Schon während meines ersten Venedig-Aufenthalts lernte ich eine kulinarische Besonderheit kennen, die auf die Spaziergänger der Stadt in geradezu idealer Weise zugeschnitten war. Damals entstand in einer historischen Weinhandlung, die sich noch heute im Sestiere Dorsoduro gegenüber der Kirche San Trovaso befindet, die Idee, den am Tresen ausgeschenkten Wein mit dem Genuss von Cicchetti zu begleiten.
Die Erfinderin dieser gastrosophischen Kunstgebilde war die Mitbesitzerin Alessandra De Respinis, die lapidar und konkret definierte, was sie unter einem Cicchetto verstand: »Ein Cicchetto ist ein schneller, appetitanregender Happen, der im Stehen gegessen wird.« Zum Cicchetto gehörte eine Ombra: »Eine Ombra ist ein Glas Weiß- oder Rotwein, das man zur Stunde des Aperitifs zu sich nimmt, um sich von der Mittagshitze zu erholen.« Und wo sollte das alles stattfinen? In einem Bàcaro: »Ein Bàcaro: ist ein Lokal, wo man einen Cicchetto probiert, eine Ombra trinkt und ein Schwätzchen mit Freunden hält.«
Alessanda de Respinis hat diese Begriffsklärungen in ihrem Cicchettario vorgenommen – in einem Buch also, in dem sie (nach langem Drängen ihrer Gäste) die wichtigsten Rezepte ihrer Cicchetti-Kunst gesammelt hat. Als ich das Buch 2015 in ihrer Weinhandlung entdeckte, setzte ich mich sofort dafür ein, dass es auch ins Deutsche übersetzt wurde. Diese Übersetzung (durch Lotta Ortheil) erschien bereits kurze Zeit später in einem kleinen, aber sehr feinen Verlag (der »Dieterich´schen Verlagsbuchhandlung«).
In meinem Nachwort erzähle ich davon, wie ich das Bàcaro Al Bottegon kennengelernt habe und wie ich die Besonderheiten der venezianischen Cicchetti-Kultur deute.
Nach dem Verlassen von San Trovaso durch den Seitenausgang stand ich in den frühen siebziger Jahren wieder am Rio di San Trovaso und erkannte wenige Meter zur Linken eine schmale Brücke. Sie führte direkt auf einen Laden oder ein Geschäft zu, von dem ich aus der Ferne annahm, dass es sich um eine Weinhandlung handelte. Draußen vor der Tür standen jedenfalls Menschen mit Weingläsern in reger Unterhaltung, und anscheinend herrschte auch im Innern des Ladens jene erregte Stimmung vor dem Ritual großer Mahlzeiten, die ich gerade noch auf Tintorettos Bild studiert hatte.
Ich überquerte die Brücke und schaute zunächst vorsichtig durch das Fenster in den Laden. Die Wand zur Linken war voller Weinflaschen in großen Regalen, die bis zur Decke reichten. An dieser Wand entlang standen wiederum kleine Gruppen von Weintrinkern. Gegenüber der Wand gab es einen Tresen, an dem der Wein ausgeschenkt wurde, und vorne, am Eingang, traf der Tresen auf eine große Glasvitrine.
Sie war voller Teller mit den unterschiedlichsten kleinen Speisen, deren Bestandteile auf Zetteln markiert waren. Hinter dem Tresen aber stand die Frau, die diese bunten, malerischen Wunderwerke mit der Hand anfertigte. Sie blickte auf ihre Arbeitsplatte und war gerade dabei, weitere dieser Köstlichkeiten herzustellen, die von den Weintrinkern bestellt und zum Wein gegessen wurden. Immer wieder löste sich einer von ihnen aus der Runde, steuerte auf die Vitrine zu, ging sie prüfend entlang, wechselte einige Worte mit der Künstlerin und ließ sich eines der Häppchen in die Hand reichen, um es langsam zu verzehren.
Eine Weinhandlung also mit Ausschank und beinahe winzigen, den Wein begleitenden Speisen? War es das? Jedenfalls gab es drinnen weder Stühle noch Tische, alle Gäste standen, und kaum einer von ihnen war allein. Es schien sich also ganz nebenbei auch um einen beliebten Treffpunkt von Personen zu handeln, die vielleicht (so stellte ich es mir vor) in der Nachbarschaft wohnten und dann und wann vorbeikamen, um hier einen Tropfen zu trinken, eine Kleinigkeit zu essen und sich über die neusten Nachrichten auszutauschen.
Ähnliches hatte ich damals noch nicht gesehen, und als ich die »Weinhandlung« betrat, ahnte ich nicht, dass ich mich damit in einen Raum einiger typisch venezianischer Rituale begab. Denn es handelte sich ja keineswegs um eine beliebige Weinhandlung mit Ausschank, sondern um einen sogenannten Bàcaro, in dem eine Ombra Wein ausgeschenkt und dazu kleine Cicchetti (so das Fachvokabular der Rituale) angeboten wurden.
Genau um diese Trias kreisten die Rituale des Treffpunkts, deren Besonderheiten ich dann allmählich entdeckte. Sie entsprachen so sehr dem, was ich mir immer von kleinen Mahlzeiten außerhalb von Restaurants oder Lokalen erhofft hatte, dass ich von der ersten Bestellung an geradezu begeistert war. In diesem Bàcaro erlebte ich anscheinend die kleine Mahlzeit für zwischendurch, im Stehen und während eines Spaziergangs genossen, als appetitanregende Vorstufe zu einer darauf folgenden, größeren. Vielleicht machten diese kleinen Köstlichkeiten die größere Mahlzeit aber auch unnötig und befriedigten den Appetit als eine raffinierte Folge von sehr verschiedenen, kunstvoll miteinander kombinierten Zutaten.
Damals, in den frühen siebziger Jahren, wusste ich natürlich noch nicht, dass es sich bei der Wirtin hinter der Glasvitrine um Alessandra de Respinis, die eigentliche Erfinderin der venezianischen Cicchetti-Artefakte, handelte. In ihrem Vorwort zu diesem Buch erzählt sie davon, dass bereits seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts an der Stelle des (heute Al Bottegon genannten) Bàcaro eine Weinhandlung mit dem Namen Cantine del Vino già Schiavi existiert habe. Von solchen Weinhandlungen gibt es noch heute in jedem venezianischen Sestiere gleich mehrere.
Die Venezianer lassen sich dort den jungen Wein aus Fässern in Karaffen oder Glasballons abfüllen und kommen alle paar Tage vorbei, um ihren Vorrat zu erneuern und den Wein für die Mittags- und Abendmahlzeiten mit nach Hause zu nehmen. Eine solche Weinhandlung ist oft auch ein kleiner Ausschank, man hält sich dort für den Genuss von einem Glas Wein auf und bespricht die Neuigkeiten mit dem Besitzer. So gesehen ist die Weinhandlung ein Pendant zu einer Bar, in der man ebenfalls nur kurz (für die Genussdauer eines Caffè, eines Cappuccino oder eines Latte macchiato) vorbeischaut, ein paar Worte wechselt und wieder verschwindet.
Weinhandlungen und Bars sind also kleine Belebungsinseln, die während eines Tages immer wieder in unterschiedlicher Folge aufgesucht werden und im Tagesverlauf kurze Genussakzente setzen. In Venedig sind sie besonders beliebt, weil die Venezianer außer Haus nur zu Fuß unterwegs sind. Sie durchlaufen die schmalen Calli, überqueren eine Brücke nach der andern, kaufen ein, erledigen dies und das, nehmen Kontakte mit Freunden und Bekannten auf und kreisen so (meist auf immer denselben Wegen) durch ihr Sestiere. Dabei bedürfen sie in regelmäßigen Abständen der Stärkung und der Abwechslung, und genau das bescheren Weinhandlungen und Bars.
Dass es zum Wein Cicchetti gibt, war in den frühen siebziger Jahren noch keineswegs üblich. Man servierte dünne Scheiben Brot oder auch einige Stücke Käse, manchmal gab es dazu auch Anchovis oder Mortadella. Kaum jemand aber hatte bis zu diesem Zeitpunkt daran gedacht, die dünnen Brotscheiben mit mehreren unterschiedlichen Zutaten zu belegen und daraus ein minimalistisches kulinarisches Kunstwerk zu machen.
Solche Überlegungen orientierten sich an der Struktur eines Baus. Unten gab es ein schmales Fundament (das Brot), und auf diesem Fundament setzten mehrere miteinander verbundene oder ineinander übergehende Stockwerke auf, von denen jedes einzelne eine Geschmackskomponente zum Gesamtgeschmack beisteuerte.
Die geradezu geniale Grundidee dabei war: das Schmecken und Probieren durch diesen Bau animieren, leiten und von einer Komponente zur anderen vordringen zu lassen. Kosten sollte der Esser jeweils einzelne Zutaten im Gegen- und Zusammenspiel – und das alles in Form eines geschlossenen, kleinen Gehäuses, dessen Komponenten sich auf der Zunge zu einer Komposition verdichteten.
Cicchetti aus der Produktion von Alessandra de Respinis wurden so zu experimentellen Werkzeugen der venezianischen Geschmacksbildung. Durch ihren Genuss testeten die Esser die Eigenarten und die Kultivierung ihres besonderen regionalen Geschmacks anhand von Produkten, die in der unmittelbaren Umgebung angebaut und geerntet worden waren.
Was man auf der Zunge zergehen ließ, waren nämlich die Intensitäten des agrarischen Lagunenraums sowie der agrarischen Terra ferma, kontrastiert mit dem, was die Meeresterrains der Lagune für den Verzehr bereithielten. Indem man Erd- und Meereserzeugnisse miteinander verband, kostete man von zweierlei Formen erlesener Ernte, von der Ernte der Bauern und der Ernte der Fischer. In den vielfältigen Formationen der Cicchetti genossen, erhielten diese Verbindungen eine kulinarische Struktur und eine an gastrosophischen Ideen orientierte Gestalt.
Zwischen Glasvitrine und Tresen ereignete sich außerdem aber noch das Wechselspiel von Cicchetti und Wein. Als junger Novize erkannte ich, dass Alessandra de Respinis für die Speisen zuständig war und ihr Mann Lino den Wein einschenkte. Beide standen wie ein unzertrennliches Duo dicht nebeneinander und unterhielten sich mit ihren Kunden, während neue Cicchetti erfunden und der jeweils passende Wein dazu gesucht wurden. Kontrastierten die Cicchetti im Idealfall agrarische Produkte mit maritimen, so überhöhte und steigerte der Kontrast von Cicchetti und Wein den Grundkontrast der Speisen noch um eine weitere Komponente, die von den Winzern der näheren Umgebung in das Gesamtritual mit eingebracht wurde.
Ein für die Gäste nicht zugänglicher Hinterraum deutete auf deren allgegenwärtige Präsenz, denn dort befand sich das Weinlager. Ich schaute durch einen schmalen Durchgang und erkannte die vielen Kisten und Fässer, die dort, abseits von der Kundschaft, wie ein Schatz gehortet waren.
Damals konnte ich mir kaum einen schöneren und zu Venedig passenderen Ort für eine kleine Mahlzeit vorstellen als diesen Bàcaro. Selbst einem finanziell nicht gut ausgestatteten Studenten wie mir erlaubte er die intensive Teilhabe an der venezianischen Geschmackskultur. Ich konnte den Genuss teuerer, großer Mahlzeiten leicht verschmerzen, denn ich wusste ja: Immer wenn ich Appetit verspürte, konnte ich mich im Al Bottegon einfinden, um dort verführt und überrascht zu werden.