Heiligabend im Café zum Lila Kakadu
Katie stapfte durch den nassen, matschigen Schnee. Sie war stinksauer.
Es war der vierundzwanzigste Dezember, Heiligabend, kurz nach sieben Uhr abends, und die Straßen waren wie leergefegt. Die Weihnachtsgottesdienste waren alle vorbei bis zur Mitternachtsmesse und all die guten Bürger saßen in ihren Häusern und aßen Gänsebraten oder Fondue oder Kartoffelsalat mit Würstchen, ja nachdem was die entsprechende Familientradition diktierte.
Katie hoffte, dass wenigstens einige von ihnen immer noch beim Baum Bewundern, Weihnachtslieder Singen, Gedichte Aufsagen und Geschenke Auspacken waren. Aber das war wohl naiv gedacht. Denn irgendwann in den letzten fünfundzwanzig Jahren war die Bescherung in den meisten Familien vom Heiligabend nach Einbruch der Dunkelheit und nach Ende des Gottesdienstes, wenn die Familie religiös war, oder nach dem ausgedehnten Weihnachtsessen, wenn die Familie sadistisch veranlagt war, auf den frühen Nachmittag vorverlegt worden, weil es für kleinere Kinder Folter wäre, sie zu lange auf die Geschenke warten zu lassen.
Komischerweise hatte das niemanden interessiert, als Katie selbst noch ein Kind war und jedes Jahr am Nachmittag des Heiligen Abends Wir warten auf’s Christkind im Fernsehen angeguckt hatte — jedes Jahr dasselbe dämliche Weihnachtsspecial mit denselben dämlichen Zeichentrickfilmen — und wie auf glühenden Kohlen darauf gewartet hatte, dass der Weihnachtsmann endlich vorbeikam, um die Geschenke abzuliefern.
Aber heutzutage erwartete niemand mehr, dass Kinder die Geduld hätten, auf ihre Geschenke auch nur ein bisschen zu warten. Wir warten auf’s Christkind war auch schon seit Ewigkeiten nicht mehr im Fernsehen gewesen. Stattdessen fingen die Radiosender schon um zwei Uhr nachmittags am Heiligabend an, nichts als Weihnachtslieder zu bringen — und nicht die coolen amerikanischen Weihnachtslieder, die vielleicht etwas kitschig, aber wenigstens lustig waren, sondern diese langweiligen deutschen Weihnachtslieder, die immer wie Totengesänge klangen. Lasst uns trauern, denn heute ist der Heiland geboren. Der volle Besinnlichkeitsterror eben. Aber selbst das lahmste „Süßer die Glocken nie klingen” war scheinbar nicht lahm genug, um hyperaktive Gören zur Ruhe zu bringen.
Verdammt, sie hörte sich schon wie diese muffeligen alten „Also in meiner Jugend…” Leute an. Dabei waren solche Leute doch genau der Grund, warum Katie am Heiligabend hier durch die Kälte trabte, während der nasse Schnee allmählich ihre Stiefel durchweichte, und nicht warm und trocken zuhause saß und mit ihren Eltern und Verwandten Gänsebraten aß.
Der Wind blies Schneeflocken in Katies Augen, also zog sie die Kapuze tiefer in ihr Gesicht. Typisch norddeutsche Weihnachten eben, windig and nass. Nur dass die Nässe dieses Jahr mal nicht Regen sondern Schnee war. Klar doch, natürlich musste heute das erste weiße Weihnachtsfest seit circa zehn Jahren sein.
Durch das Schneegestöber konnte Katie die Lichter des Cafés zum Lila Kakadu sehen — ein zwinkernder Neonkakadu, lila natürlich, und ein Schriftzug im Fünfzigerjahre Kursiv, auch lila. Das Schild war ein einsamer Leuchtturm von Wärme und Zivilisation in einer Stadt, in der alle anderen Lichter schon längst erloschen waren. Denn die Geschäfte hatten schon die Weihnachtsbeleuchtung abgenommen, der Weihnachtsmarkt war zu und sogar die Straßenlaternen waren aus, denn warum sollte man Energie auf Straßenbeleuchtung verschwenden, wenn eh kaum ein Auto mehr fuhr?
Das Café zum Lila Kakadu hatte eine lange und ebenso bunte Geschichte. Irgendwann in den Fünfzigern hatte es mal als Jugendclub angefangen, wo man diese neumodische Rock ‘n Roll Musik hören und — Schock und Horror — sogar dazu tanzen konnte. In den Sechzigern, wurde es dann zu einem Beat Club. Um 1970 war es eine Hippie Kneipe, komplett mit psychedelischen Postern an den Wänden, die unter Schwarzlicht leuchteten. In den Mittsiebzigern wandelte sich das Café zu einem Punker Laden. 1978 wurde es in eine Disco umgewandelt und blieb es durch die Achtziger Jahre hindurch. In den frühen Neunzigern war das Café ein Club für Grunge und Indie Musik, der einzige in der Stadt. Und irgendwann um die Jahrtausendwende herum wurde der Laden zu einer Lesbenkneipe.
Aber durch seine lange und wechselhafte Geschichte hindurch war das Café zum Lila Kakadu immer eines gewesen, nämlich ein sicherer Hafen für alle, die entweder keine Familie hatten oder nicht noch einen Heiligabend mit der Familie zuhause ertragen konnten.
Die Tradition der Heiligabendparties im Café zum Lila Kakadu hatte irgendwann in der Rock ‘n Roll oder Beat Ära angefangen, als absolut nichts in der Stadt geöffnet war und die Straßen am Heiligen Abend verlassener waren als die Welt nach einem Atomkrieg. Damals waren diese Heiligabendparties noch echt kontrovers gewesen. Es gab viel Widerstand damals, von den Kirchen, der Polizei, dem Senat und all den guten und aufrechten Bürgern, die es einfach nicht ertragen konnten, wenn irgendetwas auch nur ein bisschen anders lief, als es immer gewesen war.
Über die Jahre war der Widerstand allmählich schwächer geworden, und das Café zum Lila Kakadu war auch nicht mehr der einzige Platz außer der Bahnhofsmission, wo man am Heiligen Abend etwas Warmes zu trinken und etwas Konversation und Kameradschaft finden konnte. Heutzutage gab es Dönerläden und Chinarestaurants und vietnamesische Nudelbars, die alle am Heiligabend geöffnet waren, und Discos boten Tanznächte für alle diejenigen an, die noch auf den Füßen waren, nachdem ihre Familien längst zu Bett gegangen waren.
Aber durch all die Veränderungen hindurch war das Café zum Lila Kakadu standhaft geblieben und öffnete seine Türen für alle, die Heiligabend sonst nirgendwo hingehen konnten, gleich welchen Alters, Geschlechts, Religion, Hautfarbe oder sexueller Orientierung.
Heute Nacht war Katie eine von denen, die nirgendwo anders hingehen konnten. Es war ein neues Gefühl für sie, denn schließlich hatte sie die vorhergegangenen dreiundzwanzig Heiligabende mit ihren Eltern und Verwandten verbracht. Sie hatte mit ihrer Familie um den Baum herum gesessen, Weihnachtslieder gesungen, Gedichte aufgesagt und Gänsebraten mit Semmelknödeln und Rotkohl gegessen.
Und in jedem dieser dreiundzwanzig Jahre — na ja, zumindest die letzten zehn Jahre oder so — hatte Katie immer einen Horror vor diesem weihnachtlichen Familientreffen gehabt. Sie hatte sich nie auf die Gedichte und die schief gesungenen Weihnachtslieder gefreut, nicht auf die Geschenke, die sie sich weder gewünscht hatte noch haben wollte, oder die Weihnachtsgans, die ihr eigentlich viel zu fett war. Aber am meisten Horror hatte sie vor den Verwandten und ihren Sprüchen.
Sie hasste die frauenfeindlichen Witze von Onkeln, die geistig scheinbar in der Zeit, als Dinosaurier die Welt beherrschten, steckengeblieben waren. Sie hasste all die Bemerkungen über „diese verdammten Ausländer, die das Land ruinieren” von Großtanten, die als junge Frauen selbst als Flüchtlinge aus Schlesien oder Ostpreußen gekommen waren. Sie hasste die Grabschhände alternder Lüstlinge und die mitleidigen Blicke von Tanten und Cousinen, die sie immer wieder fragten, warum sie denn in ihrem Alter noch nicht verheiratet sei und noch keine Kinder hätte.
Aber am meisten Horror hatte sie vor Onkel Günther, der immer wieder lang und breit seine politische Meinung ausbreiten musste, die nur ganz knapp links von Adolf Hitler lag. Und niemand sagte jemals etwas gegen Onkel Günther, obwohl keiner seine Tiraden ertragen konnte.
Diese Weihnachten schließlich, ihr vierundzwanzigstes Weihnachtsfest auf Erden, hatte Katie endlich genug. Schließlich war sie jetzt vierundzwanzig Jahre alt. Sie hatte einen Masterabschluss, eine eigene Wohnung und einen guten Job. Sie war endlich eine richtige Erwachsene. Und sie musste sich wirklich nicht mehr mit nervigen Verwandten abgeben, Verwandten, in deren Gegenwart sie sich unwohl fühlte. Und vor allem musste sie wirklich keinen Horror mehr vor Heiligabend haben, wenn es doch die schönste Nacht des Jahres sein sollte.
Also hatte sie ihren Eltern klipp und klar gesagt: „Nein. Ich werde mich nicht mehr mit Leuten abgeben, in deren Gegenwart ich mich unwohl fühle oder die mich verletzen. Entweder sorgt ihr dafür, dass sie damit aufhören, oder ihr ladet sie aus oder ihr könnt euer Familienweihnachten ohne mich feiern.”
Ihre Mutter hatte erstmal behauptet, Katie hätte wohl ihre Tage und wäre deswegen so ungenießbar — da eine Frau offensichtlich keine echten Gründe haben könnte, wütend zu sein — nein, es waren immer die Hormone schuld. Dann hatte Katies Mutter sie ein hasserfülltes Miststück genannt, das den Wert von Familie gar nicht begreifen könne. Währenddessen meinte Katies Vater, man müsste Verwandte nun mal tolerieren, egal ob man sie nun mochte oder nicht.
Und als Katie antwortete, „Nein, tatsächlich muss ich niemanden tolerieren und schon gar keine Rassisten und Frauenhasser”, hatten ihre Eltern sie vor die Wahl gestellt, entweder wie jedes Jahr mit der ganzen Familie Weihnachten zu feiern, Rassisten, Frauenfeinde und sonstige Arschlöcher eingeschlossen, oder eben alleine zu bleiben.
Und so kam es, dass Katie sich ausgerechnet an Heiligabend als Waisenkind — na ja, Quasiwaisenkind — wiederfand. Also tat sie, was jeder in der Stadt tat, wenn er oder sie an Heiligabend alleine war und nirgendwo sonst hingehen konnte. Sie ging ins Café zum Lila Kakadu.
Von dem Café hatte Katie in der Uni gehört, von einer der freimütigeren Lesben in ihrem Studiengang. Da gewesen war sie allerdings noch nie. So war das mit allen Clubs und Kneipen in der Stadt, vor allen wenn sie einen skandalösen oder glamourösen Ruf hatten. Katie kannte sie alle beim Namen, aber sie war noch nie in einem einzigen gewesen. Sie war eben keine Kneipen- oder Clubgängerin.
Aber anscheinend hatte ihre neu gefundene Entschlossenheit, sich nicht mehr mit nervigen Verwandten abzugeben, sie auch gleich zu einer abenteuerlustigeren Person gemacht, die Sorte Frau, die am Heiligabend zu einer Weihnachtsparty in eine Lesbenbar ging, obwohl sie in der Richtung eigentlich gar keine Interessen hegte.
Na ja, damals an der Uni hatte Katie manchmal behauptet, dass sie lesbisch wäre, meistens um besonders hartnäckige Typen, die kein „Nein” akzeptieren konnten, loszuwerden. Und es waren immer Typen, denn Frauen akzeptierten normalerweise ein höfliches „Nein danke”, also hatte sie es niemals nötig gehabt, auf ihrer Heterosexualität zu beharren. Tatsächlich vermutete Katie, dass sie wahrscheinlich bi war. Irgendwie war doch jeder bi, denn einhundertprozent hetero oder schwul auf der Kinsey Skala gab es doch so gut wie nie.
Die volle und hässliche Wahrheit war allerdings, dass Katie bisher immer wenig Interesse an intimen Beziehungen gehabt hatte, egal mit welchem Geschlecht. Beziehungen waren kompliziert und zeitaufwendig und meistens brachen sie einem am Ende auch noch das Herz. Nein danke, das brauchte sie nun wirklich nicht. Außerdem war Katie immer glücklich als Single gewesen und hatte sich erst auf ihren Abschluss und dann auf ihre Karriere konzentriert.
Bis sie sich plötzlich ganz alleine am Heiligabend wiederfand.
Wie alle die besten Clubs war das Café zum Lila Kakadu eine Kellerbar. Der Eingang lag versteckt zwischen einem Chinarestaurant, geschlossen, und einem Reisebüro, ebenfalls geschlossen. Ein lilafarbener Neonpfeil zeigte auf die Tür.
Es gab einen Türsteher, eine muskulöse Frau mit stacheligem, platinblondem Haar und einem Nasenpiercing. Und plötzlich erkannte Katie, warum sie — obwohl sie doch wusste, wo all die coolen Clubs waren — eigentlich nie dahin ging. Es war wegen der Türsteher. Irgendwie fand sie es ungeheuer demütigend, dass man, selbst wenn man bereit war, für das Privileg zu zahlen, einen Club betreten zu dürfen, immer noch irgendeinem Türsteher mit zu vielen Muskeln und zu wenig Hirnmasse ausgeliefert war, der entscheiden konnte, ob er einen reinließ oder nicht, abhängig davon wie kurz dein Rock war oder ob er deine Hautfarbe oder auch nur deine Nase nicht mochte.
Restaurants brauchten keine Türsteher. Kinos brauchten keine Türsteher. Theater brauchten keine Türsteher. Also warum meinten ausgerechnet irgendwelche Clubs und Discos, dass sie Türsteher bräuchten?
Allerdings war es weder schwierig noch demütigend, an dem Türsteher — Türsteherin — des Cafés zum Lila Kakadu vorbei zu kommen. Die Frau nickte Katie einfach nur zu und sagte: „Frohe Weihnachten und viel Spaß, Schwester.” Dann starrte sie wieder in das Schneegestöber hinaus.
Die Treppe, die hinab in den Club führte, war eng und steil. Das abgewetzte Linoleum stammte scheinbar noch aus der Zeit, als der Laden in den Fünfzigern mal ein Rock ‘n Roll Club gewesen war. Es sah alles arg schäbig aus, aber Katie lächelte dennoch, denn sie stellte sich vor, wie ihre dämlichen Verwandten gucken würden, wenn sie wüssten, dass Katie den Heiligabend in einer Lesbenbar verbringen würde. Tante Inge würde vor Schock glatt tot umfallen.
Der Innenraum des Cafés zum Lila Kakadu war angenehm düster. Die Wände waren schwarz angestrichen und bedeckt mit Photos aus der illustren sechzigjährigen Geschichte des Clubs. Die niedrige Decke war mit Glitzersternen beklebt. In einer Ecke stand ein arg vertrockneter Weihnachtsbaum, die einzige Konzession an die Jahreszeit. An einer Wand des Clubs gab es eine Bar, in der Mitte gab es eine kleine Tanzfläche und am anderen Ende des Raums gab es eine kleine Bühne, auf der ein Mädchen mit einer Gitarre auf einem Hocker saß und sang, sowohl Weihnachts- als auch andere Lieder. Sie hatte eine gute Stimme, zumindest viel besser als das, was man regelmäßig in all diesen Casting Shows im Fernsehen hörte.
Katie sah sich um und ging dann schnurstracks auf die Bar zu. Sie brauchte einen Drink. Einen großen Drink.
Eine Tafel hinter der Bar listete alle möglichen Weihnachtsspecials auf, handgeschrieben in Kreide. Es gab etliche Glühwein Varianten, Eierpunch, Grog, Latte Macchiato mit Zimtgeschmack, heißen Apfelpunch und belgisches Weihnachtsbier. Katie studierte die Karte einen Moment lang und entschloss sich schließlich für Blaubeerglühwein. Sie wickelte ihre eiskalten Hände um die warme Tasse. Die Wärme verteilte sich angenehm über ihre Finger durch ihren ganzen Körper.
Das Klientel des Cafés zum Lila Kakadu deckte ein breites Altersspektrum ab, von knapp zwanzig bis über siebzig. Etwa fünfundsiebzig Prozent waren Frauen, was eigentlich nur logisch war. Aber es gab auch einige Männer und die schienen nicht mal alle schwul zu sein.
Katie unterhielt sich mit einer eleganten Dame in den Sechzigern namens Renate. Renate erzählte, sie sei verwitwet und wohne in einem Villenviertel am Rande der Stadt. Ihr Mann war vor fünf Monaten gestorben, und da sie das Weihnachtsfest nicht alleine verbringen wollte, war sie eben ins Café zum Lila Kakadu gegangen, das sie noch aus ihrer „wilden Jugend” kannte, wie sie sagte. Katie nickte und lächelte höflich, obwohl Renate ehrlich gesagt nicht aussah als ob sie jemals in ihrem Leben wild gewesen wäre.
Ein alter Mann namens Herbert stimmte mit ein und erzählte ihnen, dass er seit 1959 jedes Jahr am Heiligabend ins Café zum Lila Kakadu käme und all die Veränderungen, die der Laden in fast sechzig Jahren durchgemacht hatte, miterlebt hätte. Aber die Leute hier wären immer nett und hießen einen immer willkommen, egal welche Subkultur gerade regierte.
„Das ist wie mein zweites Zuhause hier”, sagte Herbert.
Katie nickte, denn das Café zum Lila Kakadu fühlte sich wirklich wie ganz wie zuhause an. Denn auch hier verbrachte sie den Heiligabend damit, sich mit alten Leuten zu unterhalten, ganz wie jedes Jahr zuhause.
Obwohl Herbert und Renate beide ganz nett zu sein schienen. Und zumindest hatte noch keiner von beiden angefangen, über „all diese schrecklichen Ausländer und Asylanten” zu schimpfen, was schon mal ein Vorteil gegenüber zuhause war.
„Hallo”, sagte eine neue Stimme hinter ihr.
Katie drehte sich um. Vor ihr stand eine Frau Mitte zwanzig. Sie hatte einen blonden Pferdeschwanz und trug Jeans, ein Holzfällerhemd und kein Make-up.
„Du bist neu hier, oder?”
Katie nickte. „Ist das so offensichtlich?”
„Na ja, du wirkst ein bisschen schüchtern. Und außerdem macht Herbert, der alte Lüstling hier, dich gerade an…”
Sie drehte sich zu Herbert. „Nun sei mal nicht beleidigt, Herbert. Du weist, dass wir dich alle lieb haben.”
Sie drehte sich wieder zu Katie, wobei ihr Pferdeschwanz wild herumflog. „…Und normalerweise macht Herbert nur die neuen Mädchen an, da er inzwischen weiß, dass beim Rest von uns alle Liebesmüh vergebens ist. Und außerdem…” Sie lächelte. Es war ein sehr nettes und warmes Lächeln. „…hab’ ich dich hier noch nie gesehen und ich weiß, dass ich mich an eine hübsche Frau wie dich ganz bestimmt erinnern würde.”
Scheinbar war Herbert nicht der einzige hier, der die neuen Mädchen anmachte.
Die Frau streckte die Hand aus. „Ich bin übrigens Jess.”
Ach, warum zur Hölle denn nicht?
„Katie.” Sie nahm die Hand und schüttelte sie. Jess hatte einen guten, festen Handschlag.
„Also…” Jess setzte sich auf den Barhocker neben Katie, ohne auf eine Einladung zu warten. „…was bringt dich denn ins Café zum Lila Kakadu an diesem schönen, weißen Heiligabend?”
Katie zuckte mit den Schultern. „Ich hab’ mich mit meiner Familie gestritten und wollte nicht Weihnachten alleine zuhause vor’m Fernseher sitzen und Helene Fischer oder Stars in der Manege oder was auch immer es heut Abend für einen Mist gibt gucken. Also bin ich hierher gekommen. Du weist wahrscheinlich, wie das so ist.”
„Das weiß ich tatsächlich”, sagte Jess, „Was ist denn das Problem zuhause? Wolltest du dich an Weihnachten gegenüber deiner Familie outen und die konnten es einfach nicht ertragen, dass es in absehbarer Zukunft keine weißen Hochzeiten oder Enkelkinder geben wird? „
„Nein, ich…” Katie bemerkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. „Ich bin nicht… Also eigentlich bin ich bi.”
„Kein Problem.” Jess grinste. „Ich bin nicht eifersüchtig.”
„Und außerdem war das auch gar nicht der Grund”, sagte Katie, obwohl sie keine Ahnung hatte, warum sie sich hier vor einer Frau, die sie kaum kannte, rechtfertigen sollte, „Es ist… na ja, meine Eltern laden an Heiligabend immer die ganze Großfamilie ein…”
„Und du hattest genug von Menschenmengen und Weihnachtstrubel?”, fragte Jess, „Klar doch, versteh’ ich.”
Katie schüttelte den Kopf. „Es gibt da ein paar Verwandte, die sind… na ja, problematisch.”
„Lass mich mal raten…” Jess nahm einen Zug exklusives belgisches Weihnachtsbier direkt aus der Flasche. „Onkel mit Grabschhänden, Mütter, Tanten und Cousinen, die einfach nicht aufhören können, über Hochzeiten und Babies zu reden…”
„Das auch”, sagte Katie und fragte sich, ob Jess vielleicht eine lang vermisste Cousine von ihr wäre, da sie scheinbar so viel über ihre Familie wusste, „Die meisten Verwandten sind einfach nur lästig. Aber da gibt es einen Onkel… na ja, der ist ein richtiger Nazi. Der redet immerzu rassistischen Mist darüber, wie Ausländer und Asylanten und Moslems das Land ruinieren und dass endlich mal jemand was dagegen tun müsste…”
„Und du hast Onkel Nazi erzählt, wo er sich seinen Rassistenscheiß hinstecken kann?”, sagte Jess, „Gut gemacht.”
„Nicht so ganz”, sagte Katie, „Ich hab’ meinen Eltern klipp und klar gesagt, dass ich mit Onkel Nazi…”
Eigentlich war das eine echt gute Bezeichnung für ihn.
„… und seinem rassistischen Bockmist nichts mehr zu tun haben möchte. Ich hab’ gesagt, dass ich ihn ertragen würde, so lange er nur über Hämorrhoiden oder Fußball oder das Wetter schimpft. Aber sobald er anfinge, rassistischen Mist abzusondern, würde ich ihm sagen, dass er die Klappe halten und seinen Dreck für sich behalten sollte.”
„Ich denke mal, dass ist nicht so gut angekommen bei deinen Eltern.”
Katie schüttelte den Kopf. „Mir wurde erzählt, dass man Verwandte und ihre abstoßenden Meinungen tolerieren müsste, weil sie eben Verwandte sind. Oh ja, und man darf ihnen absolut nicht sagen, was man von ihnen hält, denn das würde ja die Weihnachtsstimmung verderben.”
Jess verdrehte ihre Augen. „Wohingegen Onkel Nazi und sein rassistischer Bockmist natürlich absolut nicht die Festtagsstimmung verderben, denn schließlich hört doch jeder gerne rassistische Sprüche zusammen mit den Weihnachtsliedern.”
Katie nickte. „Genau so isses.”
Jess hob die Flasche an ihre Lippen und nahm einen Schluck. „Diese Einstellung ist echt endemisch bei der Generation”, sagte sie, „Die Generation unserer Eltern, meine ich. Na ja, eigentlich die Generation meiner Eltern, aber ich denk’ mal, deine sind genauso.”
„Meine sind in den Fünfzigern und Sechzigern”, sagte Katie.
„Meine auch. Und das ist eben die Generation, die von kaum reformierten Altnazis umzingelt aufgewachsen ist. Und man konnte gegen diese Typen nichts sagen, weil sie eben überall waren, in der Schule, in der Uni, im Job, sogar in der eigenen Familie. Außerdem machte man sich eh nur unbeliebt damit, wenn man was gegen diese Nazi Altlasten sagte. Also hat die Generation unserer Eltern eben nie gelernt, aufzustehen und zu sagen, ‘So nicht. Das ist nicht okay.’ Und sie können es auch nicht ertragen, wenn wir was sagen…”
„Pah, Nazis”, unterbrach Herbert sie, „Die konnte ich noch nie leiden, nicht mal damals, als sie wollten, dass ich ihrer blöden Hitlerjugend beitrete.”
Jess knallte die Flasche auf den Tisch. „Bei der Generation unserer Eltern heißt es immer nur, still halten und bloß nichts gegen den Nazi am Esstisch sagen, denn dann verschwindet er vielleicht oder hält endlich die Klappe. Aber natürlich verschwinden die Nazis am Esstisch niemals und die Klappe halten sie auch nicht.”
Katie nickte in Übereinstimmung. „Stattdessen werden die immer unverschämter, weil sie glauben, dass ja jeder ihre Meinung teilen würde. Weil sich ja niemand traut, was zu sagen.”
„Und da niemals jemand was gegen diese Stammtisch Nazis sagt, werden sie immer schlimmer und fangen an, vor Flüchtlingsheimen zu randalieren oder Demos zu veranstalten, wie diese Arschlöcher in Dresden.” Jess schauderte.
„Dresden ist so eine wunderschöne Stadt”, sagte Renate, „Mein Mann und ich waren da ein paar Mal in Urlaub. Die Museen, die Architektur, die Oper…”
„Allerdings hat die Stadt leider auch siebzehntausend Arschlöcher, die gegen ein gammeliges halbes Prozent Moslems demonstrieren”, fügte Jess hinzu.
„Das ist schon eine Schande”, stimmte Renate zu, „So eine wunderschöne Stadt, so durch Hass verschandelt.”
Herbert nickte. „Schöne Stadt, scheiß Nazis.” Er nahm einen Schwall Bier. „Ich hasse diese verdammten Nazis.”
„Ich denke mal, darauf können wir alle trinken”, sagte Jess.
Also tranken sie darauf. Und Katie wurde klar, dass sie sich hier im Café zum Lila Kakadu viel wohler fühlte als an all jenen Weihnachtsfesten mit der Familie zuhause.
„Was mich an der ganzen Sache am meisten fertig macht…”, sagte sie still, „…ist, dass als ich meine Familie vor die Wahl zwischen dem alten Nazionkel und mir gestellt habe, sie sich für den alten Nazi entschieden haben. Da fühlt man sich doch so richtig gewürdigt.” Sie nahm einen Schluck Glühwein.
„Deren Verlust…” Jess klopfte Katie kameradschaftlich auf die Schulter. „…ist unser Gewinn.”
Und so hoben sie wieder ihre Gläser und tranken darauf, Jess und Katie und Herbert und Renate. Katie leerte ihren Glühwein und orderte sogleich den nächsten Becher. Und wenn sie dann am Ende betrunken war, dann war’s eben so. Schließlich war es Heiligabend und ihre Eltern verbrachten den Tag lieber mit einem muffligen alten Rassisten als mit ihr. Gab es einen besseren Grund, sich vollaufen zu lassen?
Herbert und Renate fingen schließlich an, Erinnerungen und Annekdoten aus ihrer „wilden Jugend” auszutauschen, während Jess und Katie sich mit einander unterhielten. Sie redeten über ihre Jobs und ihre Familien und ihrer Lieblingsbücher und –filme und –fernsehserien und stellten fest, dass sie beide Buffy — Im Bann der Vampire liebten und weder The Walking Dead noch Game of Thrones leiden konnten.
Für Katie war es ziemlich offensichtlich, dass Jess mit ihr flirtete, aber das machte ihr nichts aus. Ganz im Gegenteil, sie fühlte sich sogar geschmeichelt. Aber sie hatte sowieso noch nie verstanden, warum sie sich durch die Aufmerksamkeit von Männern geschmeichelt fühlen sollte, selbst wenn diese oft arrogant waren und sich weigerten, ein „Nein” als Antwort zu akzeptieren, aber sich gleichzeitig von der Aufmerksamkeit von Frauen schockiert fühlen sollte, obwohl die Frauen im allgemeinen viel weniger aggressiv beim Flirten waren.
Das Mädchen mit der Gitarre machte Pause — eigentlich total verständlich, denn schließlich hatte sie den ganzen Abend gesungen — also legte jemand eine Weihnachts-CD ein. Bald schon schallten Weihnachtslieder durch die Bar, all die altern, kitschigen Songs wie „Rocking around the Christmas Tree” oder „Driving Home for Christmas” oder „Do they know it’s Christmas time” — das Original, nicht diese neue Ebola Version.
Paare aller möglichen Geschlechterkombinationen stürzten auf die Tanzfläche und swingten zu „Rocking around the Christmas Tree” mit mehr Enthusiasmus als Können. Und dann spielte die CD „Last Christmas”, die einzig wahre Version von Wham!, immer noch genauso großartig wie damals 1984.
„Oh mein Gott, ich liebe diesen Song”, rief Jess, „Ich meine, ich weiß, dass das Lied total kitschig ist, aber ich liebe es trotzdem.”
Katie nickte. „Nein, das ist schon okay”, sagte sie, „Ich verstehe. Ich liebe den Song auch. Selbst wenn er total kitschig ist.”
Ihre Blicke trafen sich für einen langen Moment, dann streckte Jess ihre Hand aus. „Möchtest du tanzen?”
Katie war nicht gerade eine große Tänzerin. Das war sie nie gewesen. Klar, sie tanzte gerne ganz alleine in ihrer Küche. Aber Tanzen mit einem Partner, besonders einem Mann? Vergiss es! Die Männer wollten immer führen und meistens hatten sie keinerlei Rhythmusgefühl.
Na ja, zumindest die Frage, wer führt, würde hier kein so großes Problem sein, denn Jess war ja kein Mann. Also warum zur Hölle sollte Katie nicht mit ihr tanzen? Außerdem würde es ihre Familie total schockieren, wenn die wüssten, dass sie mit einer Frau tanzte.
Also nahm Katie die Hand von Jess. „Klar doch, warum nicht?”
Also tanzten sie gemeinsam zu „Last Christmas”. Und die Frage, wer denn nun führte und wer sich führen ließ, kam überhaupt nicht auf, denn irgendwie waren sie beide perfekt aufeinander abgestimmt. Und obwohl Jess die Arme ein bisschen enger um Katie schlang als es unbedingt nötig war, fand Katie, dass ihr das gar nichts ausmachte.
Dann sang George Michael, dass er diese Mal sein Herz an jemand ganz Besonderen verschenken würde und Jess zog Katie noch enger an sich heran. Und dann, bevor Katie irgendeine Ahnung hatte, was passierte, küsste Jess sie plötzlich direkt auf den Mund.
Der Kuss war zuerst ganz vorsichtig und dann immer enthusiastischer. Und obwohl Katie zunächst mal zu überwältigt war, um zu reagieren, machte sie doch bald mit. Denn verdammt noch mal, wenn Katy Perry ein Mädchen küssen und es mögen konnte, dann konnte Katie das auch. Außerdem fühlte sich der Kuss richtig gut an, so gut wie es sich nur anfühlen konnte, wenn Heiligabend oder Silvester war und man seine einzige wahre Liebe küsste. Nicht dass Katie irgendwas darüber wusste.
„Last Christmas” war schon lange vorbei und das nächste Lied — „Lonely this Christmas” — hatte angefangen, als ihre Lippen sich schließlich trennten. Beide stolperten zu einem Stopp, keuchend und außer Atem.
„Sorry”, sagte Jess mit einem Augenzwinkern, „Mistelzweig.” Sie zeigte nach oben.
Katie sah nach oben. Tatsächlich hing da ein Mistelzweig, schon ziemlich vertrocknet und angeschlagen, von der Decke zwischen all den Glitzersternen. Und da sie immer noch genau unter dem Mistelzweig standen, zog Katie Jess zu sich für noch einen Kuss, während Elvis immer noch jodelte, dass dieses Weihnachten einsam und kalt sein würde.
Danach redeten Katie und Jess nicht mehr allzu viel, obwohl sie viel tanzten und küssten. Und nach etwa drei Songs brauchten sie nicht mal mehr den Mistelzweig als Vorwand.
Es war schon weit nach Mitternacht, als das Café zum Lila Kakadu endlich schloss. Katie und Jess strömten aus dem Club mit den übrigen Heiligabendgästen.
Draußen schneite es immer noch, obwohl schon eine dicke weiße Schneedecke die Straßen bedeckte wie eine Lage Watte.
„Wo gehst du jetzt hin?”, fragte Jess Katie.
„Zum Bahnhof”, antwortete Katie, „Mal sehen, ob ich noch ein Taxi nach Huase ergattern kann.”
„Ich muss in dieselbe Richtung”, meinte Jess, „Ich wohne am Osttor, weißt du?”
Also machten sie sich durch den Schnee auf, Arm in Arm wie ein Pärchen, das schon sehr lange zusammen war. Ab und zu trafen sie andere, die durch den mitternächtlichen Schnee stapften. Die meisten waren Leute, die von der Mitternachtsmesse nach Hause gingen, obwohl es auch ein paar andere Partygänger gab. Meistens aber gingen sie ganz alleine durch die verschneite und verlassene Stadt, gerade so als ob sie die einzigen beiden Menschen wäre, die es noch auf der Erde gäbe.
Bald schon konnten sie die Lichter des Bahnhofs vor ihnen sehen, ein Leuchtturm in der ansonsten dunklen Heiligen Nacht. Es gab Menschen dort und Taxen und Züge und Läden, die immer offen hatten, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr.
Jess und Katie gingen beide unmerklich langsamer je näher sie dem Bahnhof kamen. Es war beinahe, als ob sie noch nicht Abschied nehmen wollten.
„Weißt du was?”, sagte Jess plötzlich in die Stille der Heiligen Nacht hinein, „Ich hab’ Hunger. Wie wär’s mit einem Mitternachtsimbiss am Bahnhof?”
Katie nickte, denn plötzlich bemerkte sie, dass ihr Magen auch knurrte. „Klar doch. Wenn noch irgendwas offen hat.”
„Hey, das ist der Hauptbahnhof”, sagte Jess, „Da hat immer irgendwas offen.”
Am Ende fanden sie drei Läden, die noch offen hatten, und hatten die Qual der Wahl zwischen Döner, Pizza und Pho. Nach etwas hin und her entscheiden sie sich schließlich für Pho, denn es war so wunderbar wärmend und daher der ideale Mitternachtssnack für eine kalte Weihnachtsnacht.
Bald schon saßen Jess und Katie auf Barhockern in der hell erleuchteten Nudelbar und sahen einander tief in die Augen über eine Schüssel dampfend heiße Pho Suppe.
Sie unterhielten sich über dies und das, während sie die langen Nudeln um ihre Stäbchen drehten, sich über die frischen Kräutern zu dieser Jahreszeit wunderten und sich an der Brühe selbst, mit dem Geschmack von Zimt und Kardamom und Nelken und Sternanis, wärmten.
„Weist du, das sind genau dieselben Gewürze wie in Lebkuchen”, meinte Katie.
Jess nickte. „Das macht es dann ja echt zum idealen Mitternachtsmahl für den Weihnachtsabend.”
Als sie ihre Nudelsuppe schlürften, sahen sie sich tief in die Augen und ihnen beiden gefiel, was sie da sahen.
„Ich… ich mach’ so was normalerweise nicht”, sagte Katie schließlich, „Aber ich mag dich echt. Und ich… na ja, ich würde dich gerne wiedersehen. Nach Weihnachten natürlich. Oder vielleicht sogar nach Neujahr.”
Jess hörte geduldig zu, während sie Pho direkte aus der Schüssel schlürfte. Sie wartete, bis Katie ausgeredet hatte. Dann setzte sie die Schüssel ab.
„Ich mag dich auch”, sagte sie, ziemlich direkt, „Und ja, ich würde dich auch gerne wiedersehen. Aber warum sollen wir noch bis Neujahr oder noch länger warten? Immerhin hab’ ich doch eine Wohnung am Osttor. Na ja, sehr groß ist sie nicht, aber ich habe ein schönes breites und bequemes Bett.” Sie hielt inne. „Also, was sagst du?”
Um ehrlich zu sein, hatte Katie keine Ahnung, was sie sagen sollte und wie sie es ausdrücken sollte. Also sagte sie gar nichts, sie nickte einfach nur.
Zehn Minuten später machten sie sich beide wieder in die verschneite Nacht auf. Pho wärmte ihre Mägen und gegenseitige Anziehung erwärmte ihre Herzen.
Und obwohl das Weihnachtsfest für sie beide einsam begonnen hatte, endete es dann doch ganz anders.
Ende