Venedig mit Kindern

Jahrzehnte nach meinem ersten Venedig-Aufenthalt war ich mit meinen Kindern Lo und Lu in der Stadt unterwegs. Wie würden sie auf die besonderen Stadtstrukturen reagieren? War es überhaupt möglich, sich mit kleinen Kindern durch Venedig zu bewegen? Und würden ihnen diese unbekannten Wegverläufe auch wirklich gefallen?

All diese Fragen gingen mir durch den Kopf, als wir auf dem Flughafen landeten. Und dann ging es los, das große Frage-und-Antwort-Spiel …

Wie schön, sagt Lo, meine kleine Tochter, als wir das Flughafengebäude von Venedig verlassen, wie schön das hier ist! Lauter Boote und Wasser und die vielen Möwen …

Und wo ist Venedig, fragt Lu, mein kleiner Sohn, ist das hier schon Venedig?

Nein, sage ich, Venedig liegt da drüben, in der Ferne, vielleicht könnt ihr zumindest einen Kirchturm erkennen.

Können wir nicht, sagt Lu, wir können gar nichts erkennen, am besten, wir fahren schnell hin.

Und wie fahren wir hin, fragt Lo und schaut sich die Boote und Schiffe genauer an, die Schiffe sind alle sehr voll, die nehmen wir nicht. Am besten wir nehmen ein Ruderboot oder ein Schnellboot, die sind schön leer, so dass wir gut Platz haben.

Mit einem Ruderboot brauchen wir einen ganzen Tag, sage ich, das dauert einfach zu lang, und die Schnellboote sind sehr teure Wassertaxis, die viel Krach und Lärm machen und hohe Wellen.

Ich mag hohe Wellen, sagt Lu, wenigstens einmal sollten wir mit hohen Wellen fahren.

Und dann greift er nach seinem Koffer und zieht ihn hinüber zu einem Wassertaxi, dem ein freundlicher, junger Venezianer entsteigt.

Moment mal, sage ich und laufe Lu mit all dem anderen Gepäck hinterher, Moment mal, nicht so schnell, aber da hat der freundliche, junge Venezianer schon die ersten Gepäckstücke genommen und sie in seinem Wassertaxi verstaut. Ich frage nach dem Preis für die Fahrt, und als ich den hohen Betrag höre, schüttle ich nur mit dem Kopf und mache mich daran, die Gepäckstücke wieder auszuladen, da aber geht der freundliche, junge Venezianer mit dem Preis etwas herunter, und ich schüttle noch einmal den Kopf, und er geht noch einmal etwas herunter, und dann fahren wir endlich los.

Venedig ist eine Stadt für Kinder, sagt der Mann an der Hotel-Rezeption, und dann holt er einen Kinderstadtplan heraus, auf dem alles farbig und heiter ist und lauter Spielplätze für Kinder eingezeichnet sind. Lo und Lu aber wollen nicht zu Spielplätzen, sondern immerzu Schiff fahren. Also kaufen wir eine Familien-Tageskarte, die uns erlaubt, ununterbrochen unterwegs zu sein und die Linien nach Belieben zu wechseln.

Wohin wollen wir denn fahren, frage ich und klappe den bunten Kinderstadtplan auf.

Nirgendwohin, sagt Lu, wir fahren einfach mal los, rundherum, dahin, wo es schön ist.

Gut, sage ich, fahren wir einfach mal los, und dann stehen wir auf der schwankenden Haltestelle, und das erste Schiff legt an, voll beladen mit Menschen.

Damit fahren wir nicht, sagt Lo, wir fahren nur mit einem Schiff, auf dem wir sitzen können, und zwar ganz vorne.

Bis so ein Schiff vorbeikommt, können Stunden vergehen, sage ich.

Macht doch nichts, sagt Lo, dann spielen wir eben so lang, bis das passende Schiff kommt.

Ich sage nichts mehr, und so warten wir, bis das nächste Schiff kommt, und ich atme erleichtert auf, als ich sehe, dass es ein beinahe leeres Schiff ist, mit freien Plätzen ganz vorne.

So fahren wir los, und Lu sagt: Wir hüpfen jetzt einfach von einem leeren Schiff auf ein anderes, immer, wenn wir ein leeres Schiff sehen, steigen wir um.

Ich sage wieder nichts, und so fahren wir eine Weile, und dann entdecken wir wahrhaftig ein anderes, fast leeres Schiff auf die nächste Haltestelle zulaufen, und so steigen wir um und fahren die Strecke einfach ein kleines Stück wieder zurück, um erneut umzusteigen.

Lo und Lu sind von diesem Fahren begeistert, sie nennen es »Bootsspringen«. Lo schreibt die Nummern der uns entgegenkommenden Schiffe auf, und Lu zählt die Menschen, die sich auf den Booten befinden, während ich Zeit habe, mir die Häuser und Wasserstraßen anzuschauen.

Nach einigen Stunden Bootsspringen sagt Lu: Noch schöner als die Schiffe sind die Gondeln, die Gondeln sind einfach am schönsten.

Stimmt, sage ich schnell, die Gondeln sind sehr schön, aber das Fahren ist furchtbar teuer.

Das hast du bei den Wassertaxis auch gesagt, sagt Lo, und dann sind wir doch Wassertaxi gefahren.

Fragen wir einfach mal, wie teuer die Gondeln sind, sagt Lu, und dann läuft er zu einer Gondel, der ein freundlicher, junger Venezianer entsteigt, der Lu gleich hilfsbereit packt und in die Gondel hebt.

Moment mal, sage ich, und dann sagt der freundliche, junge Gondoliere: Venedig ist eine Stadt für die Kinder, sie lieben die Gondeln und das Wasser, und das Spiel mit dem Kopfschütteln beginnt und dauert so lange, bis wir losfahren, durch die kleinen, schönen Kanäle, durch die die großen Schiffe nicht fahren können.

Gondelfahren ist wunderschön, sagt Lo, die Gondel tanzt auf dem Wasser, und ich denke, sie hat vollkommen recht, die schönste venezianische Fortbewegungsart ist die mit der Gondel, da gibt es gar nichts, auch wenn noch so viele Japaner in Gondeln sitzen und andere Japaner in Gondeln fotografieren.

Am zweiten Venedig-Tag fragt Lu gleich am Morgen: Kann man in Venedig nur auf dem Wasser fahren?

Ja, sage ich, Venedig ist eine Wasserstadt, ohne Straßen und hässliche Autos, dafür mit schönen großen Plätzen, auf denen Kinder nach Herzenslust spielen können.

Dann gibt es nirgendwo etwas Land? fragt Lu nach, wirklich nirgendwo?

Doch, sage ich, der Lido ist ein schmaler Streifen Land, direkt am Meer.

Fahren wir auch mal auf den Lido? fragt Lu weiter, und als auch Lo darauf drängt, direkt ans Meer zu fahren, fahren wir zusammen hinüber zum Lido.

Wenn man die Schiffshaltestelle auf dem Lido verlässt, steht man vor einem Fahrradverleih.

Mensch, sagt Lu, hier gibt es ja richtige Fahrräder. Ich würde so gern mal Fahrrad fahren, mir ist von all dem Schifffahren schon ganz schwindlig.

Man kann hier Fahrrad fahren, sage ich, aber nur ein ganz kleines Stück, das lohnt sich nicht, und außerdem ist es auch ziemlich teuer.

Das hast du bei den Wassertaxis und den Gondeln auch gesagt, sagt Lo, und diesmal ist sie es, die zu dem jungen, freundlichen Venezianer läuft, der einen Fahrradverleih betreibt.

Der junge Fahrradverleiher erklärt mir, dass man keineswegs nur ein ganz kleines Stück Fahrrad fahren kann, sondern Stunden, ja Tage, man muss einfach nur eine gute Karte dabeihaben und dann von einem Küstenstreifen zum andern übersetzen, mit den entsprechenden Fähren, einen Fahrplan für die Fähren hat er natürlich auch.

Und Sie meinen, wir kommen so wirklich voran? frage ich. Es ist die schönste Fahrt, die Sie sich denken können, sagt der junge Fahrradverleiher, und dann gebe ich all meine Widerstände endlich auf, und wir leihen uns drei Fahrräder aus und fahren einfach mal los.

Die Fahrradfahrt auf dem Lido stundenlang immer am Meer entlang ist die schönste Fahrradfahrt, die man sich denken kann, denke ich, als ich hinter Lo und Lu herfahre. Und dann setzen wir über, von einem Küstenstreifen zum andern, baden an leeren Stränden und bauen uns aus allerhand Strandgerümpel, das das große Meer irgendwann ausgespuckt hat, Robinsons Strandhaus. Venedig liegt irgendwo in der Ferne, nicht einmal ein Kirchturm ist noch zu erkennen, aber auch das ist mir egal, denn ich wundere mich längst nicht mehr, dass Lo und Lu immer genau ahnen, wie man sich am besten durch Venedig und um Venedig herum bewegt.

Venedig ist eine Stadt für Kinder, flüstere ich, und dann strecke ich mich im Sand aus und denke diesen Satz etwas weiter: Kinder nehmen eben eine instinktive Verbindung zu ihrer Umgebung auf, ganz natürlich, so, wie ein Vogel oder ein Fisch es vielleicht tun würde. In Venedig ist es am besten, den Kindern zu folgen, denke ich abschließend, und als ich hinauf in den Himmel schaue und die Möwen dort kreisen sehe, ahne ich, dass wir bald über die Lagune fliegen werden, nicht zu hoch, nicht zu tief, gerade so, wie es die Möwen uns vormachen …