Im Licht der Lagune

Auch die Venedig-Anziehung wurde für mich mit den Jahren so stark, dass ich oft dorthin gefahren bin und länger in dieser Stadt gewohnt habe. Da sie sich im Grunde seit Jahrhunderten wenig verändert hatte, reizten mich Phantasien darüber, wie man in ihr gelebt haben mochte, als nur wenige Touristen sie besuchten und sie noch in ihrer ganzen Machtfülle existierte.

Aus diesen oft sehr regen Phantasien entstand der Roman Im Licht der Lagune. Seine Hauptfigur ist der junge Zeichner und Maler Andrea, der die Erinnerung an sein früheres Leben verloren hat. Eines Tages wird er mitten in der wilden Lagunenlandschaft in einem kleinen Boot angetrieben und erholt sich erst langsam von den Schrecken der Vergangenheit. Während seiner Genesungszeit kommt er im Haus eines venezianischen Adligen unter. Von dessen Palazzo aus wagt Andrea schließlich seinen ersten solitären Gang durch die Stadt.

An einem frühen Morgen vor Sonnenaufgang wagte sich Andrea endlich allein hinaus. Er schaute nicht mehr zurück, er ging los, zögernd noch, aber entschlossen, sich in der Wasserstadt umzusehen. Lange genug hatten sie ihn auch hier im Haus behalten, alle wollten sie ihn bewachen und beobachten, und noch immer hatten die Fragen nicht aufgehört, die ewigen Fragen nach seiner Herkunft, seinen Eltern und den Tagen zuvor. Er konnte diese Fragen längst nicht mehr hören, nein, sie waren ihm so zuwider, dass sie ihn anekelten.

Jedes Mal, wenn man ihn fragte, spürte er ein Gefühl der Verlassenheit, des einsamen Lebens unter all diesen Menschen, die wie selbstverständlich zueinandergehörten. Viele ihrer Worte verstand er noch nicht, er konnte nicht wissen, was sie bedeuteten, weil es Worte waren für Dinge, die er nicht kannte. Sie hatten keine Mühe, diese Dinge zu benennen und sich über sie zu verständigen, er aber musste nachfragen, immer wieder, längst war es ihm peinlich geworden, Carlo mit solchen Fragen zu belästigen, so dass er es aufgegeben hatte, sich zu erkundigen.

Carlo gab sich alle Mühe, er war gut zu ihm, auch der Conte war ein guter, mildtätiger Mensch, aber sie konnten nicht verstehen, was in ihm vorging, sie hatten keine Ahnung davon, wie sehr es ihn entsetzte, nichts von seiner Herkunft zu wissen und neue Wörter zu lernen wie ein Kind. Sie behandelten ihn noch immer wie einen Kranken, in gewissem Sinn war er ja auch krank, ihm fehlte es an Wissen und an Geschick, körperlich aber war er doch längst genesen, nur diese plötzlichen Anfälle tiefer Müdigkeit und Erschöpfung erinnerten noch daran, dass man ihn beinahe tot, ›scheintot‹ nannten sie es, gefunden hatte.

Jetzt aber war Zeit, allein etwas zu wagen, er hielt all ihre Rücksicht nicht mehr aus. Schließlich musste er lernen, die Wasserstadt selbst zu erkunden; wenn er hinter Carlo herlief, bekam er kaum etwas anderes mit als die Farben der Steine des Pflasters.

Die erste Brücke hatte er schon überquert, auch die zweite, um genau drei Ecken war er gegangen, nun ging es eine lang gezogene, gekrümmte Gasse entlang, erneut eine Brücke, dann führte eine schmale Wegpartie an einen Kanal. Sie hatten aber die Wege meist nicht entlang den Kanälen gebaut, die Gehwege waren das eine, die Wasserwege das andere, beide hatten nichts miteinander zu tun. Auf den Wasserwegen hätte er sich leicht zurechtgefunden, meist verliefen sie in langen Geraden, die Gehwege aber waren ineinandergeschachtelt, gekrümmt, zweigten unübersichtlich voneinander ab oder versickerten … wie dieser hier, genau der, den er gegangen war, der endete hier an einem Kanal, so dass er umkehren musste.

Warum baute man Wege, die nicht weiterführten und im Nichts endeten? Er ging langsam und suchend zurück, nein, er fand den Rückweg nicht mehr, das war vergebens. Diese Brücke war nicht die Brücke, über die er eben noch gegangen war, obwohl sie ihr täuschend ähnlich sah. All diese Brücken ähnelten einander und waren doch völlig verschieden. Um den richtigen Weg zurückzufinden, hätte er sie sich noch besser einprägen müssen, jede für sich. Manche waren noch wie kleine Bilder in seinem Kopf, doch er konnte diese Bilder nicht festhalten.

Er hätte, ja, er hätte sie aber festhalten müssen, fixieren, um sich genau an sie zu erinnern. Vielleicht gelang es ihm, diese Kopfbilder zu zeichnen, richtig, er musste beginnen, Venedig zu zeichnen, die Fassaden der Häuser, die Brücken, die Gassen, er musste sich sein ›Weg-Buch‹ Venedigs anlegen, das könnte ihm helfen, sich nicht mehr zu verirren.

Dass er noch nicht früher darauf gekommen war! Manchmal hatte er schon versucht, etwas zu zeichnen, mit den Fingern auf Stein. Er hatte die Bilder in seinem Kopf festhalten wollen, wenigstens für Sekunden, doch das flüchtige Gekritzel war natürlich bald wieder verschwunden, wie die Kopfbilder auch. Gut, er wollte es bald einmal versuchen: etwas zeichnen auf ein Blatt! Wenn er die Augen schloss, sah er die Bilder ganz deutlich, er musste sie mit dem Stift nur nachzeichnen, das konnte nicht schwer sein.

Weiter, was machte es schon, dass er sich verirrt hatte? Er war begierig darauf, tiefer einzudringen in diese Stadt, es kam nicht darauf an, dass er gleich wieder zurückfand, ihm würde schon etwas einfallen. Er scheuchte einige Tauben aus dem Weg und sah eine Katze, die durch ein Gitter schlüpfte. Dort war ein Kaffeehaus; diese Häuser waren, wie man ihm gesagt hatte, immer geöffnet, Tag und Nacht. In diesem dort saß ein einsamer Gast und kratzte mit dem Löffel eine Tasse aus.

Dann hörte er aus einer nahen Kirche einen schwachen Gesang. Er ging hinein, konnte aber niemanden erkennen, das Kirchenschiff war leer, der Gesang tönte durch ein hoch gelegenes Gitter in der Nähe der Orgel, es waren helle, klare Mädchenstimmen, die im hohen Kirchenraum verschwebten oder einen summenden Klang hinterließen, der ihm noch in den Ohren lag, als er die Kirche verließ. Eine Gruppe zerlumpter Gestalten fegte den kleinen Platz vor der Fassade, jetzt brach das Sonnenlicht über die Stadt herein, es flackerte oben über den Dächern und lief langsam, tropfenweise, an den Fassaden herunter, während die Gassen noch im feuchten Dunkel lagen, schlummernd, gähnend, wie im Traum.

Doch nun hörte man schon die ersten lauteren Stimmen, die Stimmen der Wasser- und Milchverkäufer, Mädchen standen an einem Brunnen, Wasser schöpfend, dann das immer lauter werdende, kreischende Schreien der Marktleute, ganz in der Nähe musste der große Markt sein, da kannte er sich wohl etwas aus. Richtig, dort war der Markt, die großen Boote legten nahe der Brücke, die sie Rialto nannten, an, Boote mit gewaltigen Mengen von Gemüse und Obst, die auf Karren hinübergefahren wurden zu den mit Sonnensegeln geschützten Ständen, wo ein Schwarm von herumhüpfenden Buben sie aufeinandertürmte, die Kohlköpfe im Kreis, in der Höhe zulaufend wie Kegel, die Kürbisse und Gurken zu Pyramiden, dazwischen Lianen von Knoblauch und dichte Girlanden von Zwiebeln.

Die älteren Frauen hatten damit begonnen, verdorbene Ware auszusortieren, manche zupften einige Blätter von den Artischocken oder vom Kohl und schmissen sie auf einen großen, stinkenden Berg nahe dem Brunnen, neben dem schon einige Männer schliefen, auf dem Bauch, ineinandergerollt, die Hände wie zum Schutz um die angezogenen Knie geschlungen.

Die Garküchen öffneten jetzt, das Geschrei wurde lauter, er sah eine junge Frau Aalstücke auf einem kleinen Rost wenden, sie machte es falsch, die Stücke waren schon längst verdorben, schon wollte er hineilen, als er sich gerade noch besann. Stellte er sie zur Rede, würde man wieder aufmerksam werden auf ihn, das wollte er nicht, er wollte allein bleiben, ohne beobachtet oder verfolgt zu werden.

Jetzt sprangen die Gitter der Verkaufsläden auf, Glas aus Murano, Läden mit Stoffen und Wolle, und schon strömten die Scharen herbei, sich in dieses Rufen und Schreien stürzend, das sich immer wieder auftürmte wie eine Woge. Perückenmacher und Barbiere standen vor ihren Läden, auf den weiter herbeiströmenden Barken schaukelten gelb-weiß gestreifte Zelte, und blaue Masten schwankten vor den blasser werdenden Fassaden der Häuser, der Weinhandlungen und kleinen Spelunken, dicht am Ufer, wo es nach Minze roch, nach Pferdemist und sonnenverbrannten Melonen.

Man bot ihm Nüsse und Mandeln an, kandierte Zitronen, feinen Tabak, man hielt ihn am Ärmel und zog ihn unter eine Arkade, wo Berge von Plunder lagen, zerschlissene Kissen und dünne, billige Tücher, neben Holzstangen, an denen Filzhüte hingen. Eine Frau lauste ihr Kind, drei Blinde spielten auf Flöten, Arzneien aus Seepferdchenessenzen wurden angeboten, ein Astrologe saß hinter einem Tisch und mischte die Karten.

Er verstand ihr Rufen, jedes Wort, es klang ihm wie Metall in den Ohren, und er verstand vieles doch nicht, Worte, die ganz fremdländisch klangen, Worte aus Turbanköpfen, Silben, die zwischen Federbüschen oder hinter kleinen Fächern aufzischten … – er horchte, stand still, versuchte, diese Klänge zu ordnen, doch schon wurde er weitergeschoben, hinüber zum Fischmarkt, wo sie den Boden spritzten und die Fracht längst drapiert war auf grünen Blättern.

Hier aber war die Versuchung zu groß. Er sog den öligsalzigen Geruch tief in sich ein, schon dieser Geruch wässerte ihm ja den Mund, seine Zunge begann jetzt zu zucken, und ein ungeheurer Hunger meldete sich in seinem Magen. Von allem hätte er jetzt gern gekostet, von den Krabben und Seespinnen, den Tintenfischen, er kannte die ganze Brut sehr genau, er wusste, wie man sie zubereitete, doch er ließ den Fischmarkt rechts liegen und lief weiter, das Geschrei hinter sich lassend, im Sonnenrauschen des Morgens.

Jetzt schwebte die Stadt auf dem Wasser, das Morgengeläut der Kirchen ließ ihre Häuser herauswachsen aus der Flut, und langsam begannen sich nun auch die Steine zu bewegen, es drehte sich in ihm, es drehte sich um ihn herum, dass er begann, schwindlig zu werden.

Er wollte zurück, vorerst war es genug. Er suchte einen Kanal und setzte sich einen Moment an das Wasser. Die Augen schließen, die Bilder verlangsamen, warten, bis einzelne Bilder sich festsetzen, ausatmen. Im Grunde musste es leicht sein zurückzufinden. Er durfte nur nicht den Gehwegen folgen, er musste die Wasserwege nehmen, die Kanäle. Von den kleineren gelangte man in die größeren, und schließlich würde er auf den großen stoßen, den ›großen Canal‹, wie sie ihn nannten.

Er entkleidete sich, schnürte die Kleider zu einem Bündel, warf es ins Wasser und sprang hinterher. Dann schwamm er und tauchte unter, das Bündel mit der rechten Hand vor sich herschiebend. Es schlingerte den Kanal entlang, wie ein Haufen Unrat, den man weggeworfen hatte.

Eine halbe Stunde später trieb es an Land, in der Empfangshalle eines Palazzo, in der Carlo Tücher holen ließ, um den Schwimmer abzutrocknen und zu verhüllen.