Die Geschichten der Einheimischen

Wie aber verlaufen die Befragungen der Bewohner von Mandlica durch Benjamin Merz genau? Schon bald hat er verstanden, dass ein zentrales Thema in der Ortschaft die Herstellung und der Verkauf sizilianischer Dolci ist. Überall gibt es Konditoreien, die solche Süßigkeiten nach geheimen Familienrezepten anfertigen und vertreiben.

Immer häufiger stößt Benjamin Merz auf dieses Thema, zum Beispiel, wenn er von den Einheimischen zu einer gemeinsamen Mahlzeit eingeladen wird. Er nutzt solche Gelegenheiten, um von ihnen so viel zu erfahren wie nur irgend möglich. Durch ihr Erzählen kommen sie ihm näher, und er begreift, dass diese Geschichten nicht den Fragen eines Ethnologen, sondern denen eines Mannes zu verdanken sind, der dabei ist, wie ein Schriftsteller zu handeln und zu leben.

Während der familiären Mittagessen, zu denen ich jetzt zweimal in jeder Woche eingeladen werde, spricht beinahe ausschließlich die mittlere Generation. Es ist jener Teil der Großfamilie, der am härtesten arbeitet, mindestens zwölf Stunden täglich. Der Vater und seine (meist sehr schweigsamen) Söhne stellen die Dolci her und leiten das angeschlossene Café. Mutter und Töchter helfen, so gut es geht, in ihren freien Stunden. Die Mutter sitzt an der Kasse, die Töchter leiten den Service. Gegen zwölf Uhr mittags verschwindet die Mutter, um das Mittagessen für die gesamte Familie zu kochen. Die Großeltern tauchen dann und wann in den Betrieben auf, helfen manchmal auch aus, kümmern sich sonst aber um das wichtige Thema Konversation mit den Kunden. Gäste und Besucher wollen gut unterhalten sein und haben viele Fragen.

Bei Tisch sitzen die Großeltern jeweils am Kopf des Tisches. Die Speisen werden ihnen zuerst gereicht und wandern dann langsam (über die Enkel) zur Mitte des Tisches, wo sich wiederum Mutter und Vater gegenübersitzen. Die Großeltern sagen kaum etwas. Wenn sie aber sprechen, stellen sie etwas klar, ergänzen etwas oder erweitern ein Thema um einen kleinen Akzent. Die zentrale Rede führt das Elternpaar der mittleren Generation, und zwar durchaus gleichmäßig verteilt auf den weiblichen und männlichen Part. (Es gibt auch Männer, die eher wortkarg oder sogar schweigsam sind, dann sprechen die Frauen umso mehr. Umgekehrt ist das fast nie der Fall.)

Das offizielle Reden von Mann und Frau hört sich an, als bestünde es aus immer denselben Bruchstücken, die, jedes Mal leicht variiert, in einen öffentlichen (und das heißt: vertrauten, aber dennoch fremd bleibenden) Raum hineingesprochen werden. Die anderen Mitglieder der Familie kennen diesen Text bereits, sie haben ihn wohl schon Hunderte Male gehört. Es handelt sich um einen Text, der die offizielle Version dessen darstellt, was eine Familie von sich berichten und preisgeben will. Ein solches Reden ist von der Familienrede streng zu unterscheiden.

Die Familienrede besteht aus den Gesprächen, die eine Familie nur dann führt, wenn keine Fremden im Raum sind. Im Rahmen der Familienrede werden die entscheidenden Dinge besprochen, die Beziehungen verankert, die Abhängigkeiten fundamentiert. Sie ist daher vertraulich, denn sie kreist um die Familiengeheimnisse, die niemals nach außen dringen dürfen, selbst nicht zu entfernten Verwandten. Wer die Familienrede alles zu hören bekommt, ist von vornherein klar geregelt. Heiratet ein Fremder in eine Familie ein, wird er auf diese Rede eingeschworen. Verletzt er die Absprache und kommuniziert er etwas nach außen, wird er verstoßen und gehört nicht mehr zur Familie (selbst wenn er noch weiter am Familientisch sitzt).

Familientische sind Tische am Stück. Sie werden in Mandlica in drei Schreinereien eigens für jede Familie nach ihren besonderen Vorgaben hergestellt. Die größten Familientische können etwa vierzig bis fünfzig Personen Platz bieten.

Was sind eigentlich Familiengeheimnisse? Woraus bestehen sie? Ich stelle Ricarda Chiaretta, der über achtzigjährigen Patronin der Familie Chiaretta, während eines Gesprächs unter vier Augen genau diese Frage.

Auf Marias Empfehlung hin besuche ich an einem frühen Abend das hoch gelegene Kastell. Es ist gut restauriert, aber so leer geräumt, dass es wie ein Architekturmodell wirkt. Es gibt einen Hauptturm, von dem aus der Blick weit hinaus auf das Meer, die angrenzenden Hügel und Hochebenen geht. Seltsamerweise stehen ausgerechnet auf der Aussichtsplattform dieses Turms zwei Stühle, die den älteren Besuchern der Anlage eine Möglichkeit zum Verschnaufen bieten. Als ich selbst aber die beiden Stühle wahrnehme, verstehe ich sie sofort als einen unfreiwilligen, versteckten Hinweis darauf, dass ich auch auf dem Gelände des Kastells Befragungen durchführen könnte. Befragungen zum Beispiel mit Menschen, die nicht gesehen werden wollen. Ich denke an Personen, die mir etwas anvertrauen, und ich denke an jüngere Frauen, die sich abends aus dem Haus stehlen, um mit mir zu sprechen. Gibt es solche Frauen? Maria behauptet, dass die jüngeren Frauen des Ortes über nichts anderes miteinander reden als darüber, wie sie mit mir ins Gespräch kommen und von mir befragt werden könnten. Ein solches Gespräch allein mit einem Mann zu führen wäre auch heutzutage nicht ganz ungefährlich. Vor einigen Jahren galt eine junge Frau, die so etwas tat, noch als entehrt. Maria behauptet aber, sie könne solche Gespräche sofort vermitteln, ich brauche bloß einen entsprechenden Wunsch zu äußern.

Seit ich davon weiß, schaue ich mich während der familiären Mittagessen in den Dolci-Kreisen der Stadt besonders nach den jüngeren Frauen um. Mit welcher sollte ich reden? Und was sollte ich sie fragen?

Ich frage Ricarda Chiaretta während unserer dritten Befragung, was die älteren und jüngeren Frauen an den Nachmittagen in die Kirche des Ortes treibt.