Durch Vermittlung des Pfarrers der deutschen Rom-Gemeinde fand ich Aufnahme in einer kleinen Pension, die von einer älteren Dame aus Südtirol geleitet wurde. Sie beherbergte vor allem Priester aus den deutschsprachigen Ländern, die wegen ihrer Exerzitien einige Wochen in Rom verbrachten. Da ich mir ein kostspieliges Pensionszimmer nicht leisten konnte, stellte sie mich als ihren Gehilfen an. So wohnte ich umsonst und erledigte dafür vieles für meine Vermieterin. Ich kaufte ein, unterhielt den Kontakt mit dem Portier und machte die Bekanntschaft der anderen Mieter in dem großen Mietshaus in der Via Bergamo 43.
Mein Aufenthalt gestaltete sich mit den Monaten als eine leidenschaftliche Suche nach dem schönen, römischen Leben. Ich geriet in Kontakt mit vielen Menschen des Quartiers und führte mit den Bewohnern (zunächst meist noch auf Englisch) erregte Debatten über seine Rituale und Gesetze. Daneben lernte ich rasch, nach welchen Regeln das Leben in der kleinen Pension verlief. So entwickelte ich mich zu einer Art Hausdiener und Boten, der den halben Tag unterwegs war und sich während der anderen Hälfte des Tages am Klavier auf seine Aufnahmeprüfung ins Conservatorio vorbereitete.
Signora Adele war eine streitbare Dame von beinahe siebzig Jahren und Herrin der kleinen Pension, in der ich mich in Rom einquartierte. Sie hatte sofort Zutrauen zu mir, bereits am ersten Abend meines Aufenthaltes wollte sie meine Geschichte hören.
Schon am darauffolgenden Tag führte sie mich in die ungeschriebenen Gesetze ihrer Pension ein. Besucher, die längere Zeit hier verbringen wollten, mussten sich Monate im Voraus anmelden und hatten Referenzen vorzuweisen. Frauen waren nicht zugelassen und wurden an die Nonnenklöster auf den vatikanischen Hügeln verwiesen. Morgens gab es ein karges Frühstück, für das ich zuständig war. An jedem Tag ging ich gleich nebenan auf dem kleinen, überdachten Markt, wo es die frischsten Waren gab, einkaufen. Das Mittagessen nahmen die Gäste im Kloster ein; am frühen Abend wurde ihnen zu einer festgesetzten Stunde eine kleine Abendmahlzeit serviert. Dabei bediente ich die geistlichen Herren; ich sorgte für den reibungslosen Ablauf des Zeremoniells, achtete darauf, dass niemand auf den Gedanken kam zu rauchen und erkundigte mich nach besonderen Wünschen. Da Signora Adele mit dem Hausmeister beständig Krieg führte, verlief der Kontakt zu dieser wichtigen Person nur über mich; sie notierte ihre Anweisungen auf kleine Zettel, die ich mit unschuldiger Miene auszuhändigen hatte. Außerdem hatte ich nach dem Abendessen den Advokaten Cesare Caterino, einen glatzköpfigen, redegewandten Menschen, zu uns hinauf in die Pension zu bitten. Er residierte im ersten Stock des Hauses, zu dritt nahmen auch wir dann eine kleine Mahlzeit ein, die sich häufig so sehr in die Länge zog, dass ich mich bald für den weiteren Abend verabschiedete, um zu einem meiner weiten Spaziergänge und Eroberungszüge aufzubrechen …
Von Tag zu Tag lebte ich auf. Ich hatte in Goethes römischen Aufzeichnungen gelesen, und obwohl ich gerade zu diesem ekstasetrunkenen Menschen einigen Abstand halten wollte, vermutete ich bald, dass meine Erlebnisse den seinen nicht ganz unähnlich waren. Denn er hatte von der Wiedergeburt geschrieben, die er in Rom erlebt habe, davon, dass er hier zum ersten Male in seinem Leben völlig glücklich gewesen sei. Das Glück – ich spürte es bereits, wenn ich in der abendlichen Stille aus dem Haus trat, gelockt von der Versuchung, den Straßen ohne weitere Orientierung zu folgen, einzutauchen in die Dunkelheit der Borghesischen Gärten, weitergetrieben auf die Höhe des Pincio, wo sich Trauben von Menschen versammelten, oft erstarrt im Blick auf das vom samtgoldenen Abendlicht eingehüllte Häusermeer, die künstlich erleuchteten Kirchenkuppeln, die Schwaden von Rauch, die sich zwischen den Straßenzügen verfingen, auflachende, von der Lust der Bewegung getriebene Menschen, die den Hügel von allen Seiten her aufsuchten, während ich die Treppen hinab zur Piazza del Popolo nahm, wo sich die Straßen verzweigten, tief ins Innere des weit sich dehnenden Kessels, den die anderen Hügel krönten. Ein gewaltiger Baumeister hatte dieses Schauspiel entworfen und die Stadt zu einer einzigen Bühne verzaubert, ein in Jahrhunderten gewachsener festlicher Raum, der Tag und Nacht andere Einblicke erlaubte …
Wenn ich spät in der Nacht in die Pension zurückkehrte, wartete Cesare, den ich nur als den professore anredete, meist noch auf mich. »Ecco!«, rief er mir entgegen, »was hat unser Studiosus denn heute wieder entdeckt? Chi cerca trova!« – »Dio buono, professore!«, erwiderte ich, so gut es ging, »ich habe mich wieder heißgelaufen, wie Sie es nennen, heiß, da capo a piedi! Sagen Sie mir doch, wo ich anfangen soll! Diese Stadt überwältigt mich, und es gibt kein Entrinnen mehr. Gestern trieb es mich noch zu den etruskischen Figuren, den mannshohen Terrakotten, die so ganz anders sind als die griechischen, römischen, weniger ernst und bestimmt, lächelnde Engel, die ein dunkler Glaube erfunden hat, als könne das Sterben nichts Schreckliches sein und als sei der Körper eine schöne Erscheinung, in die manchmal ein Blitz vom Himmel fährt. Heute aber verlor ich mich in eine Kirche der Jesuiten, die nach dem heiligen Ignatius benannt ist, und starrte lange Zeit hinauf zum Deckengemälde Andrea Pozzos, wo alle Gestalten von der Erde fortwollen, hineingezogen in einen lichten Strudel, der sich zu einer fernen Sonne verdichtet. Dann eilte ich durch das mächtige Rund des Kolosseums und lief immer weiter hinauf bis zu den höchsten Stufen des Ovals, und ganz nahe leuchtete die Fassade der lateranischen Basilika, die ich noch nicht aus der Nähe gesehen hatte, so dass ich mich gleich auf den Weg machte …« – »Sie übertreiben, mein Freund«, erwiderte Cesare, »Sie wollen alles im Fluge genießen. Muten Sie sich nicht zu viel zu, betrachten Sie nur einmal Ihr gerötetes Gesicht und die weit geöffneten Augen im Spiegel, es ist, als hätten wilde Furien Sie erfasst.« – »So muss es sein, professore, vorerst gönne ich mir keine Ruhe. Sicher wäre es gescheiter, eins nach dem anderen zu erledigen, mit den römischen Altertümern zu beginnen, mit den Sarkophagen des Thermenmuseums, mit den Standbildern des großen Augustus, langsam aufsteigend zur frühen christlichen Kunst, den flimmernden Mosaiken der kleinen Kirchen Trasteveres, die etwas haben von kühlen Grotten, um – das Mittelalter lasse ich aus – dann die großen Maler der Renaissance zu studieren, Raffaels philosophische Werke und die Schlachten zwischen dem Guten und dem Bösen, die in Michelangelos berserkerhaften Entwürfen toben … – aber ich kann mich an keine Ordnung mehr halten!«
Cesare schüttelte bei solch aufgebrachten Reden nur den Kopf. Er bot mir ein Glas Sherry an, während Signora Adele noch einen letzten Rundgang durch die Etage machte, um alles für die Nacht zu richten. »Sie sprechen seit einiger Zeit so häufig von Goethe, junger Freund«, fuhr Cesare fort, »und ich denke, Sie haben ihn sich ein wenig zum Vorbild genommen, kein schlechtes Vorbild, aber ein aufregendes. Bedenken Sie, dass er, als es ihn nach Rom verschlug, beinahe zwanzig Jahre älter war als Sie. Es hatte ihn wohl eine ähnliche Unruhe gepackt, und in den ersten Tagen seines Aufenthaltes streifte er ziellos umher. Dann aber handelte er überlegter. Er nahm sich vor, nicht alles zu sehen, sondern einige ausgewählte Dinge gründlicher zu studieren. Er wollte Rom begreifen …« – »Ja, professore, er bekam etwas Solides, die alte nordische Überanstrengung meldete sich, er legte sich alles fein zurecht, um seinen Geist nicht zu verwirren.« – »Hören Sie sich unseren stürmischen Freund an, Signora Adele«, unterbrach mich Cesare, »er will nicht von Goethe lernen. Am liebsten würde er das Forum umpflügen und das Colosseo als Fundament benutzen, um darauf noch die Peterskirche als Thronhimmel zu setzen!« – »So ein Unfug!«, schnitt Signora Adele ihm das Wort ab, »es ist Zeit, zu Bett zu gehen. Cesare – ich will Sie nicht länger hier sehen, Sie rauben unserem Wahnsinnigen den Schlaf, Johannes – Sie werden morgen früh einer der Ersten auf dem Markt sein, sonst bleibt uns beim Einkauf nur noch die zweite Wahl!« Wir gehorchten …
Meist weckte mich am Morgen der Lärm im Innenhof unseres Hauses. Im Erdgeschoss befand sich ein kleines Lokal, in das in der Frühe die Marktverkäufer einfielen. Dies war für mich das Zeichen zum Aufstehen. Ich wusch mich, kleidete mich an und trank in der Küche ein erstes Glas Tee, das Signora Adele schon für mich bereithielt. Da es nur zwei kleinere Bäder in der Pension gab, hatte ich für einen reibungslosen Ablauf der Morgentoiletten zu sorgen. Ich klopfte nacheinander an allen Türen und gab mit gedämpfter Stimme bekannt, dass das Bad zur Benutzung frei war. Die geistlichen Herren wollten einander nicht so früh begegnen. Wenn es doch einmal dazu kam, flüchteten sie voreinander in ihre Zimmer, als seien sie auf einen bösen Geist gestoßen. Während sie in einer von mir sorgfältig ausgetüftelten Reihenfolge das Bad aufsuchten, richtete ich in der Küche das Frühstück. Jeder Gast wollte anders bedient sein, und ich hatte mir die Vorlieben der oft eigensinnigen geistlichen Herren genau einzuprägen. Die meisten litten unter leichten, aber dauerhaften körperlichen Übeln; der eine vertrug keine Zitrone im Tee, der andere verzichtete auf Süßspeisen, ein dritter kam nicht ohne Medikamente aus. Nach dem Frühstück zogen sie sich meist noch einmal für einige Minuten in ihre Zimmer zurück. Sie waren erschöpft, einige dämmerten unter dem Vorwand, im Brevier zu lesen, so lange vor sich hin, bis Signora Adele unduldsam wurde. Wenn sie den Staubsauger in Gang setzte, hielt es selbst die schläfrigsten Gäste nicht mehr in ihren Zimmern. Sie nahmen Reißaus und überließen das Terrain der Signora, die sich zusammen mit einer jungen Italienerin an die Säuberung der Zimmer machte.
Zu dieser Zeit nahm ich in der Loge des Hausmeisters, der dort als eine Art Portier fungierte, die Post entgegen. Ich konnte Signora Adele nicht gestehen, dass ich mich mit ihm angefreundet hatte. Gleich zu Beginn meines Aufenthaltes hatte sie mir beigebracht, es genüge in Italien nicht, es mit einem einfachen buon giorno oder einem tante grazie bewenden zu lassen. Der Italiener, hatte sie erklärt, rede, um zu reden, und es sei ausgesprochen unhöflich, sich einem Gespräch, kaum dass es begonnen habe, gleich wieder zu entziehen. Wer immer in Eile sei, gebe zu erkennen, dass er sich seine Zeit einteilen müsse. Der Mann von Welt verfüge jedoch frei über die Zeit und zeige allen, dass es ihm nichts ausmache, sie zu verschwenden. Andererseits gelte es um jeden Preis zu vermeiden, dass ein Gespräch langweilig werde. Wer nur korrekt und einfallslos gerade auf das antworte, was er gefragt werde, sei kein angenehmer Gesprächspartner. Der Italiener wolle ein Problem von allen Seiten angehen; schon deshalb dürfe man keineswegs starrsinnig allzu lange auf seiner Meinung beharren. Wer sich laufend wiederhole, sei berechenbar und langweilig, leicht könne es ihm daher passieren, dass sein Gegenüber ein ganzes System von Widersprüchen, Notlügen und Ausflüchten aufbaue, um die Unterhaltung zu beleben. Am einfachsten sei es vorläufig, ich ließe meinen Gefühlen freien Lauf (dare libero corso ai propri sentimenti), denn ein Mensch, der sich nicht gerührt, entsetzt oder tieftraurig zeige, sei von vornherein ein in der mitempfindenden menschlichen Gesellschaft wenig angesehenes Subjekt.
Ich hatte mir ihre Lehren zu Herzen genommen, und obwohl ich die italienische Sprache noch kaum beherrschte, gab ich mir Mühe, wie ein Weltmann aufzutreten, der über unbegrenzt viel Zeit verfügte. Giulio, der Hausmeister, wusste das zu schätzen. Wenn wir gemeinsam die Post sortiert hatten, lud er mich oft zu einem Glas Wein ein. Präsentierte er sich an dem einen Morgen noch als der stolze Vater von sechs wohlgeratenen Kindern, so brach er an einem anderen gerade darüber in Wehklagen aus, dass es so viele waren. Häufig überrumpelte er mich damit, dass er von einer Minute auf die andere seine Ansichten wechselte; er nannte mich einen guten Freund, und doch war ich mir nicht sicher, ob er mich nicht heimlich beobachtete und all meine Unternehmungen misstrauisch verfolgte. Ich wusste nicht, woran ich mit ihm war, und da ich Signora Adele nicht von unseren Gesprächen erzählen konnte, fragte ich Cesare, wie ich mich zu verhalten hatte.
Cesare erklärte, dass es darauf ankomme, niemals indifferente zu erscheinen. Am meisten gelte die lauthals deklamierte Leidenschaft. Wer immer nur gleichgültig dreinblicke, als gehe ihn nichts etwas an und als spiele sich alles nur in seinem wohlbehüteten Inneren ab, sei eine unsympathische Erscheinung. Nur das, was auch sichtbar nach außen dringe, mache Eindruck. Dieses Gesetz gelte nirgendwo mehr als gerade in Rom; die Schönheit der Stadt offenbare sich in einer alle menschlichen Sinne überwältigenden Pracht, deren Überfluss jeden Betrachter glauben machen wolle, es komme auf eine Einzelheit erst gar nicht an. Daher dürfe man auch als Mensch nicht durch Zurückhaltung abseitsstehen; man stelle sich durch ein unverwechselbares Benehmen, durch seine Gestik und Mimik dar. »Sprechen Sie langsam, aber sehr deutlich«, riet er mir, »jeder wird sich freuen, dass Sie sich bemühen, die Landessprache zu beherrschen. Zeigen Sie nicht, dass es Ihnen schwerfällt! Wiederholen Sie unbekümmert bestimmte Wendungen, die Sie sich zurechtgelegt haben, und unterstreichen Sie, was Sie sagen wollen, durch deutliche Gesten. Dann aber – ecco! – wird vor mir ein Mensch stehen, den man anerkennt. Passionato, junger Freund! Italien ist das Land der Oper, und ich liebe die Oper, so wie jeder Italiener sie liebt, auch wenn ich von Musik nichts verstehe. Ihnen müsste es doch leicht gelingen, mit Worten Musik zu machen. D’accordo?« – »Assolutamente, professore!« –