Kapitel 6 - Entspanne Dich!

Nachdem Mike jetzt die Konzepte der Gedankenspiele und die Induktionstechniken kennengelernt hatte, war er soweit, mehr uber TME oder totale Muskelentspannung zu erfahren.

Die Anwendung der totalen Muskelentspannung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur vollstandigen geistigen Kontrolle. Zwischen Entspannung und totaler Muskelentspannung besteht namlich ein Riesenunterschied. Viele Menschen meinen, totale Entspannung schon bei vielen Gelegenheiten erfahren zu haben. Ich wage aber zu behaupten, daB die Mehrheit dieser Leute niemals wirkliche TME erlebt haben. Der Unterschied besteht in den verschie-denen Niveaus. Entspannung kann durch eine Vielzahl unterschiedlicher Gefuhle ausgedruckt werden. TME dagegen ist ein Gefuhl volliger Leere; einzigartig in der Art und Weise, wie es empfunden wird. Niemand, der TME einmal wirklich genossen hat, wird dieses Gefuhl je wieder vergessen.

Hypnose kann die Entspannung unterstutzen, aber sie ist keine Garantie fur TME. Mit anderen Worten: TME ist nicht abhangig von Hypnose; im Gegensatz zur Hypnose, die vom Grad der Entspannung abhangt. Aus diesem Grund lehre ich meine Schutzlinge stets beides; sowohl, wie man einen tiefen Entspannungszustand erreicht, als auch, wie man in Trance fallt.

Obwohl TME das Erlernen der Selbsthypnose unterstutzt, wende ich diese Technik vor allem an, um Angste und Beklemmungen auszuraumen. Entspannung und Angst sind gegensatzliche Gefuhle; man kann immer nur jeweils eines von beiden erfahren. Es ist absolut unmoglich gleichzeitig entspannt und angstlich zu sein. Unter TME ist es somit unmoglich, Angst oder die physiologische Erregung, die mit der Angst einhergeht, zu empfinden. Andererseits: Wird ein furchtauslosender Reiz uber einen langeren Zeitraum mit TME kombiniert, wird die Versuchsperson allmahlich lernen, sich trotz der belastenden Reize zu entspannen.

Selbst wenn der StreB der Situation nicht ubergroB ist, profitierst Du doch sehr davon, wenn Du Wettkampf oder korperliches Training mental, unter dem EinfluB von TME, visualisierst. Der Grund liegt darin, daB Du schon bald TME und sportliche Leistung miteinander verknupfen wirst. Auf diese Weise steigen die Chancen enorm, daB Du Dich in Training oder Wettkampf ebenfalls erfolgreich entspannen kannst. Die Fahigkeit, TME wahrend streBauslosender korperlicher Aktivitat anzuwenden, wird nicht nur Deine sportliche Leistung steigern. Du erhohst gleichzeitig auch Deine Energiereserven und wirst so belastbarer.

Dies war genau die Art geistiger Kontrolle, die Mike suchte: „Judd, ich habe in 2001 -ODYSSEE IM SPORT gelesen, daB Du computergestutztes Biofeedback verwendest, um Dir Entspannung selbst beizubringen. Ist das die einzige Methode?“

„Nein, es gibt viele Methoden, die Du benutzen kannst. Ich habe mit nahezu allen bekannten Techniken experimentiert. Allerdings bevorzuge ich zwei Methoden: Biofeedback und Jacobson's progressive Entspannungstechnik. Ich habe mit beiden Methoden beachtlichen Erfolg gehabt, obwohl ich mich zuletzt mehr auf Biofeedback versteift habe.“ „Was genau ist denn Biofeedback?“, wollte Mike wissen. „Biofeedback ist einfach ein Werkzeug, das Dir sofortige Information uber die Funktionen Deines biologischen Systems liefert, etwa uber Herzrhythmus, Atmung und Hirnstrome. Das geschieht, indem Du mit visuellen oder akustischen Ruckmeldungen uber das jeweils angeschlossene biologische System konfrontiert wirst. Die Methode basiert auf den Prinzipien normalen Lernverhaltens. Es ist eine bekannte Tatsache, daB man eine Ruckmeldung, eben ein „Feedback“ benotigt, um etwas zu lernen. Ohne eine Ruckmeldung kann man nichts lernen.

Ein Beispiel: Angenommen, Du lernst gerade Basketball spielen. Wenn Dein Wurf zu weit links landet, wurdest Du ein visuelles Feedback erfahren, indem Du erkennst, was zu tun ist, um nachstes Mal einen Korb zu erzielen. Ohne diese Ruckmeldung ware es unmoglich zu lernen, wie man in den Korb trifft. Jede Fertigkeit erfordert ein Feedback, sei es einen Basketball zu werfen, einen Baseball zu schlagen oder eine Hantel zu heben.“ Ich machte eine Pause, bevor ich weitersprach, um meinen Worten mehr Wirkung zu verleihen.

„Als man die Bedeutung des Feedbacks fur den Lernerfolg erkannt hatte, gingen einige Wissenschaftler daran, zu erforschen, ob man auch die inneren Organe durch Feedback kontrollieren kann. Sie konstruierten ein Gerat, das der Versuchsperson ein kontinuierliches visuelles und akustisches Feedback ubermittelt. Dieser sogenannte Physiograph ist ein Apparat, der visuelle Ruckmeldungen uber ein Oszilloskop und akustische uber einen Lautsprecher geben kann. Das Oszilloskop ist lediglich ein Bildschirm, auf dem Dein Herzschlag dargestellt wird. Darauf befinden sich Zahlen, die den Bereich von 0 bis 200 in 10er-Intervallen abdecken. Versucht man nun, den Puls auf 60 Herzschlagen pro Minute zu halten, konnen auf beiden Seiten der Zahl „60“ vertikale Linien eingestellt werden. Uber eine Elektrode auf der Brust wird die Versuchsperson an das Gerat angeschlossen. Die Schlagfrequenz des Herzens wird in kurzen Abstanden gemessen und als kleiner Punkt auf der Skala am Bildschirm angezeigt.

LaB uns einmal annehmen, Du warst an das Gerat angeschlossen, und der Lichtpunkt auf dem Monitor wurde bei 72 Schlagen pro Minute verharren, was etwa der durchschnittlichen Pulsfrequenz eines Menschen entspricht. Du bekommst nun, wahrscheinlich zum ersten Mal im Leben, ein biologisches Feedback von Deinem Herzen.

Der nun folgende ProzeB wird idiosynchratische Programmierung genannt (keine Sorge, das muBt Du Dir nicht merken; nur ein weiterer Fachausdruck fur eine mentale Ubung). Dahinter verbirgt sich lediglich, daB Du an etwas denkst, was den Herzschlag beschleunigt oder verlangsamt. Wenn Du zum Beispiel an eine schone Frau denkst, die mit Dir schlafen mochte, wirst Du feststellen, daB der Lichtpunkt sofort in den 200erBereich wandert. Du wirst schnell begreifen, daB Du auf keinen Fall an schone Frauen oder andere, Unruhe auslosende Szenen denken darfst, wenn Du Deinen Puls auf 60 Schlage pro Minute beschranken willst. Das andere Extrem ware wohl, daB Du Dir vorstellst, Du saBest in einer Vorlesung uber prahistorische Felsformationen. Der Lichtpunkt wurde sich vermutlich dem anderen Ende der Skala zubewegen.

Nun laB uns annehmen, Du visualisierst, daB Du in hohem, grunem Gras liegst. Die Sonne scheint, und der Himmel ist voller weicher, weiBer Wolken, die trage voruberziehen. Bei dieser Vorstellung wird der Lichtpunkt auf dem Monitor sich wahrscheinlich zwischen den vertikalen Linien einpendeln - Dein Herz schlagt ruhig 60 Mal pro Minute. Durch dieses Biofeedback konntest Du jetzt lernen, Deinen Herzschlag zu kontrollieren. Mit zunehmender Ubung wirst Du feststellen, daB Du das Oszilloskop ruhig ausschalten kannst. Das akustische Feedback des Physiographen reicht vollig aus, um den Puls bei 60 Schlagen pro Minute zu halten. Ohne Dich bewuBt anzustrengen, kannst Du nun in diesem Bereich bleiben.

Um das Beispiel des Basketballspielers noch einmal zu bemuhen: Erinnere Dich, daB fur sein Training eine kognitive Lernerfahrung erforderlich war. Das gleiche trifft auch beim Biofeedback zu. Je mehr der Basketballspieler trainiert, desto weniger muB er sich bewuBt auf seine Spiel-Aktivitaten konzentrieren. Irgendwann werden seine Fertigkeiten aus dem Ruckenmark gesteuert. Die bewuBte Steuerung der inneren Organe durch Biofeedback folgt den gleichen Prinzipien wie Basketball spielen oder Rad fahren: Du beherrschst es; Du weiBt wie man es anstellen muB, und Du muBt es nicht fur jede Anwendung neu lernen.“

Obwohl Mike nur schweigend dasaB, sagte mir sein triumphierender Blick, daB er nicht nur das Prinzip des Biofeedbacks verstanden, sondern auch dessen praktischen Nutzen erfaBt hatte. „Ja, Mike, die Moglichkeiten der Anwendung sind wirklich phantastisch. Wenn Du die Funktionen des autonomen Nervensystems kontrollieren kannst, bist Du in der Lage, Blutdruck, Hirnwellen, Herzschlag, Schlafzyklus und sogar den VerdauungsprozeB zu lenken. Die Bedeutung dieser Kontrollmoglichkeiten fur den Sport ist nicht weniger aufregend: Wie ware es wohl, wenn man die Nacht vor einem wichtigen Wettkampf tief und fest durchschlafen konnte oder fahig ware, die geballte Kraft der Emotionen zu beliebiger Zeit freizusetzen?“ Mikes Grinsen wurde noch breiter. „Kannst Du eigentlich Gedanken lesen, Judd? Das hort sich so an, als sei Biofeedback die beste Methode, um totale Muskelentspannung zu erreichen, oder?“ Ich nickte zustimmend. „Da konntest Du Recht haben. Vielleicht ist Biofeedback wirklich die richtige Methode fur Dich. Glaube aber nicht, daB es leicht zu erlernen ist. Es gibt nur wenige Leute, die die Kontrolle der inneren Organe durch Biofeedback beherrschen. Das hangt wohl damit zusammen, daB es kaum Trainer gibt, die uber die notige Ausrustung verfugen und diese Technik lehren. Fest steht jedenfalls, daB der Erfolg eines Biofeedbacktrainings in direktem Verhaltnis zum Konnen des Menschen steht, der die technischen Gerate bedient.

Ein weiterer wichtiger Faktor“, warnte ich, „ist Zeit. Du kannst Biofeedback nicht uber Nacht erlernen. Du brauchst schon fur TME mindestens achtzig Minuten pro Tag, und das eine Woche lang.“ Mikes emotioneller Hohenflug war plotzlich zu Ende; sein Grinsen verwandelte sich in eine Grimasse. Ich muBte lachen, beeilte mich aber dann, ihm zu versichern: „Bleib ruhig, Mike, TME ist viel leichter zu lernen als bewuBte Darm oder Blasenkontrolle, vorausgesetzt, Du arbeitest mit den richtigen Leuten und der richtigen Ausrustung.“ Der Riesenkerl sah mich mit gequaltem Augenaufschlag an und seufzte: „Also, so gewaltig konnen die Probleme mit Biofeedback ja auch nicht sein, wenn ich an den Erfolg denke, den Du damit hattest.“

„Da liegst Du ganz richtig, Mike. Allerdings hatte ich Zugang zu einer der modernsten Biofeedback-Anlagen, die zudem nach meinen Anweisungen konstruiert worden ist. AuBerdem habe ich viel Zeit darauf verwendet, mich sowohl als Techniker, als auch als Versuchsperson weiterzuentwickeln. AuBerdem standen mir mehrere Experten zur Verfugung, die mich bei der Handhabung der Gerate unterstutzten. Um ehrlich zu sein, war die Prozedur trotz all der Vorteile sehr zeitaufwendig und ermudend. LaB Dich aber nicht entmutigen“, schob ich schnell ein, „wie gesagt, wenn Du Dir die Ausrustung leisten kannst -die wirklich ziemlich teuer ist - und die notige Zeit, Geduld und KnowHow aufbringst, dann ist Biofeedback die beste Methode fur Dich.“

Mike atmete langsam aus. Er schien mit meinen Erlauterungen zufrieden zu sein und war bereit, weiterzumachen. „Was ist denn mit der anderen Entspannungstechnik, von der Du gesprochen hast? Kannst Du mir die nicht erlautern?“

„Aber sicher. Diese Methode nennt sich Jacobson’s progressive Entspannungstechnik“, -meiner Meinung nach eine der besten Entspannungstechniken uberhaupt. Ich kann sie jedem ohne Einschrankung empfehlen. Man braucht dafur weder erfahrene Helfer, noch eine aufwendige technische Ausrustung. Ein weiterer Vorteil ist, daB man sie leicht erlernen kann.“ Jetzt war Mike wieder voll bei der Sache. Das war genau das, was er horen wollte.

„Bist Du bereit fur den nachsten Schritt?“ fragte ich ihn. Er nickte entschlossen und sagte mit fester Stimme: „O.K., schieB' los!“