Die durch das Labyrinth von Venedig kreisenden Spaziergänger erleben einen Stadtkörper, der einen unaufhörlich mit den verschiedensten Präsenzen des nahen Wassers verbindet. Man geht nicht nur, sondern treibt dahin, legt an, steigt aus, gerät in unbekanntes Terrain, entdeckt eine Kirche, eine Galerie oder eine Weinstube. Jeder Spaziergang ist anders und neu, jeder entwirft eine unverwechselbare Geschichte und schreibt sie in die Körper der Gehenden und Schauenden ein.
Unmerklich beansprucht Venedig alle nur erdenkliche Aufmerksamkeit und macht einen (durchaus auch in erotischem Sinn) zum »Liebhaber«. Allein (oder höchstens zu zweit) setzt man die Sestieri im Kopf zusammen und entdeckt Figuren, Gestalten und Geschichten.
Die Venedig-Erfahrung vieler sprachgewandter Besucher (wie etwa August von Platen, Rainer Maria Rilke, Friedrich Nietzsche oder Joseph Brodsky) schlug sich daher häufig in der Komposition eines »Gedichts« nieder, das Atmosphären und Stimmungen zu kaleidoskopischen Klanggebilden verbindet, wie sie gerade für diese Stadt sehr charakteristisch sind.
In meinem Buch Venedig. Eine Verführung erzähle ich von den besonderen Weg- und Geherfahrungen in dieser Stadt.
Der ideale venezianische Morgen beginnt nicht im stickigen Frühstücksraum eines Hotels, sondern draußen, im Freien. Die Läden und Geschäfte öffnen sehr spät, zwischen neun und zehn Uhr, erst dann beleben sich auch die meisten Gassen und Plätze. Die beste Zeit für den ersten Spaziergang sind also die Stunden davor, die Stunden zwischen, sagen wir großzügig, sechs und zehn Uhr, in denen im günstigsten Fall die Sonne langsam durch den Morgendunst dringt, die Gassen aber noch im schattigen Halbdunkel liegen.
Bevor du mit deinen Streifzügen beginnst und dich treiben lässt, suchst du deine Lieblings-Bar auf. Eine Lieblings-Bar ist nicht einfach die Bar gleich um die Ecke, sondern die beste Bar der näheren Umgebung, jene Bar also, die alle Bedingungen für eine ideale Bar erfüllt und die du daher erst nach einer gewissen Suche und vielen Vergleichen mit anderen Bars in der Nähe zu deiner Lieblings-Bar wählst.
Eine ideale Bar ist nicht zu beengt und nicht zu dunkel, hat eine lange Theke und ist fast den ganzen Tag über gut besucht. Sie ist im Besitz eines älteren Paars, das meist hinter der Theke steht, und beschäftigt einen oder zwei jüngere Angestellte.
Da ich seit Jahren nur noch in dem venezianischen Stadtsechstel (Sestiere) Dorsoduro in der Umgebung der Kirche San Trovaso wohne, liegt meine Lieblings-Bar gleich hinter der Accademia, der großen Gemäldegalerie, sie heißt Da Gino. Wenn ich sie betrete, schauen die beiden Männer, die gut sichtbar hinter der Theke stehen, kurz auf, um meinen Blick zu erhaschen und die Bestellung mitzubekommen, die ich ihnen gleich nach Eintritt in die Bar zurufe.
Das Betreten einer venezianischen Bar ist daher ein kleiner Auftritt. Die meisten Venezianer kommen sehr rasch hinein und lassen noch in der Tür ihre laute Begrüßung hören, der sofort eine ebenso laute Bestellung folgt. Sie wollen gesehen und gehört werden, und zwar möglichst rasch, denn sie wollen in ihrer Bar nicht viel Zeit, sondern höchstens einige Minuten verbringen. Man bestellt, man trinkt einen Caffè, man führt eine kurze, zum Ende hin oft rascher und pointierter werdende Unterhaltung, dann zahlt man und verabschiedet sich wieder gut hörbar, als habe man Dringendes woanders zu tun. Es ist, als wäre man nur kurz hineingeweht worden, um gleich wieder in den Gassen Venedigs unterzutauchen.
Die beiden Männer mittleren Alters begrüßen mich also und werkeln eilig an der Kaffeemaschine herum. Sie müssen es schaffen, in einer Stunde Hunderte von Tassen mit einem Cappuccino oder einem Caffè zu füllen. Das ist vor allem deshalb nicht leicht, weil die Venezianer es lieben, auch bei der Bestellung so scheinbar eindeutiger Getränke wie Cappuccino oder Caffè auf kleinen Details zu bestehen. Dann heißt es: Einen Cappuccino, aber bitte mit nur wenig Schaum …, einen Caffè, aber bitte mit einem Schuss (oder, noch schöner: einer Idee) kalter Milch …
All dieser feinen Nuancen wegen wird jede Bestellung noch einmal mit einem fragenden, kurzen Blick zum Kunden wiederholt, der sie seinerseits wiederum abnicken muss: Ja, einen Caffè und keineswegs zwei, ja, mit einem Schuss kalter und keineswegs warmer Milch!
Man schiebt mir hin, was ich bestellt habe, eine jüngere Angestellte räumt ab und hat dann später auch ein Auge darauf, dass ich an der Kasse bezahle und die kleine Quittung erhalte, die sie jedem Gast vor dem Hinausgehen in die Hand drücken muss.
Was aber bestelle ich, morgens, sagen wir, gegen sieben (Emilios Bar öffnet um sechs)? Emilio Scarpa hat eine eindeutige Meinung darüber, was man morgens gegen sieben bestellt: einen Cappuccino und nur das, dazu ein Cornetto, ein noch lauwarmes, höchstens mit einem Klecks Marmelade gefülltes Hörnchen, die italienische Variante eines französischen Croissants.
Warum aber soll ich nach Emilios Meinung den Morgen nicht mit einem Caffè beginnen? Morgens um sieben wäre ein Caffè noch zu stark und könnte daher den Magen überfallen und reizen. Caffè trinkt man den ganzen Tag über, in kleinen Mengen, immer dann, wenn man eine Aufmunterung braucht. Ganz in der Früh bedarf seine aufrüttelnde Wirkung jedoch noch einer Dämpfung, er sollte sich gleichsam noch ducken oder verstecken, daher lagert er als gedämpfte und jetzt hellbraune Flüssigkeit unter der gut aufgeschäumten und keineswegs noch flüssigen Milch.
Die Qualität einer Bar bemisst sich nicht selten an der Qualität ihres Cappuccino. In schlechten Bars verliert sich der dünne Schaum schon beim Servieren im Caffè und löst sich schon bald in einer milchigen Brühe auf; in einer guten Bar aber ist er beinahe so steif wie Eierschnee und kragt leicht über den Rand der Tasse. Wenn Du sie jetzt an die Lippen setzt, spürst Du zuerst das weiche Schaumbett der Milch, dann strömt der Caffè aus der Tiefe nach und lagert sich auf diesem Bett, es ist, als hättest Du eine luftige, flüssige Praline zu dir genommen.
Du bist nun hellwach, all deine Sinne sind jetzt geschärft für deinen Spaziergang, du verweilst also keineswegs länger und wirfst höchstens noch einen letzten Blick auf die typischen Utensilien einer Bar, die Fotos, die Glücksbringer und die Zeitungsausschnitte gleich hinter der Theke, auf die große Vitrine mit Tramezzini, belegten Brötchen und Toasts zur Rechten, auf die dunkle Fan-Ecke ganz hinten im Abseits, mit Fotos und Plakaten der einheimischen venezianischen Fußballmannschaft und von Inter Mailand.
Kurz schlägst du dann noch den Regionalteil von Il Gazzettino, der venezianischen Tageszeitung, auf, wo du auf der Seite mit den Stadtnachrichten die wichtigsten Tages-Informationen erhältst, von den auf die Minute exakten Zeitangaben über den täglichen Gezeitenwechsel des Wassers oder den Auf- und Untergang von Sonne und Mond über die Namen der Tages-Heiligen bis hin zu den Terminen der frühabendlichen Vorträge und besonders beliebten Konferenzen in den meist unbequemen Vorlesungssälen der Universität.
Dann zahlst du, rufst »ciao« und machst dich davon, jetzt bist du bereit für deine frühen, ziellosen Wege, die du ohne jeden Blick auf eine Karte zurücklegst.
Ein feiner Sonnen-Dunst kauert noch zwischen den Häusern und lagert auf den Kanälen, du gehst durch die schmalen gewundenen Gassen (die Calli), von deren Böden die nächtliche Feuchtigkeit aufsteigt, bald aber fluten die ersten Sonnenstrahlen hinein in das Dunkel, es ist, als triebe es das Licht zu den Wassern, als werde sein dünnes, herabnieselndes Blattgold angezogen von all diesem hingelagerten Grün.
Hier und da stehen Fenster und Türen auf, schwarz ausatmende Rechtecke und Quadrate, ein schwacher Modergeruch treibt um die Häuserwände, für einen flüchtigen Augenblick schaust du in ein Treppenhaus oder einen kleinen, noch ruhenden Innenhof, von Hauswand zu Hauswand baumeln Wäscheleinen und Leitungen, als hielte das alles sich an den Händen, unauffällig verbunden.
Im Erdgeschoss ist die Zone der kleinen Geschäfte und Läden, eines reiht sich ans andere, getrennt nur von den strengen, weißen Senkrechten der Türen und Eingänge, auf denen die tragenden Balken aus Holz liegen, starke horizontale Momente, über denen die Reihung der größeren Fenster mit ihren grünen Klappläden beginnt, manchmal unterbrochen von einem winzigen Balkon mit seiner pittoresken Blumentopfgarde.
Eine Seite deiner Gasse liegt noch im Schatten, die andere aber hat schon die Sonne gepackt und trocknet sie aus, du schleichst durch dieses Zwielicht, indem du unaufhörlich zwischen Hell und Dunkel changierst, du wirst von der gewundenen Laufrichtung der Gasse geführt, weichst aus, schlägst dich zur Seite, ziehst den Kopf ein und gehst ein kleines Stück geduckt ein überdachtes Wegstück (einen Sottoportego) entlang, bleibst an einem Uferstück stehen, an dem es nicht weitergeht, drehst um, setzt erneut wieder an, bis du eine der vielen Brücken erreichst, die früher noch breite Rampen zum Hinauf- und Hinabreiten und keine Geländer hatten, jetzt aber mit kurzen und raschen Schritten genommen werden müssen.
Oben, auf ihrer Mitte, machst du kurz halt, denn immer wieder überrascht dich dort eines dieser singulären, dein Herz für einen Moment stocken lassenden Bilder: Du schaust auf einen schmalen Kanal, in dessen Wasser sich der Himmel und die vielfarbigen Hauswände spiegeln, du erkennst einige scheinbar vergessene Boote, lässig zu beiden Seiten des Kanals postiert und kaum merklich auf der Stelle hin- und herschaukelnd, du erstarrst vor diesen ruhigen Bildern und fragst dich, wer sie so malerisch komponiert hat, denn sie scheinen der Ästhetik von Stillleben zu folgen, so dass du dich selbst inmitten eines Gemäldes wähnst, ja, du bist der stumme, bewegungslose, mit dem Rücken zum Betrachter stehende Spaziergänger links unten auf einem der vielen venezianischen Genrebilder.
Das Wasser erscheint in seiner tranigen Schwere beinahe regungslos und wellt bei genauerem Hinsehen doch langsam auf dich zu oder unmerklich von dir weg, hat also versteckten Kontakt mit jetzt unsichtbaren, ferneren Adern, dabei greift es unaufhörlich nach den grünen Algen-Fundamenten der Häuser, die, kurz der Berührung entzogen und rasch wieder umspült, in diesem steten Rhythmus silbern aufblinken.
So ist dein Gehen ein geleitetes, kanalisiertes Fließen und Strömen, du fließt durch die Calli, in denen die Sonne aufblitzt und sofort wieder verschwindet, du strömst und schwappst über die kleinen Brücken und wieder hinab, sonst aber ist es still, so still, dass jeder Laut Dich einzeln erreicht, die raschen Schritte einer Frau, die ihren Einkaufswagen hinter sich herzieht, das sirrende Pfeifen eines Stars in seinem Käfig, ein dramatisch geführtes Gespräch zu zweit irgendwo in der Nähe, und immer wieder die Grundakkorde des Wassers, sein Rumoren, Klatschen und Schmatzen, die ganze Breviatur gebremster, aber lauernder Kraft.
Schließlich aber brichst du dir Bahn, vor dir öffnet sich die Weite eines Platzes (eines Campo), du kreist noch ein wenig auf ihm wie eine Fliege, die endlich ins Freie gefunden hat. Mit der Zeit wirst du Lieblings-Campi haben, die du immer wieder aufsuchst, wie zum Beispiel den Campo San Polo mit seinen eng an die Apsis der Kirche gelehnten Zypressen, die wie zwei grüne, eng aneinandergelehnte, schwere Pelzmäntel dastehen, trotzig in all ihrer Winter-Geduld, du setzt dich auf eine der roten, geschwungenen Bänke und erkennst Signora Enrica, die mit ihrem Einkaufswagen vorbeizieht, den weißhaarigen alten Dottore, der sich so beeilt, als wäre er noch immer auf dem Weg zu einem wichtigen Termin, oder die junge, ehrgeizige Kunsthistorikerin, Signorina Tagliotti, die an der Universität bereits ihre ersten Seminare über die Bauten des Veneto hält.
Jeder Campo mischt die Einwohner Venedigs auf seine eigene Weise und gruppiert sie dann wieder zu malerischen Tableaus, auf dem Campo San Polo zum Beispiel tummeln sich die venezianischen Kinder, sie fahren auf ihren winzigen Rollern und Rädern, spielen Ball, krächzen mit ihren hohen, nasalen Stimmen, schwirren wie Schwärme winziger Vögel über den Platz, jagen sich und stoßen gurrende Taubenlaute aus, während ihre Mütter, Großmütter, Tanten und Kindermädchen in kleinen Plaudergruppen um die wenigen Bänke stehen. So hat das Ganze hier etwas Dörfliches, es wirkt schlicht, friedlich und seit Jahrhunderten gleich, Canaletto könnte diese weite Mulde vor 250 Jahren mit den schönen Palästen ringsum gemalt haben, sie ist ein kleines, geschütztes und geschlossenes Terrain, über dessen Häusern du erst jetzt das Schauspiel des weiten Himmels gewahr wirst.
Denn dort oben, direkt über dir, scheinen sich dünne, beinahe durchsichtige Wolkenbänke rasch hin und her zu bewegen, sie verdicken oder zerfallen in feine Fasern und geben dann ein Kobaltblau frei, manchmal nur eine Luke, ein Bullauge gleichsam, wie ein Tupfer auf einer Palette, dann aber trennen sich diese flüchtigen Decken nach den Seiten hin auf, reißen, setzen flusige Ränder an und überspannen sich, bis die großen blauen Tiepolo-Flächen entstehen.
So ist auch der Himmel unaufhörlich in geheimer Bewegung und findet immer wieder zu den Blau-Tönen seines Himmels-Wassers zurück, aus dem dann wieder weiße und gräuliche Wolkenstreifen entstehen, niedersinken, sich zu Bänken staffeln und hintereinander gruppieren …, was diesen Himmel zur besonderen Attraktion der venezianischen Maler machte, die hier früh einen Impressionismus erfanden, eine Suche nach den geheimen Akzenten des Lichts in einem scheinbar stillen, unveränderlichen, ganz von den Naturgewalten beherrschten Raum.
Ein Stück weit hast du jetzt das Labyrinth Venedigs durchstreift, in Wahrheit aber bist du von Campo zu Campo gelaufen, was bedeutet: von Kirche zu Kirche, denn die meisten Campi werden auf einer Seite von einer Kirche mit ihrem frei stehenden Campanile beherrscht. So bist du also genau genommen von einem Pfarrbezirk (einer Parocchia) in den anderen übergesetzt, noch heute tauchen die Namen dieser Pfarrbezirke an den Hauswänden vieler Gassen und an ihren Kreuzungen auf, sie bezeichnen den Ur-Zustand Venedigs, sein Wuchern und Wachsen von Gemeinde zu Gemeinde und damit von Insel zu Insel, daher ist die eigentliche Karte dieser Stadt eine Karte ihrer Kirchen und Pfarrbezirke, und daher unterliegt noch heute jede Orientierung von Campo zu Campo geheimen Grenzübertritten von einem geheiligten Terrain in ein anderes.