Am nächsten Morgen war Mike pünktlich zur Stelle. Er trug ein weites, blaues Sweatshirt, Jeans und Sandalen. Er wirkte noch gigantischer als am Tag zuvor. Sogar im Sweatshirt war er furchterregend. Jeder Zentimeter seines Körpers war mit stahlharten Muskeln bepackt. Ich schwöre, der Kerl sah aus, als könne er einen kompletten Appartementkomplex stemmen. Nach wenigen Minuten Smalltalk kam ich auf den Punkt: „Okay Mike, jetzt erzähl mir 'mal, was genau ich für Dich tun soll.“ „Ganz einfach“, antwortete er enthusiastisch. „Ich will, daß Du mich hypnotisierst und ganz groß rausbringst.“ „Ist das alles?“ Ich hatte es schon so oft gehört! „Nun, ich fürchte, das ist nicht so einfach. Falls doch, wäre ich vermutlich Quarterback bei den Pittsburgh Steelers oder Shortstop bei den Kansas City Royals.
Tatsache ist, daß Hypnose weder Zauberei ist, noch übernatürliche Kräfte verleiht. Eigentlich ist Hypnose nicht einmal eine Therapie, sondern nur ein Werkzeug. Verstehe mich bitte nicht falsch: Wenn Hypnose richtig angewandt wird, kann sie enorme Resultate hervorbringen. Tatsächlich macht Hypnose bei einigen Sportlern den Unterschied zwischen Mittelmaß und Weltklasse aus. Trotzdem muß ich Dich warnen: Derartige Erfolge durch Hypnose fordern einen hohen Preis. Geistige Kontrolle zu erlangen, ist alles andere als ein Kinderspiel. Es erfordert viel Zeit, einen starken Willen und ungeheure Energie. Wenn Du aber meinen Anweisungen folgst, wirst Du Fortschritte erzielen, wie Du sie Dir heute in Deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kannst.
Eines muß Du völlig klar sehen, Mike: Die wahre Last ruht auf Deinen eigenen Schultern. Ich werde Dir einen Zwei-Tageskurs in Selbsthypnose geben, der Dir einen Einblick in das Konzept vermittelt. Den Rest mußt Du Dir selbst erarbeiten, wobei Deine Erfolge mit Hypnose proportional zu Deinen Bemühungen verlaufen werden, das Erlernte praktisch anzuwenden.“ „Also Judd: Einfach ausgedrückt, bedeutet das, Du kannst mich groß rausbringen, wenn ich mich entsprechend bemühe.“ Mike sah mich fragend an. Ich schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Ja und nein. Groß ist ein relativer Begriff. Was „groß“ für mich bedeutet, muß nicht „groß“ für Dich sein, und umgekehrt. Hypnose kann Dir nicht zu Fähigkeiten verhelfen, die über Deine physischen und mentalen Anlagen hinausgehen. Sie kann Dich aber so nahe wie möglich an Deine physiologischen und psychologischen Grenzen heranführen. Wenn ein Athlet diese Grenzen erreicht hat, kann man meiner Meinung nach -zumindest aus relativer Sicht - sagen, daß er „groß“ ist.“
Dies schien Mike doch Kopfschmerzen zu bereiten. „Meinst Du damit, ich könnte mich mental und physisch extrem weiterentwickeln und dennoch nie ein Champion werden?“ „Leider ja“, erwiderte ich aufrichtig. „Im christlichen Sinne mögen alle Menschen vor Gott gleich sein, aber im physischen Sinn hat er uns nicht alle gleich geschaffen. Ich muß nur ein Profi-Football oder Basketballspiel sehen, um an diese Tatsache erinnert zu werden.
Wir sind alle bestimmten genetischen Limits unterworfen. Und leider sind die Grenzen einiger Menschen weiter gesteckt, als die anderer. Daraus ergibt sich, daß einige Sportler niemals Champions werden können, ganz gleich, wie hart sie trainieren und egal wie dicht sie sich ihren physiologischen und psychologischen Grenzen nähern.“ „Du willst mir also sagen, wenn ein Konkurrent die besseren genetischen Anlagen hat, werde ich ihn niemals schlagen?“ Mikes Gesichtsausdruck verriet mir, daß allein der Gedanke daran einen üblen Geschmack in seinem Mund hinterließ.
„In diesem Fall bist Du sicherlich im Nachteil, und bei gleichen übrigen Voraussetzungen wird er Dich zweifellos schlagen. Allerdings sind die „übrigen Voraussetzungen“ selten gleich. Heutzutage vertrauen die meisten Sportler allein auf ihre physische Stärke, nur wenige nehmen sich die Zeit, auch den Verstand zu trainieren; obwohl der Geist viel stärker ist als der Körper. Der Geist kontrolliert ja den Körper, und nicht umgekehrt. So werden Sportler mit überlegenen körperlichen Fähigkeiten, die ihren Geist vernachlässigen, oft von körperlich unterlegenen Konkurrenten geschlagen, die beides trainiert haben. Daraus läßt sich folgern, daß ohne Berücksichtigung der Qualität der Gene mentales Training auf jeden Fall immense Vorteile verspricht.“
Und so begann Mikes Crashkurs. Ich startete bei ihm wie gewohnt - mit den Grundlagen. Es erstaunt mich immer wieder, wie wenig die Leute über Verhaltenskontrolle und Hypnose wissen. Die Fragen sind stets die gleichen, egal ob Arzt, Anwalt, Sportler oder Stahlarbeiter: Sie alle haben keine Ahnung von den Grundlagen geistiger Kontrolle. Daher beginne ich immer ganz von vorn. Werden nämlich Mißverständnisse und Fehlinterpretationen nicht sofort korrigiert, wird man später im Training garantiert auf Probleme stoßen.
Am Anfang wollen die meisten Leute sichergehen, daß sich Zeitaufwand und Mühe, die sie dem Programm widmen müssen, auch auszahlen. Mike war da keine Ausnahme: „Judd, Du weißt, daß ich an das glaube, was Du machst. Andernfalls wäre ich wohl kaum den ganzen Weg hierher gekommen. Aber wird sich die Mühe auch lohnen? Ist das alles so wichtig?“ „Glaube mir, es ist bestimmt die Mühe wert. Wie ich schon sagte, Dein Geist ist ein mächtiges Instrument, viel stärker als Dein Körper. Du kannst Dir kaum vorstellen, wie großartig Du werden kannst, wenn Du erst gelernt hast, ungenutzte geistige Reserven freizusetzen. Ich kenne viele Athleten, die einen gewaltigen Karrieresprung ge macht haben, nachdem sie das Prinzip der geistigen Kontrolle entdeckt hatten.
Es ist erstaunlich, manchmal sogar beängstigend, wie Sportler in weniger als einem Jahr aus dem Nichts zur Weltspitze aufsteigen, allein durch die Anwendung geistiger Kontrolle. Ich weiß, daß Dir ein solcher Fortschritt unglaublich erscheinen muß, aber ich habe das schon mehr als einmal erlebt. Ich denke, der größte Fehler eines Athleten liegt darin, seine geistigen Kräfte zu unterschätzen.“ „Leider machen unzählige Sportler genau das“, fuhr ich fort. „Viele der Athleten, die ich kenne, trainieren drei bis vier Stunden täglich, sechsmal pro Woche.
Bei jedem Training fordern sie sich bis zur völligen Erschöpfung. Wenn sie gerade einmal nicht trainieren, reden sie über ihren Sport oder lesen Bücher darüber, wie sie ihre Form noch weiter verbessern können. Sie verbringen Stunden damit, ihren Biorhythmus zu berechnen, um psychologische Höhen und Tiefen voraussagen zu können. Sie rauchen und trinken nicht, verzichten selbst auf Sex, wenn sie das für notwendig halten, nur um physisch in Topform zu kommen. Es kommt aber so gut wie nie vor, daß während der dreißig bis vierzig Stunden pro Woche, in denen diese Athleten mit ihrem Sport beschäftigt sind, den psychologischen Aspekten auch nur eine Stunde gewidmet wird. Abgesehen von den Sportlern, mit denen ich gearbeitet habe, kenne ich nur eine Handvoll anderer Athleten, die die Methoden geistiger Kontrolle wirklich nutzen.“
Mike überdachte, was ich soeben gesagt hatte. „Nun, wenn geistige Kontrolle so wirksam ist, warum wird sie dann nicht von mehr Athleten eingesetzt?“ Ich erklärte ihm, daß es dafür eine ganze Reihe von Gründen gibt. Der Hauptgrund ist wahrscheinlich fehlendes Wissen über Psychologie. Ich glaube, die Ursache dafür liegt in einer Lücke beim konventionellen Training. Viele Trainer und Sportler haben weder Kurse in Psychologie besucht, noch haben sie auf anderem Wege Einblick in diese Wissenschaft erhalten. Folglich basiert das Wissen von Trainern und Athleten über Psychologie und Hypnose überwiegend auf persönlichen Erfahrungen und nichtwissenschaftlichen Quellen.
Die Massenmedien greifen überwiegend spektakuläre und sensationelle Randgebiete der Psychologie auf, zum Beispiel ASW (Außersinnliche Wahrnehmung) oder Hexerei. Die wenigen Beiträge, die in Sportzeitschriften erscheinen, bieten in den seltensten Fällen praktikable Lösungen für bestehende Probleme; meistens wecken solche Artikel nur unrealistische Erwartungen, die interessierte Sportler noch weiter entmutigen, wenn sie dann nicht erreicht werden.
Wissenschaftliche Zeitschriften und Bücher über Psychologie helfen da auch nicht viel weiter. Obwohl solche Quellen keine methodischen Mängel aufweisen, sind sie doch in einer Sprache verfaßt, die nur ein Akademiker verstehen kann. Ohne Vorbildung in Statistik und Psychologie ist es sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, diese Fachterminologie zu verstehen. Mike zog eine Grimasse: „Himmel, ich stelle eine Frage und kriege einen kompletten Vortrag als Antwort; aber trotzdem, nett, daß Du mich darüber aufklärst. Genau deshalb bin ich ja gekommen. Ich will endlich vollständige Antworten. Ich habe auch mit Sportlern gesprochen, die geistige Kontrolle schon einmal ausprobiert haben. Von denen hörte ich aber, daß sich ihre Form dadurch kaum verbessert hat. Vielleicht haben sie etwas falsch gemacht?“
„Das kann viele Gründe haben, Mike: Die Methoden, die Leute, die ihnen geholfen haben, vielleicht die Zeit, die sie dem mentalen Training gewidmet haben“, begann ich zu erläutern. „Ein Problem besteht darin, daß viele Sportler sofort Resultate sehen wollen. Sie hätten am liebsten einen Zaubertrank, der sie über Nacht zum Supermann macht. Ebenso wie unsere ganze Gesellschaft suchen auch Sportler nach Lösungen, die ihnen umgehende Erfüllung ihrer Wünsche versprechen. Deshalb sind jene Medikamente weit verbreitet, die Schmerzen lindern und die Motivation oder sogar die Körperkraft steigern. Unsere Gesellschaft ist auf sofortigen Genuß eingestellt: Fertiggerichte, blitzschnelle Telekommunikation, augenblicklich eingeräumte Kredite und sogar sofortige Zeitlupenwiederholungen. Wenn Du mir nicht glaubst, gehe einfach 'mal nachmittags zu McDonalds und beobachte die Leute in der Warteschlange. Wenn sie länger als eine Minute auf ihr Essen warten müssen, werden Sie schon nervös.“ Nachdem Mike mir durch Kopfnicken angedeutet hatte, daß er meinem Gedankengang folgte, fuhr ich fort. „Daher ist es mehr oder weniger normal, daß viele Sportler diese Einstellung teilen. Sie wollen innerhalb einer Woche ein Champion werden. Wenn das nicht klappt, kommen sie schnell an den Punkt, daß sie entweder aufgeben oder sich nach einer funktionierenden „Sofortlösung“ umsehen.
Was man verstehen und akzeptieren muß, ist folgendes: Viele Leute nehmen an, daß auch Hypnose und geistige Kontrolle sofortige Erfolge bringen - doch diese Einstellung ist falsch. Die meisten Athleten, die diese Techniken einsetzen, erwarten unrealistische Resultate. Werden ihre Erwartungen dann nicht erfüllt, geben sie sehr schnell auf und, schlimmer noch, sie erzählen anderen Sportlern, daß diese Methoden nutzlos seien. Glaube mir, das ist kompletter Blödsinn. Geistige Kontrolle hat phänomenale Auswirkungen auf Deine Leistungsfähigkeit, doch Du mußt daran arbeiten. Es wird nicht einfach sein, und Erfolge werden sich nicht über Nacht einstellen, aber wenn Du Dir Mühe gibst, wird es funktionieren. Alles im Leben hat seinen Preis - nichts ist umsonst. Grundsätzlich wird man umso besser, je härter man an etwas arbeitet. Bei der geistigen Kontrolle ist es nicht anders. Wenn Du daran arbeitest, kannst Du enorme mentale Fähigkeiten entwickeln, genauso wie Du durch korrektes Körpertraining sehr stark werden kannst. Viel Geduld und harte Arbeit sind zwingende Voraussetzungen für mentale Kontrolle.“ Mike holte tief Luft und atmete langsam aus. Er schwieg einen Moment lang, dann sagte er: „Ich glaube, ich kann die nötige Geduld aufbringen, aber denkst Du wirklich, daß ich mir mentale Kontrolle selbst beibringen kann?“
„Es ware besser, jemanden zur Seite zu haben, der Dir hilft, obwohl die richtige Person nicht immer leicht zu finden ist. Wenn Du keinen guten Psychologen kennst oder dessen Dienste Deine finanziellen Moglichkeiten ubersteigen, kannst Du es immer noch allein versuchen. Es wird zwar etwas mehr Aufwand erfordern, aber es ist sicher machbar. Ich habe mir auch das meiste dessen, was ich heute weiB, selbst beigebracht. Ich muB Dich aber gleich warnen, Mike: Wenn Du jetzt noch irgendwelche Vorbehalte hast, sollten wir unsere Zeit nicht verschwenden. Du muBt es nicht nur wollen, Du muBt auch daran glauben.“
„Das tue ich, Judd, ehrlich! Wenn Du denkst, daB ich es schaffen kann, bin ich bereit, mein Bestes zu geben. Womit fangen wir an?“ „Hypnose.“ Ein breites Grinsen erschien in Mikes Gesicht.