Kapitel 7

D ie nächste Stunde war Dimensionslehre bei Professor Rupert Wilson. Am Ende des letzten Schuljahres war es das Lieblingsfach einiger Schüler geworden, daher freuten sie sich besonders auf den praktischen Teil in diesem Jahr. Es ging um reale Szenarien, die ihnen tatsächlich passieren könnten, wenn sie ihren Abschluss gemacht und ihr Leben unter Menschen begonnen hatten. Das betraf nicht die kleinen Notfälle, wie ein Marmeladenglas nicht öffnen zu können, sondern Notsituationen, in denen Magie trotz der Anwesenheit von Menschen notwendig war.

Professor Wilson hatte bereits Brillen auf den Tischen verteilt, als die Schüler ankamen, diese waren allerdings noch nicht aktiviert. Er war neugierig, wie sie sich schlagen würden. Im Jahr zuvor hatte er einige sehr talentierte Schüler kennengelernt. Nachdem er ihre Meinungen zu ein paar realen historischen Ereignissen gehört hatte, war er sehr daran interessiert, herauszufinden, wie sie in verschiedenen Situationen reagieren würden, in denen Magie nötig war. Es sollte den Schülern ermöglichen, ihre magischen Fähigkeiten zu verstehen und zu erkennen, wo sie sich verbessern müssten.

»Willkommen zurück. Es ist schön, so viele strahlende Gesichter in diesem Raum zu sehen. Einige von euch kenne ich noch nicht, aber das ist okay. Wir werden uns noch früh genug richtig kennenlernen.«

Er grinste, rieb seine Hände aneinander und schaute die Schüler an. Die Neuen hatten keine Ahnung, was auf sie zukommen würde.

»Für diejenigen unter euch, die es noch nicht wissen: In diesem Fach geht es um Dimensionen und hier lernt ihr, wie ihr euch in Notsituationen und in der Gegenwart von Menschen verhalten solltet. Letztes Jahr haben wir uns auf historische Ereignisse konzentriert, konnten aber nicht sehr viel besprechen, da unser Unterricht erst so spät im Jahr begann. Heute wird ein lustiger Tag werden. Sobald die Brillen aktiviert sind, geben sie euch ein Szenario aus der realen Welt vor, mit dem ihr irgendwann einmal konfrontiert werden könntet. Eure Aufgabe ist es, euch mithilfe von Magie aus dieser Situation zu befreien. Ihr habt mehrere Versuche.«

Mister Wilson ging zwischen den Tischen auf und ab und klopfte mit seinem Zauberstab auf jeden Schreibtisch, um die Brillen zu aktivieren.

»Wenn ihr euch die Brillen aufsetzt, solltet ihr daran denken, tief durchzuatmen und gelassen zu bleiben. Fragt euch: Welche Magie kann ich einsetzen? Was ist mit den Menschen um mich herum? Probiert Dinge aus, es ist nicht schlimm, wenn ihr falsch liegt. Fangt einfach von vorn an und versucht etwas anderes. Hier gibt es nicht nur richtig oder falsch. Dies ist lediglich eine Übung, die euch helfen soll zu verstehen, woran ihr arbeiten müsst und was auf euch zukommen könnte. Wir werden diese Übung noch öfter wiederholen. So, jetzt könnt ihr beginnen.«

Aufgeregt setzten die Schüler die Brillen auf und fanden sich sofort an verschiedenen Orten wieder. Ethan, Peter und Izzie hatten alle den gleichen Ort erwischt. Sie rasten in einem Auto eine kurvenreiche Bergstraße hinunter und die Bremsen funktionierten nicht. Alle drei lehnten sich in ihren Stühlen zurück, um sich zu stabilisieren.

Ethan packte das Lenkrad und hielt sich fest. Er zuckte bei jeder Kurve und konnte nicht nur sehen, was vor sich ging, er fühlte sich, als wäre er in der Szene gefangen. Als der Wagen um eine Kurve rutschte und auf eine Klippe zuraste, bekam Ethan Panik.

»Tief einatmen, Ethan«, flüsterte er sich zu. »Welchen Spruch solltest du benutzen?«

Der erste Spruch, den er versuchte, blockierte die Bremsen, was leider keine sehr kluge Idee war. Das Auto fiel den Hang hinunter.

»Fuck«, murmelte er, duckte sich und zog eine Grimasse, bis der Bildschirm dunkel wurde und die Szene von vorn begann. »Uff, das brauche ich nicht noch mal.«

Als Nächstes versuchte er, die Bremsen zu reparieren, während er gleichzeitig Magie einsetzte, um das Fahrzeug zu steuern. Zuerst schien es zu funktionieren, die Bremsen quietschten und magische Funken waren unter der Motorhaube zu sehen.

»Ha, Mechaniker-to-go … Ah! Shit.«

Als er aufschaute, sah er einen Sattelschlepper aus der Gegenrichtung genau auf ihn zukommen. Sein Auto bremste nur langsam. Er geriet in Panik und riss am Lenkrad, wodurch sowohl er als auch der Sattelschlepper in einem Feuerball in die Schlucht stürzten.

* * *

Peter hatte ein ähnliches Problem, obwohl er sein mechanisches Wissen nutzen konnte. Er tat es Ethan gleich und versuchte, die Bremsen zu reparieren, während er die Straße hinunterrollte, aber da er sich nicht konzentrieren konnte, explodierte auch sein Auto, als es gegen eine Felswand stieß.

Er riss die Brille ab, ließ sie auf den Tisch fallen und der Schweiß lief ihm die Stirn herunter. »Nope, das war gar nicht cool. Absolut bescheuert. Ich bin gerade zu Asche geworden.«

»Chill, Bro.« Ethan lachte. »Ich bin schon viermal gestorben. Irgendwann ist es wie ein Videospiel.«

* * *

Izzie atmete schwer. Sie war unfähig, ihre Gefühle zu kontrollieren. Schließlich stürzte auch sie ungebremst eine kurvenreiche Bergstraße hinunter. Sie kannte außer Ethan nicht eine Person, die in dieser Situation nicht nervös wäre.

Die Energie durchströmte sie. Bei ihrem ersten Versuch, das Auto zu reparieren, hatte sie null Kontrolle über ihre Energie. Ihre Magie brach aus ihr heraus, umhüllte das Auto mit Licht und schleuderte es direkt in die Schlucht. Sie kniff die Augen zusammen, als die Felsen immer näher an ihre Windschutzscheibe kamen und öffnete sie erst, als der Bildschirm schwarz wurde.

Nach mehreren Versuchen mit fast dem gleichen Ergebnis nahm sie die Brille ab. Frustriert schaute sie sich im Raum um. Sie konnte nicht verstehen, warum sie ihre Emotionen nicht unter Kontrolle halten konnte. In der Vergangenheit hatte sie sich dunklen Zauberern gestellt, aber nun kam sie nicht mal mit einem außer Kontrolle geratenen Auto klar?

* * *

Zwei Reihen weiter zog Emma ihre Brille zornig ab.

»Hast du auch das mit dem Flugzeug?«, fragte sie Jennifer frustriert.

»Ja. Ich habe gerade zweihundertdreiundfünfzig Leute in die Luft gejagt, weil ich versucht habe, das Flugzeug auf einer riesigen Hüpfburg zu landen.« Jennifer grinste.

»Cool. Ich habe gerade alle umgebracht, weil ich versucht habe, in einem Bottich mit Wackelpudding zu landen.«

»Welche Geschmacksrichtung?«

Emma lachte. »Waldmeister. Das ist meine Lieblingssorte, also dachte ich mir, warum nicht gleich nach dem Landen allen einen Snack anbieten? Leider ist der ganze Wackelpudding nur geschmolzen und die Überlebenden des Absturzes sind in einer klebrigen Masse am Hitzetod gestorben. Kerosin und Wackelpudding vertragen sich nicht gut.«

Jennifer zog eine Grimasse. »Merke ich mir.«

Sie setzten ihre Brillen wieder auf und versuchten es erneut. Emma entschied, dass sie versuchen sollte, das Flugzeug mithilfe von Magie horizontal zu halten, um dem Piloten eine bessere Chance auf eine sichere Landung geben zu können. Sie schuf ein Kraftfeld, das das Flugzeug stabilisierte und einen langsamen Sinkflug ermöglichte. Ihr Plan hätte funktioniert, wenn sie gewusst hätte, wie man das Flugzeug verlangsamen konnte, aber stattdessen setzte es auf und kippte um.

* * *

»Nein, nein, nein!«, schrie Kathleen auf.

Sie schaute sich um, sah den Drachen und rannte los. Seine riesigen Füße donnerten über den Boden und seine Krallen gruben große Krater. Sie keuchte und schnaufte, als sie auf einen großen Felsblock zu rannte und sich dahinter duckte. Dann zog sie ihren Zauberstab heraus und betrachtete den langen Stab mit großen Augen. Sie holte tief Luft und sprang den Zauberstab schwingend auf. Zwischen ihr und dem Drachen entstand ein Kraftfeld.

»Ja!«, schrie sie, als das Feuer des Drachens abprallte und sich in Rauch auflöste.

Der Drache schloss seine Schnauze und das Feuer in seinen Nüstern erlosch, woraufhin Kathleen das Feld auflöste. Erleichtert schlug sie mit der Hand auf den Felsen.

»Und so wird es gemacht!« Kathleen war stolz, hielt aber inne, als sie ein verdächtiges Geräusch hörte.

Aus der Ferne war ein leises Wimmern zu hören und als sie sich umdrehte, sah sie, dass die abprallenden Flammen eine Stadt in Brand gesetzt hatten. Kathleen stand einen Moment lang einfach nur da und wog ihre Möglichkeiten ab. Entweder versuchte sie das Dorf vor dem Feuer zu retten oder sie rettete sich selbst.

»Na toll, natürlich bekomme ich das Szenario, indem ich selbstlos sein soll.«

Sie rollte mit den Augen und wedelte mit ihrem Zauberstab, um einen Wasserstrahl über der Stadt zu erzeugen. Als das erledigt war, schloss sie die Augen und spürte, wie die Hitze sie umhüllte und sich die Brille verdunkelte. Sie nahm sie kurz ab und blickte zu Aya, die sie mit einer hochgezogenen Augenbraue ansah. Anscheinend hatte sie die gleiche Situation erwischt und musste an das gleiche denken wie sie: Dorvu.

»Jup.« Kathleen nickte und widmete sich erneut der Brille.

* * *

Aya setzte ihre Brille auf und fand sich vor dem großen Drachen wieder. Doch anstatt zu rennen, wirbelte sie diesmal die Magie um ihren Körper auf, um sich selbst und den Drachen in einem einzigen, großen Kraftfeld einzufangen. Der Drache wehrte sich zunächst, aber sie nutzte beruhigende Magie und brachte ihn zur Ruhe. Langsam schritt Aya auf den Drachen zu, die Energie wirbelte immer noch um sie herum, als sie ihre Hand auf den Kopf des Drachen legte. Er wimmerte leicht, bewegte sich aber nicht, verzaubert von der Magie.

»Ruhig, Kleiner«, flüsterte Aya. »Ich bin nicht hier, um dir wehzutun. Ich bin hier, um dir zu helfen.«

Ayas Plan hätte funktionieren können, wenn sie die Energie nicht zu früh losgelassen hätte. Sofort verloren die Augen des Drachens ihren Glanz und er fraß Aya mit einem Bissen auf. Das war definitiv nicht so, wie sie sich die Situation vorgestellt hatte. Aya nahm die Brille ab und seufzte, dann schaute sie über ihre Schulter zu Alison und fragte sich, in welcher Welt Alison sich befand.

* * *

Mit der Brille auf dem Gesicht sah sich Alison um und stellte überrascht fest, dass die Energie so stark war, dass sie Bilder erzeugte, die Alison sehen konnte. Es waren keine klaren Bilder wie bei den anderen, aber die Energie verschob sich und erzeugte wirbelnde Farben, die sich zu den von ihr benötigten Formen zusammensetzten.

Sie erkannte, dass sie auf einem hohen Gebäude stand und einen Moment lang war sie sich nicht sicher, worin ihre Aufgabe bestand. Plötzlich begann alles unter ihr und um sie herum zu wackeln. Das Gebäude begann sich zu neigen und in sich zusammenzubrechen. Sie sprang zurück, landete auf ihrem Bauch und rutschte auf ein riesiges Loch im Dach zu.

»Fuck!«

Sie atmete tief ein und schloss die Augen, als ihr klar wurde, dass sie ihre Magie genauso gut ohne die Energie aus dem Boden benutzen konnte wie mit ihr. Alison ließ die Energie durch ihren Körper und aus ihren Händen fließen, woraufhin sie über das Dach des Gebäudes und die Seiten hinunterströmte. Sie wirbelte um die Hauswände, schlängelte sich durch Risse und um fallende Bruchstücke, um das Konstrukt unter ihr zu stabilisieren. Sie spannte sich sogar über das Loch und schuf eine magische Barriere, sodass Alison nicht in das Gebäude fiel.

Mit einer Hand wirbelte sie über ihren Kopf, wodurch die Magie in ihr stärker pulsierte und sie anhob. Langsam schwebte sie an der Seite des Gebäudes herunter. In ihrem Sinkflug bemerkte sie, dass sich noch Menschen im Gebäude befanden.

»Oh verdammt, die kann ich nicht einfach dort lassen«, seufzte sie.

Alison drückte Energie aus ihrer Brust und ihr ganzer Körper zitterte, als die Lichtstränge durch das zerbrochene Glas schossen und sich um jede einzelne Person im Gebäude wickelten. Sie zog die Personen heraus und ließ sie langsam auf den Boden sinken. Es gab nichts, was sie tun konnte, um das Erdbeben zu stoppen, aber sie konnte sich und alle anderen aus dem Gebäude in Sicherheit bringen, sodass niemand verletzt wurde, als das Gebäude in sich zusammenstürzte.

Als das Gebäude eingestürzt war, wurde das Bild der Brille schwarz und sie zog sie ab. Wieder einmal hatte Alison geglänzt, aber sie wollte nicht, dass es jemand erfuhr. Sie faltete ihre Brillenbügel zusammen und hielt die Brille fest in der Hand, um sie vor ihren Mitschülern zu verstecken. Doch egal, wie sehr sie sich bemühte, einige Leute bemerkten, dass ihre Brille nicht mehr aktiviert war, was bedeutete, dass sie das Szenario, das einprogrammiert worden war, erfolgreich bestanden hatte.

»Hast du es geschafft?«, flüsterte Izzie.

»Ja. Vielleicht hatte ich ein Leichteres.«

»Oder du bist Wonder Woman!« Izzie lachte laut auf.

Alison war vielleicht nicht stolz auf sich selbst, doch Izzie war extrem stolz auf ihre Freundin. Diese Prüfungen waren nicht einfach und sie hatte es beim ersten Mal schon geschafft. Das bedeutete nicht, dass sie sich wie etwas Besseres fühlte. Was es bedeutete, war, dass sie in einer realen Situation allen den Arsch retten konnte. Izzie fummelte an ihrer Brille in ihren Händen herum, nicht bereit, es noch einmal zu versuchen. Sie wusste, dass Alison und sie zu den stärksten magischen Wesen der Schule gehörten, aber sie war noch nicht in der Lage, ihre eigene Magie zu kontrollieren.