del Pi und Santa Maria del Mar vollendet.
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Der Architekturstil spiegelt die Entwicklung der Bautechniken wider. Der Einsatz von Strebepfeilern, Schwibbögen und Rippengewölben bei der Deckengestaltung ermöglichte es den Baumeistern, luftigere und wesentlich hellere Bauwerke zu errichten als jemals zuvor. Die Spitzbögen wurden zum Baustandard und große Fensterrosetten ließen mehr Licht ins riesige Kircheninnere.
Wer bedenkt, in welch dürftigen Unterkünften die damaligen Bauarbeiter lebten und welch primitive Baustoffe ihnen zur Verfügung standen, bekommt eine Vorstellung davon, welche Ehrfurcht diese Kirchen nach ihrer Fertigstellung den Menschen eingeflößt haben müssen. Entsprechend lang war die Bauzeit. Es dauerte über 160 Jahre – ein typischer Zeitrahmen –, bis die Kathedrale fertiggestellt war, wobei die Kirchenfassade sogar erst im 19. Jh. hinzukam. Ihre Rivalin, die Església de Santa Maria del Mar, wurde dagegen in der Rekordzeit von nur 59 Jahren erbaut.
OH, DIESE GOTIK!
Die hoch aufragenden gotischen Bauten des mittelalterlichen Europa rufen bei ihren modernen Betrachtern Ehrfurcht und Bewunderung hervor. Im 16. Jh., als Renaissancekünstler und -architekten sich von den klaren Linien der klassischen Antike inspirieren ließen, erschien ihnen das Gotische dagegen grob und plump und so barbarisch wie die Goten selbst, jene germanischen Volksstämme, die Jahrhunderte zuvor in Europa gewütet hatten. Die Bezeichnung „gotisch“ war geradezu beleidigend, und diese abfällige Haltung verbreitete sich bald auf dem gesamten Kontinent. In Barcelona stülpten Architekten einigen im gotischen Stil erbauten Privathäusern später ein barockes Kleid über. Aber zum Glück ließen die Barceloner den größten Teil ihrer gotischen Bauwerke unangetastet. Erst im 19. Jh. entdeckte man den Wert dieses außergewöhnlichen Erbes, und dann gleich mit solcher Begeisterung, dass es besonders in einigen nordeuropäischen Ländern zu einem regelrechten Bauboom im neugotischen Stil kam.
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Die Entwicklung der katalanischen Gotik verlief nicht parallel zur Gotik Nordeuropas. Hier im Süden wurde mit Verzierungen wesentlich sparsamer umgegangen und das entscheidende Merkmal ist, dass die Kirchen hier breiter angelegt und weniger hoch sind. Während nordeuropäische Kathedralen förmlich in den Himmel ragen, gehen die Bauwerke der katalanischen Gotik eher in die Breite und dehnen die Gewölbe somit bis zum Äußersten aus.
Der Saló del Tinell mit den 15 m weit gespannten Rundbögen, die die Decke tragen (sie zählen zu den größten, die je ohne Verstärkung gebaut wurden), ist ein perfektes Beispiel für die Gotik in Katalonien, ebenso wie die Drassanes, Barcelonas mittelalterliche Werften, die heute das Museu Marítim beherbergen. Auch bei ihren Kirchen entschieden sich die Katalanen für eine massivere Form und eine stärkere Betonung der Breite – die Església de Santa Maria del Mar und die Església de Santa Maria del Pi vermitteln eine gute Vorstellung davon.
Eine weitere deutliche Abweichung von der Gotik nördlich der Pyrenäen ist der Verzicht auf spitze Türme und Fialen. Glockentürme enden meist in einem flachen Dach. Ausnahmen bestätigen die Regel: So erinnert die Hauptfassade der Kathedrale von Barcelona mit ihren drei reich verzierten Türmen ein wenig an die Kathedrale von Chartres oder den Kölner Dom. Allerdings wurde der mittelalterlichen Konstruktion im 19. Jh. ein Anbau hinzugefügt.
Der Bauboom in Barcelona beruhte auf dem gewaltigen katalanischen Handelsimperium des 14. Jhs. Alle möglichen Güter wurden mit Sardinien, Flandern, Nordafrika und anderen Orten gehandelt und einen Großteil des Handels wickelten die katalanischen Juden ab. Die späteren Pogrome, die Inquisition und die Vertreibung der Juden aus Spanien hatten katastrophale wirtschaftliche Folgen und trugen dazu bei, dass Barcelona bald am Hungertuch nagte.
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In Barcelona blieb der gotische Baustil deutlich länger die vorherrschende Stilrichtung als in anderen europäischen Städten. Anfang des 15. Jhs. verfügte die Generalitat noch immer über kein würdiges Tagungsgebäude, und so machte sich der Architekt Safont an die Arbeit, um das heutige Parlamentsgebäude an der Plaça de Sant Jaume zu errichten. Selbst die Umbauten ein Jahrhundert später erfolgten weitgehend im gotischen Baustil, nur durchsetzt von einigen Renaissance-Elementen (wobei die Fassadengestaltung an der Plaça de Sant Jaume wenig überzeugt).
Der Carrer de Montcada in La Ribera war das Ergebnis einer noch vom Spätmittelalter geprägten Stadtplanung. Im 15. und 16. Jh. wurden dort Stadthäuser der Oberschicht erbaut. Viele davon beherbergen heute Museen und Kunstgalerien. Wirken sie von außen meist abweisend und unschön, tut sich im Inneren eine ganz andere Welt auf – mit hübsch gestalteten Innenhöfen und reich verzierten Außentreppen, die später im Barockstil umgestaltet wurden.