Italienische Momente

Vor genau fünfzig Jahren bin ich als junger Mann zum ersten Mal nach Italien gereist. Seither habe ich das Land im Süden jedes Jahr zumindest für einige Wochen besucht. Meistens bin ich aber länger geblieben, denn ich wollte nicht als flüchtiger Tourist auftreten und leben. Natürlich war ich anfänglich genau das und bin es in den Augen der Einheimischen vielleicht auch heute noch. Ich selbst habe mir aber Mühe gegeben, das touristische Dasein zu überwinden und (soweit irgend möglich) immer mehr auszulöschen.

Das gelang vor allem durch die Sprache. Italienisch mit den Bewohnern zu sprechen, ihre Tagesabläufe zu teilen, mit und unter ihnen zu leben – das hat mir große Freude gemacht. So habe ich in diesem Land oft eine Nähe und Herzlichkeit kennengelernt, die mich vergessen ließ, dass ich eigentlich woanders zu Hause war.

War ich das? Ja und nein. Mit den Jahrzehnten ist Italien für mich zu dem geworden, was ich heute »die zweite Heimat« nenne. Mit ihr verbinden mich durchaus Heimatgefühle, ähnlich denen zu Orten meiner deutschen Herkunft. Diese Gefühle sind aber abgeleiteter Natur, denn so ganz verschwindet während meiner Aufenthalte nie das Empfinden, in einer Fremde zu leben.

Gerade diese Spannung macht die Italienaufenthalte interessant: Das Gefühl, dazu- und doch nicht dazuzugehören, viele Empfindungen mit den Einheimischen zu teilen – und doch zu spüren, dass man nur eine Art integrierter Beobachter ist.

Was aber hat mich so stark gerade an diesem Land fasziniert? Der Zusammenklang von Kultur und Natur, die Schönheit der alten Innenstädte, die noch überwältigendere Schönheit der weiten Landschaften, Malerei, Musik und Filme, die hellwachen und anregenden Unterhaltungen mit italienischen Freundinnen und Freunden, ihre enorme Lockerheit und Eleganz.

Ein guter Bekannter, der Jahrzehnte in Rom verbracht hatte und doch irgendwann wieder für immer nach Deutschland zurückkehrte, stellte im Blick auf solche Freundschaften eine Differenz fest, die auch mir immer stark aufgefallen ist: »Etwas müssen die Deutschen noch üben: das Küssen, das Umarmen und das Lächeln!«

Ach ja, genau das habe ich auch erst üben und lernen müssen, seit meinen ersten Wochen in Rom. In der Ewigen Stadt habe ich am meisten Lebenszeit verbracht, dann folgt Venedig, dann die adriatische Küste und schließlich Sizilien. Ligurien, die Toscana und Umbrien, aber auch Apulien habe ich ebenfalls gut kennengelernt, mich aber nie länger dort aufgehalten. Ich bin meinen zuerst aufgesuchten Regionen vielmehr bis heute treu geblieben. Ich liebe sie und viele ihrer Bewohner sehr. Auf eine einfachere Formel kann ich meine jahrzehntelange Anhänglichkeit nicht bringen.

Diese Liebe fand ihre Erweiterung in zahllosen Lektüreerlebnissen, über die ich ebenfalls ausführlich schreiben könnte. Das würde dann ein eigenes Buch ergeben. Genau erinnere ich mich etwa noch daran, dass ich während meiner ersten römischen Monate Jacob Burckhardts Die Kultur der Renaissance in Italien las. Schon dieses Buch flößte mir einen großen Respekt vor den italienischen Lebensformen ein, und ich fragte mich, ob ich ihren Kulturen auch gewachsen sein würde.

Mit Jacob Burckhardts Cicerone in der Hand legte ich dann meine frühsten Wege durch Rom zurück. Der Respekt wurde größer und größer – und schlug schließlich um in Dankbarkeit: eine Welt zu erleben, die aus einem jungen Mann einen anderen Menschen machte.

Genau das verdanke ich nämlich Italien: Dieses Land hat aus mir einen anderen Menschen gemacht. Unglaublich. Aber wahr.

Hanns-Josef Ortheil
Köln, Wissen/Sieg, Rom, Venedig – im Frühjahr 2020