In den siebziger Jahren war ich während meiner pianistischen Ausbildung manchmal nachts (vor allem in den Kellern von Trastevere) aufgetreten. Ich hatte eine halbe Stunde Klavier (Stücke von Prokofjew, Skrjabin oder Rachmaninow) gespielt und die aus allen Erdteilen herbeigeströmten, meist jugendlichen Gäste mit virtuosen Nummern unterhalten.
Diese Abende und Nächte waren Séancen mit nicht geplantem, spontanem Spielen von Stücken, die ich gerade übte und die mir besonders gefielen. Andere Gäste sangen, spielten Saxophon oder Gitarre, und hinterher unterhielt man sich lange, trank etwas und verließ den (meist originell geschmückten) weiträumigen Keller erst im Morgengrauen.
Zwanzig Jahre später war ich manchmal unglücklich darüber, an solchen Nächten nicht mehr aktiv teilnehmen zu können. Ich hatte die pianistische Ausbildung nach mehreren Sehnenscheidenentzündungen in den siebziger Jahren aufgeben müssen. Zwar spielte ich noch weiter privat, traute mich aber nicht mehr, öffentlich aufzutreten. So wurde ich zu einem Besucher der Séancen in Trastevere – bis ich in nächtliche Mysterienfeiern anderer Art eingeweiht wurde.
Wieder waren es typisch römische Szenen, als hätte Federico Fellini sie erdacht. Diesmal aber ging es nicht um Musik, sondern um Lyrik. Leider hatte ich noch nie ein Gedicht geschrieben – doch ich wagte nach einigem Zögern einen Auftritt.
Er hat, wie ich später erfahre, am Nachmittag einen längeren Vortrag gehalten. Um sich zu entspannen, ist er danach eine Weile durch die Straßen flaniert, auf den Gehstock mit dem kräftigen, silbernen Knauf gestützt. Zu einem Glas Wein hat er sich in die hinteren Räume einer Weinhandlung begeben, wo er in seinen Zeitungen blättert, eine längst erloschene Antico Toscano im Mund.
Dort begegne ich ihm kurz darauf. Er hat die Lust am Lesen verloren und am Nebentisch den jungen Mann zur Kenntnis genommen, der sich in deutsche Schriften vertieft. Er will wissen, was der junge Mann liest, gestatten, und so wechselt er den Tisch, bestellt für beide eine Karaffe Wein und setzt das Gespräch, wenn es erlaubt ist, deutsch fort. Deutsch spricht er seit zwanzig Jahren, er hatte einmal eine hohe Stelle dort oben inne, zwei große Büros, eines in Frankfurt, eines in Rom, er war so etwas wie der oberste Koordinator der italienischen Gastronomie in Deutschland, diese Aufgabe hat er jetzt einem Nachfolger übertragen, während er selbst die Verbindungen pflegt, rein repräsentativ, Deutschland-Italien, Sie verstehen.
Seine heimliche Passion aber ist die Literatur, vor allem die deutsche, und da er den jungen Mann beim Lesen ertappte, möchte er ihn verwickeln in ein Gespräch über sein Laster, dem er, wie er sagt, die meisten nächtlichen Stunden schenkt. Ja, er leidet unter Schlafstörungen, ein halbes Leben lang schon, inzwischen hat er sich daran gewöhnt, und außerdem verdankt er den Schlafstörungen seine Deutschkenntnisse, die, wie der junge Mann bemerkt, außerordentlich sind, denn er spricht ein beinahe romanisches Deutsch, eine Art Buddenbrooks-Deutsch, distanziert und gewählt.
Als er bei der zweiten Karaffe erfährt, dass der junge Mann ein Schriftsteller ist, zeigt er sich so begeistert, als sei er einer Fußballgröße begegnet; dass der junge Mann zweitens Stipendiat der Deutschen Akademie, Villa Massimo, ist, lässt ihn vermuten, es handle sich um einen der möglichen Nachfolger Thomas Manns; und da der junge Mann drittens sich als Romancier ausgibt, scheint endgültig festzustehen, dass dieser Abend ein lichtes Ereignis darstellt, einen jener Höhepunkte von Begegnungen, die eben nur der Zufall so sicher gestaltet.
Nach der zweiten Karaffe wird telefoniert, denn hier, an dieser gewiss guten, aber einfachen Stätte, lässt sich das Ereignis nicht feiern, und so lädt er den jungen Mann in die Via Margutta ein, in eines jener römischen Prachtlokale der allerobersten Kategorie, die der junge Mann zuvor noch nie betreten hat. Die Via Margutta ist eine Legende, sie ist das nostalgische Relikt römischer Künstlerkolonien, ihr ermüdetes, aber luxuriöses Zitat, voller Galerien, Hinterhöfe und prunkvoller Antiquitätengeschäfte.
Dort wird gespeist, viereinhalb Stunden, und der Vereinbarung zufolge, die zu Beginn der Mahlzeit getroffen wird, kostet der junge Mann auf diesem langen Weg ins animalische Schlemmen vor allem jene Speisen, deren Genuss ihm aus unerfindlichen Gründen bisher weitgehend versagt war.
Auch die aufgebotenen Weine sind von einer Qualität, dass der junge Mann laufend auf das hymnische Vokabular zurückgreift, mit einer Entschuldigung, wenn er den lyrischen Ton manchmal um Nuancen verfehlt. Zur Einzigartigkeit dieser raren Momente trägt ferner bei, dass die Unterhaltung gegenüber der raffinierten Feinheit der Speisen nicht abfällt, im Gegenteil, sie macht diese hybriden Steigerungen, die von erlesenen Artischockenfüllungen über Trüffelexzesse bis zu dämonischen Innereien in exquisiten Barolo-Saucen führen, leicht mit.
Am Ende hat es den Anschein, als sei der junge Mann aufgenommen in einen Orden, der sich in den römischen Nächten an geheim gehaltenen Plätzen einfindet, um den kulinarischen mit dem rhetorischen Genuss zu verbinden, Musik höchstens am Rande. Jedenfalls notiert der Gastgeber nach Beendigung aller Rituale, gegen 3 Uhr nachts, Name, Adresse und Telefon, sehr exakt, und gibt zu verstehen, dass für das weitere Leben des jungen Mannes in Rom von nun an gesorgt sei.
Fünf Tage später erhalte ich eine telefonische Einladung. Ich werde gebeten, mich des Nachts, nach 22 Uhr, in einem Haus nahe der Spanischen Treppe einzufinden, wo sich ein nicht weiter bezeichneter Kreis kulturell inspirierter Menschen der schönen Geselligkeit hinzugeben scheint.
An der Tür der panoramatischen Wohnung, einer geschickten Symbiose aus Zimmern, kleinen Treppen und offenen Terrassen, von denen aus man dem römischen Luxus ringsum mitten ins Herz zu schauen glaubt, empfängt mich ein junger Mann, der über einem weißen, an den Oberarmen dramatisch aufgebauschten Hemd eine rote Samtweste trägt. Seine kurze Begrüßung ist derart mit Zitaten gespickt, dass ich sofort die Hoffnung fahren lasse, ihm etwas in derselben Manier zurückgurren zu können. Um mich nicht vollends in Verlegenheit zu bringen, antworte ich auf Deutsch, wobei ich hoffe, dass die fremde Sprache ihn zwingt, seinem ausufernden Worttalent Zügel anzulegen. Ich habe mich jedoch getäuscht, denn ohne sich lange zu besinnen, antwortet er ebenfalls deutsch, ohne Akzent, sicher und allerdings knapp, als sei diese Sprache, verbrockt, ein einziges Dickicht, es nicht wert, ausführlicher bedient zu werden.
Von nun an bin ich allein, wenn ich mich auch in einer von Stunde zu Stunde anwachsenden Gesellschaft bewege. Ich werde immer wieder gegrüßt, freundlich, ja enthusiastisch, doch mit einem Abstand, der mich glauben lässt, man halte mich für einen fremdländischen Magier, dessen Kreise man besser nicht stört. Das Personal, ausschließlich junge Männer in weißen Hemden mit roten Samtwesten, bedient mich mit einer Zuvorkommenheit, als hätte ich weiß Gott welche Meriten.
Manchmal versuche ich einen Scherz zu machen, um hier und da ins Gespräch einzusteigen, doch meist begrenzt man den Dialog auf ein elegantes Anstoßen, dem eine knappe Eloge auf die schöne Nacht folgt. Zweimal höre ich aus diesem Hymnus ein Baudelaire-Zitat heraus, einmal glaube ich, an ein Gedicht von Montale erinnert zu werden, doch ich bin sicher, in diesem brodelnden Stimmengewirr nicht einmal einen kleinen Teil der vermischten Andeutungen verstanden zu haben.
Und so gebe ich dieses Gesellschaftsturnier insgeheim auf, ich nehme eine der kleinen Treppen zur weitläufigen Dachterrasse, lasse mir kurz nach Mitternacht einen Teller mit Lasagne servieren und genieße die Umgebung: vor meinen Augen flimmern die gestutzten Zeigefinger von Trinità dei Monti, zur Linken überhängt der gewichtige Bau der Villa Medici das Efeumeer einer Brüstung und, noch weiter entfernt, lodert der Aufstieg zum Pincio, auf dessen Höhe jetzt die Motorräder kreisen, um das drohende, endgültige Dunkel der Nacht noch eine Zeit in den Wäldern zu halten.
Das alles ist schön, ganz gewiss, ich habe keine weiteren Wünsche, ich nehme mir vor, noch eine halbe Stunde zu bleiben, um dann, ohne aufzufallen, das Weite zu suchen, als sich einer der sprachbegabten Knaben mir zuneigt, um mich, leise flüsternd, als ginge es um obszöne Themen, zu fragen, ob ich gleich vortragen wolle.
Ich lasse mir Zeit, ich schaue hinüber zu den lockenden Architekturen, und ich versuche, den Eindruck zu erwecken, als träfe diese Frage eine heiße Erwartung. Dann aber bitte ich, mich für diesen Abend zu entschuldigen, leider, gewiss, doch heute, gerade heute, fühlte ich mich nicht in der Lage, längere Stellen zu rezitieren.
Er erwidert meinen Blick mit einem Nicken, als komme dergleichen immer mal vor, dann verschwindet er eilig, vielleicht auf der Suche nach weiteren Opfern.
Wenig später höre ich so etwas wie einen Schrei oder, genauer, einen sich in der Höhe recht lange und markant aufhaltenden Ton, der einen geradezu zwingt, die Dachterrasse zu verlassen, um sich in die unteren Räumlichkeiten zu begeben, wo drei Herren mittleren Alters, stehend, den Nebenmann streng ignorierend, nacheinander ihre Gedichte vortragen, jeweils eins, der Reihe nach, so dass man die drei Temperamente in rascher Folge zu hören bekommt.
Es handelt sich um italienische, französische und portugiesische Gedichte, doch diese Zuordnung ist die einzige, die mir gelingt, denn alles andere hört sich an, als hätte ein einziger Autor all diese Verse verfasst. Der sich immer mehr verfestigende Eindruck ist nämlich der eines lyrischen Schlachtens, eines massakrierenden Ausweidens, Ekstasen in der Art jener barocken Orgien, wie sie Geheimbünden gut angestanden hätten.
Dabei gebärden sich die drei lyrischen Talente alle in derselben Manier: grollend, die Worte auf dem Hackbrett der Zunge zerreibend, sinnlich, als zwänge sie irgendeine Hypnose, nur noch Ameisenleber zu essen, und aufbegehrend, als gelte es, den Parnass in einer Art Reitersturm so zu nehmen, dass kein Apoll mehr neben dem anderen bleibt.
Das alles ist komisch, sehr komisch, und doch scheine ich der Einzige zu sein, der das Lachen unterdrückt, neben mir jedenfalls gehen die Herrschaften begeistert mit, zischeln sich etwas zu, schnalzen nach einem Gedicht überlegen, ja, beinahe hysterisch und folgen dem Orkan der metrischen Abenteuer wie ein munter gestimmter Chor, der manchmal die Melodien der Vorsänger begleitet und sich hin und her wiegen lässt.
Nach einer halben Stunde sind die Explosionen vorbei, erst jetzt schmettert der Applaus alle Einwände sofort in den Orkus, denn es handelt sich um einen, was die Lautstärke betrifft, durchaus sportiven Applaus, einen, der sogar die Motorräder auf dem Pincio zum Schweigen bringen könnte.
Eine solche Darbietung verlässt man nicht, ohne dezent seinen Respekt zu beweisen. Meine Erkundigungen ergeben, dass es sich um drei Seminaristen handelt, um Priester des Herrn, denen die heilige Kirche versagt hat, ihre lyrischen Sensationen der Öffentlichkeit preiszugeben. Daher lesen diese unterdrückten Talente nur hier, man nennt ihre Namen nicht, man verschweigt ihre Herkunft, man lauscht nur diesen sich wie Fontänen in den Himmel aufrichtenden Klängen.
Noch dreimal folgt der junge Mann solchen Einladungen, und immer verlaufen die Zeremonien in derselben Weise. Die Lesungen, hat er inzwischen verstanden, sind ausschließlich lyrische Darbietungen, um so leichter hat er es, sich immer wieder zu entschuldigen, mit dem Hinweis darauf, dass er ein Epiker sei. Von Mal zu Mal wird er nun mehr ins Gespräch gezogen, und endlich gesteht man ihm, welche Freude er allen Beteiligten machen würde, mit deutschen Versen aufzuwarten. Deutsche Verse nämlich wären mit der Zeit so etwas geworden wie eine Rarität, die Gesellschaft hätte sie angeblich schon seit Monaten vermisst, jetzt aber, vor der Sommerpause, wünschte sich alle Welt nichts sehnlicher, als mit ein paar deutschen Versen die letzte, große Soirée zu beenden.
Der junge Mann hatte schon verstanden, doch hatten ihn diese Wünsche in eine der ärgsten Verlegenheiten seines dichterischen Daseins versetzt. Um es ganz offen zu sagen, so hatte er sich noch nie darangemacht, ein paar Verse zu schreiben. Alles, was er je geschrieben hatte, war Prosa gewesen, selbst in Jahrzehnten hatte er diesen spröde nur scheinenden Rhythmen die Treue gehalten.
Aber er konnte nicht ablehnen, und so kleidete er sich zu der vierten Einladung in einen passenden schwarzen Anzug, lieh sich eine Weste aus, versah das Knopfloch des Anzugs mit einer immens duftenden, exotischen Blume und trat in einer ihm unvergesslich bleibenden Nacht in der Nähe der Piazza Navona mit Versen auf, die er auswendig gelernt hatte.
Sicher, es waren seine eigenen Verse gewesen, aber er hatte sie doch mit diversen Zutaten bestäubt, mit Reminiszenzen aus den Gedichten Góngoras und mit ähnlich entlegenen Duftnoten. Er, der bei Lesungen sonst die Ruhe selbst blieb, hörte sein Herz so laut schlagen, als pumpte es im Verbund mit den Versen heißes Perlmutt in die Ohren, er, der sich niemals hatte hinreißen lassen, den Vortragston stark zu verändern, schien immer mehr auszugleiten auf dem glatten Parkett seiner Rhythmen, und doch erlebte er in diesem Rasen, das ihm vorkam, als sei jemand wie der junge Kinski in ihn gefahren, eine ungeahnte Bestätigung. Es war, als habe er, seit Jahren nur kleiner Cembalist inmitten des großen Orchesters, sich endlich aufgeschwungen zum Posten des Domorganisten.
Ich habe die drei Gedichte, die ich an diesem Abend vorgetragen habe, nicht vergessen; ich habe sie aber niemals aufgeschrieben. Ich habe ihre flüchtigen, einmaligen Fassungen bewahrt, die ich verbergen werde für immer, als sei ich ein Seminarist, der nur einmal, in tiefer Nacht, habe finden dürfen zum Verbotenen, Dunklen.