Der Anruf war wie all die anderen. Ich wußte genau, was er wollte - Hypnose. Als ich noch mit den Kansas City Royals und den Pittsburgh Royals arbeitete, erhielt ich wöchentlich zwischen zehn und fünfzehn Anrufe von Sportlern; alle bedrängten mich, sie geistige Kontrolle zu lehren.
Seit mein Buch 2001 - ODYSSEE IM SPORT erschienen war, wurden derartige Anrufe immer häufiger und die Anrufer selbst immer fordernder. Es kam schließlich soweit, daß ich es haßte, den Telefonhörer abzuheben. Auch das Gespräch mit Mike begann in gewohnter Manier: „Judd, hier spricht Mike White. Ich habe gerade Dein Buch 2001 - ODYSSEE IM SPORT gelesen, und ich finde es großartig. Als ich die ersten Seiten gelesen hatte, konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen.“ Es ist wirklich nicht einfach, jemanden zurückzuweisen, der einem dermaßen schmeichelt. „Danke“, antwortete ich und versuchte, meiner Stimme einen freundlichen Klang zu verleihen. „Ich weiß Dein Lob zu schätzen.“
„Im Ernst, Judd: Es ist phantastisch. Ich wußte bisher noch nicht, wie wichtig geistige Kontrolle ist. Die Tatsache, daß Du nicht nur Dir selbst, sondern auch anderen beigebracht hast, Pulsfrequenz und Gehirnwellen zu steuern, ist unglaublich. Ehrlich gesagt, hätte ich nie gedacht, daß diese Art Konditionierung überhaupt möglich ist. Dein Buch hat mich von der Kraft des Geistes und der Anwendung mentaler Kontrolle im Sport überzeugt. Ich bin froh, daß Du dieses Wissen weitergegeben hast. Viele andere Sportler sehen das sicher genauso.“
Ich erkannte gleich, daß dieser Anrufer große Lungen haben mußte; er holte nicht einmal Luft, als all die Superlativen aus ihm heraussprudelten. „Eigentlich hat dieses Wissen schon immer existiert“, erklärte ich. „Das einzige, was ich mir zuschreiben kann, ist, daß ich diese Vorstellungen in einem Buch verarbeitet und auf den Sport übertragen habe.“ „Hast Du ein Buch anzubieten, in dem gezeigt wird, wie man das in 2001 beschriebene mentale Training erlernen kann?“ „Im Augenblick nicht, aber ich arbeite daran.“ Das war eigentlich meine Standardantwort. Ich hatte schon so viele ähnliche Anrufe erhalten, daß ich mich aus Gründen der Selbstverteidigung immer wieder darauf zurückzog. „Also Judd, ich habe mir überlegt... (Oh, nein, dachte ich, da haben wir es wieder) ... könntest Du nicht mit mir zusammenarbeiten? Geistige Kontrolle hat Dir so gut geholfen, daß mir der Gedanke kam, Du könntest mich auch hypnotisieren. Ich bin sicher, daß Du mir helfen kannst.“
Bingo! Da war es wieder, das Fazit von etwa 95% dieser Anrufe. Ich hätte jetzt eigentlich routinemäßig antworten müssen, daß ich wirklich gern mit ihm arbeiten würde, aber leider zu viele andere Verpflichtungen hätte. Die meisten Leute würden mir dann, ganz im Sinne der amerikanischen Ethik (Geld), die Bezahlung meiner Dienste anbieten, nicht selten sogar äußerst großzügig bemessen. Ich habe allerdings keine Schwierigkeiten damit: Geld allein hat mich noch nie besonders motiviert.
Der Faktor Zeit war für mich stets genauso wichtig. Wenn es darum geht, jemandem geistige Kontrolle zu lehren, bedeutet das automatisch, daß man eine Menge Zeit in diesen Prozeß investieren muß. Als College Professor, Geschäftsmann und Leistungssportler hatte ich keine Zeit zu verschenken oder zu verkaufen; erst recht nicht an einen Fremden. Ich war also kurz davor, Mike die höfliche, aber bestimmte Absage zu erteilen, die ich schon Hunderten vor ihm gegeben hatte, als er mich plötzlich unterbrach. „Judd, Du mußt mir einfach helfen. Ich bin College Student und spiele an meiner Hochschule noch ein Jahr Football. Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich es als Profi schaffen könnte, aber mit Deiner Hilfe gäbe es nicht den geringsten Zweifel daran. Ich bin 1,90 groß, wiege 140 Kilo und habe die nötige Kraft und
Schnelligkeit. Das einzige, was mir noch fehlt, ist die richtige Einstellung. Ich will nicht einfach nur Profi-Footballspieler werden; ich will der Beste sein, und ich weiB, daB Du mir dabei helfen kannst.“ Er flehte mich geradezu an.
„Mike, ich weiB Dein Vertrauen in mich wirklich zu schatzen, aber ich habe nun 'mal nicht die Zeit dafur. Ehrlich! Ich hoffe, Du verstehst mich.“ Er verstand nicht. Unser Gesprach dauerte ungefahr noch eine halbe Ewigkeit, und Mike wurde immer hartnackiger. Wie auch immer, ich beharrte auf meinem Standpunkt, bis Mike endlich aufgab. Ich muB zugeben, daB ich mich trotz des Lobes und der Komplimente nicht sonderlich gut fuhlte, als ich den Horer auflegte.
Es ist niemals einfach, „Nein“ zu sagen, besonders nicht, wenn jemand so offen und ehrlich war wie Mike. Trotzdem hatte ich keine andere Wahl. Wenn ich wieder mit einem Sportler arbeiten wurde, hatte ich keinen Augenblick Zeit mehr fur mich selbst. Darauf wollte ich mich auf keinen Fall einlassen. Mikes Anruf ging mir aber nicht so schnell aus dem Sinn. Zuruckblickend muB ich heute sagen, daB das Gesprach mit ihm (und naturlich alle ahnlichen Anrufe) letztlich den AnstoB gaben, dieses Buch zu schreiben. Es gab offensichtlich groBen Bedarf fur ein Buch, das Sportlern praktische Tips zur Erlangung geistiger Kontrolle vermittelte.
So wie sich die Dinge entwickelten, konnte ich dieses Buch ebenso gut schreiben wie jeder andere - wenn auch nur, um meine Privatsphare zu schutzen. Bereits eine Woche nach Mikes Anruf hatte ich ein Manuskript von sechzig Seiten zusammengestellt.
Eines Nachmittags arbeitete ich gerade wieder daran, als es an meiner Haustur lautete. Gutgelaunt offnete ich die Tur - und wollte zunachst meinen Augen nicht trauen. Vor mir stand das gewaltigste menschliche Wesen, das ich jemals gesehen hatte. In meinen Jahren als Powerlifter habe ich schon eine ganze Reihe von kraftigen Mannern getroffen, aber dieser Kerl war einfach uberwaltigend. Ich stand nur da und glotzte ihn an. „Hallo, ich bin Mike White. Ich dachte, ich komme besser 'mal vorbei, damit Du mir helfen kannst...“ „Oh, nein...“ „Klar, daB Du jetzt sauer bist, aber ich muBte einfach herkommen. Ich weiB, daB Du mir helfen kannst. Mein ganzes Leben lang habe ich immer nur eines gewollt: Ganz groB herauskommen. Da kann ich doch keine Gelegenheit auslassen, die mich diesem Ziel naher bringt, oder? Mach' Dir mal keine Sorgen, ich bin die Muhe wirklich wert. AuBerdem mochte ich Dich gar nicht bitten, direkt mit mir zu arbeiten. Alles was ich will, ist, daB Du mir sagst oder zeigst, wie ich es machen muB. Sag' einfach, ja und ich store Dich nicht weiter.“
Ich muB gestehen, daB ich zunachst mehr als nur „ein biBchen sauer“ war. Dieser Mensch hatte wirklich Nerven, bei mir zu Hause zu erscheinen, obwohl ich ihn vorher ausdrucklich hatte wissen lassen, daB ich nicht mit ihm arbeiten wurde. Ehrlich gesagt, war ich aber nicht sonderlich uberrascht. Wenn man schon langer als zehn Jahre mit Amateur und Profisportlern zusammengearbeitet hat, ist man diese Art von Besessenheit gewohnt. In der Tat legen die meisten Athleten ein Verhalten an den Tag, das man am besten als „Gib niemals auf‘-Einstellung bezeichnen konnte. Sie haben einen beispiellosen Drang zum Erfolg; jedes Hindernis auf diesem Weg wird einfach beiseite geraumt. Obwohl ich Mikes Motive gut verstand, war ich uber seinen ungewollten Besuch noch lange nicht erfreut. Andererseits: Was kann man einem 1,90 groBen und 140 Kilo schweren Kerl, der den ganzen Sauerstoff im Zimmer verbraucht, schon antworten? Ich sagte das, was wohl jeder vernunftige, 1,63 groBe und 60 Kilo schwere Mensch auch gesagt hatte: „Komm 'rein und wir unterhalten uns daruber, aber ich verspreche Dir nichts!“ Nach mehrstundiger Diskussion, bei der Mike
allerdings die meiste Zeit geredet hatte, gab ich schließlich nach. Wir beschlossen, am folgenden Tag mit der ersten Sitzung zu beginnen. Ich war wieder im „Hypnose-Geschäft“.