Pauline und Lawrence Treherne hatten mich eingeladen, am ersten Tag mit ihnen zu Abend zu essen, aber als ich den Speisesaal des Hotels betrat, saß Lawrence allein da. »Tut mir leid«, sagte er. »Pauline hat leider Kopfschmerzen.« Der Tisch war trotzdem für drei Personen gedeckt. »Lisa hat gesagt, sie würde uns Gesellschaft leisten«, fügte Lawrence hinzu. »Aber wir sollen schon mal ohne sie anfangen.«
Er sah älter aus als in Kreta. Er trug ein kariertes Hemd und eine rote Cordhose, die beide schlabberig an ihm herunterhingen. Er hatte Tränensäcke unter den Augen, und seine Haut hatte diese dunklen Flecken, die ich immer mit Krankheit und Alter in Verbindung brachte. Es war offensichtlich, dass das Verschwinden seiner Tochter ihm schwer zu schaffen machte, und ich vermutete, dass Paulines Kopfschmerzen denselben Grund hatten.
Ich setzte mich ihm gegenüber. Ich trug ein langes Kleid und hochhackige Schuhe, aber ich fühlte mich damit gar nicht wohl. Ich hätte sie lieber abgestreift, um barfuß über den Strand in Kreta zu laufen.
»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, dass Sie gekommen sind, Miss Ryeland«, begann er.
»Bitte … nennen Sie mich doch Susan!« Ich hatte gedacht, das hätten wir alles längst hinter uns.
Ein Kellner kam an den Tisch, und wir bestellten unsere Drinks. Lawrence nahm einen Gin Tonic, aber ich beließ es bei einem Glas Weißwein.
»Wie gefällt Ihnen das Zimmer?« fragte Lawrence.
»Oh, das ist sehr schön! Vielen Dank! Ihr Hotel ist wirklich fantastisch.«
Er seufzte. »Es ist eigentlich nicht mehr mein Hotel. Meine Töchter sind jetzt die Geschäftsführerinnen. Und mich darüber zu freuen, fällt mir im Augenblick ziemlich schwer. Das Hotel war unser Lebenswerk, aber wenn so etwas geschieht wie jetzt, muss man sich fragen, ob es das alles wert gewesen ist.«
»Wann haben Sie das Haus denn erweitert?«
Er schaute mich an, als wäre die Frage sehr merkwürdig.
»War das Hotel schon so, als Frank Parris umgebracht wurde?«
»Ach so.« Jetzt verstand er. »Die Renovierung fand 2005 statt. Wir haben zwei neue Flügel gebaut: Moonflower und Barn Owl.« Er lächelte unglücklich. »Die Namen waren Cecilys Idee. Die Mondblume blüht nach Sonnenuntergang, und auch die Eulen kommen nur nachts heraus.« Er lächelte. »Vielleicht haben Sie bemerkt, dass wir überall Eulen haben?« Er hob die Speisekarte und zeigte mir die auf den ledernen Einband geprägte Eule. »Das war auch so eine Idee von Cecily. Ihr war aufgefallen, dass Barn Owl ein Anagramm für Branlow ist. Und deshalb kam sie auf die clevere Idee, daraus unser Logo zu machen.«
Ein Schauder lief mir über den Rücken. Alan Conway war auch ein Freund von Anagrammen gewesen. In einem seiner Bücher waren zum Beispiel die Namen aller Hauptfiguren Anagramme von Londoner U-Bahn-Stationen. Es war so eine Art Spiel, das er mit seinen Leserinnen und Lesern spielte, und es verbesserte seinen Stil nur sehr bedingt.
Lawrence erzählte immer noch. »Als wir den Umbau in Angriff nahmen, haben wir natürlich auch einen Aufzug eingebaut, damit der Zugang barrierefrei wurde«, erklärte er gerade. »Und wir haben auch eine Mauer herausgeschlagen, um den Speisesaal zu erweitern.«
Das war der Raum, in dem wir jetzt saßen. Ich hatte ihn durch die kreisförmige Eingangshalle erreicht, wo auch der neue Lift war. Die Küche war am anderen Ende des Saales und erstreckte sich vermutlich bis zur Rückseite des Hotels. »Kann man eigentlich aus der Küche direkt nach oben«, fragte ich.
»Ja. Es gibt einen Lift für den Room Service und eine Wendeltreppe. Die ehemaligen Stallungen sind jetzt Unterkünfte für das Personal. Und den Swimmingpool und das Wellness-Center haben wir auch neu errichtet.«
Ich zog meinen Notizblock heraus und schrieb mir alles auf. Es bedeutete, dass derjenige, der Parris getötet hatte, Zimmer Nummer 12 auf vier verschiedenen Wegen hatte erreichen können: Es gab den Lift am Haupteingang, einen weiteren im hinteren Teil des Hotels, es gab die große Treppe in der Eingangshalle und eine Dienstbotentreppe am Hintereingang. Wenn der Täter bereits im Hotel gewesen war, dann konnte er auch aus dem 2. Stock heruntergekommen sein. Es hatte die ganze Nacht jemand am Empfang gesessen, aber es wäre vermutlich nicht allzu schwer gewesen, dort unauffällig vorbeizuhuschen.
Aber in Kreta hatte Pauline Treherne mir gesagt, dass Stefan Codrescu gesehen worden war, als er das Zimmer betrat. Warum war er so unvorsichtig gewesen?
»Ich nehme an, Sie haben nichts von Cecily gehört?«, fragte ich.
Lawrence verzog das Gesicht. »Die Polizei glaubt, man hätte sie in Norwich gesehen. Angeblich hat eine Überwachungskamera sie erfasst. Aber das macht überhaupt keinen Sinn. Da oben kennt sie niemanden.«
»Ihre Vermisstenanzeige wird von Detective Superintendent Locke bearbeitet?«
»Detective Chief Superintendent, meinen Sie. Ja. Ich muss zugeben, dass ich ihm nicht allzu viel zutraue. Er hat sich nur sehr langsam entschließen können, etwas zu unternehmen. Dabei sind ja gerade die ersten Stunden entscheidend. Auch jetzt wirkt er auf mich nicht sonderlich kompetent.« Lawrence starrte trübsinnig vor sich hin. Dann fragte er: »Haben Sie das Buch inzwischen gelesen?«
Eine gute Frage.
Vielleicht haben Sie erwartet, dass ich mir als Erstes die gründliche Lektüre des Buches von Anfang bis Ende vornehmen würde. Aber ich hatte es nicht einmal mitgebracht. Ich hatte kein einziges von Alans Büchern in Kreta. Es hingen zu viele unangenehme Erinnerungen daran. Als ich in London war, hatte ich in einer Buchhandlung danach gefragt, musste aber feststellen, dass es nicht vorrätig war. Ich habe mich schon immer gefragt, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. War das Buch so gut verkauft worden, dass keines mehr da war? Oder hatte bloß der Vertrieb nicht geklappt? Genau genommen wollte ich das Buch jetzt auch gar nicht lesen. Ich erinnerte mich noch sehr gut an die Handlung, an den Schauplatz, an den Tod des Opfers, an die verschiedenen Spuren und an den Mörder. Ich hatte auch meine Notizen noch irgendwo und die langen »Diskussionen« per E-Mail, die ich während der Redaktion mit Alan geführt hatte. (Die Anführungszeichen habe ich deshalb gesetzt, weil er nie etwas angenommen hat von dem, was ich ihm vorschlug.) Die Handlung des Romans enthielt keine Überraschungen mehr für mich. Ich kannte sie in- und auswendig. Allerdings durfte man nicht vergessen, dass Alan immer allerlei Dinge im Text versteckte: nicht nur Anagramme, sondern auch Wortspiele, Akrostichen, Akronyme und anderes. Zum Teil war das nur eine Spielerei, mit der er sich und seine Leser vergnügte. Aber gelegentlich war dahinter auch etwas anderes verborgen: die dunkle Seite seines Wesens. Es war mir inzwischen klar, dass er viele Merkmale von Branlow Hall für Atticus unterwegs übernommen hatte, aber er hatte nirgends beschrieben, was hier eigentlich im Juni 2008 geschehen war. Es gab keinen Werbefachmann, keine Hochzeit, keinen Hammer in seinem Roman. Wenn Alan bei seinem kurzen Besuch in Branlow Hall tatsächlich herausgefunden hatte, wer Parris getötet hatte, dann hatte er das womöglich in einem einzigen Wort, einem Namen oder einer Beschreibung versteckt. Irgendetwas hatte Cecilys Aufmerksamkeit geweckt, aber es war sehr unwahrscheinlich, dass es auch mir auffallen würde – jedenfalls nicht, solange ich nicht viel mehr über sie und alle anderen Leute in diesem Hotel in Erfahrung gebracht hatte.
»Noch nicht«, sagte ich, um Lawrence eine Antwort zu geben. »Ich dachte, es wäre besser, mich umzusehen und erst einmal alle hier kennenzulernen. Ich weiß ja nicht, was Alan entdeckt hat, als er hier wohnte. Je mehr ich über das Hotel erfahre, desto größer sind meine Chancen, eine Verbindung herzustellen.«
»Ja, das ist eine gute Idee.«
»Wäre es möglich, das Zimmer zu sehen, wo Stefan Codrescu damals gewohnt hat?«
»Ich bringe Sie nach dem Essen hin. Es wird jetzt von jemand anderem benutzt, aber ich hoffe, der Betreffende hat nichts dagegen.« Der Kellner kam mit den Drinks, und gleichzeitig erschien Lisa Treherne. Zumindest nahm ich an, dass sie es war. Ich hatte Fotos ihrer Schwester Cecily in der Zeitung gesehen: eine hübsche junge Frau mit Babygesicht, Schmollmund und runden Wangen. Abgesehen davon, dass sie ebenfalls blond war, sah ihr diese Frau gar nicht ähnlich. Sie trug einen etwas altmodischen Kurzhaarschnitt, ihre Figur war solide, aber sie zeigte kein Lächeln. Das Kostüm war auffallend sachlich, dazu trug sie eine billige Brille und praktische Schuhe. Am linken Mundwinkel hatte sie eine Narbe, und ich musste mir große Mühe geben, um sie nicht anzustarren. Es war eine gerade Linie, fast anderthalb Zentimeter lang. Wie ein Schnitt mit dem Messer. Wenn ich so eine Narbe hätte, würde ich sie mit Make-up zu verstecken versuchen, aber Lisa machte daraus eine Art Markenzeichen. Sie schien schlechte Laune zu haben und wollte wohl gar nicht lächeln – so als ob die Narbe sie daran hinderte.
Sie näherte sich dem Tisch wie ein Boxer, der in den Ring steigt, und noch ehe sie etwas gesagt hatte, wusste ich, dass wir nicht gut miteinander auskommen würden. »Sie sind also Susan Ryeland«, sagte sie und setzte sich. »Ich bin Lisa Treherne.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich.
»Ach, wirklich?«
»Möchtest du etwas zu trinken, Schatz?«, fragte Lawrence nervös.
»Ich habe dem Kellner schon Bescheid gesagt.« Sie blickte mir direkt in die Augen. »War das Ihre Idee, Alan Conway zu uns zu schicken?«
»Nein«, sagte ich. »Ich hatte keine Ahnung, dass er hierherkommen wollte. Ich wusste, dass er ein Buch schrieb, aber er hat mir nie etwas gezeigt, ehe er fertig war. Dass er hier gewesen ist, habe ich erst erfahren, als mich Ihr Vater in Kreta besucht hat.« Ich überlegte, ob Lisa in dem Buch vorkam. Es gibt eine Frau in Atticus unterwegs, die eine Narbe hat: eine schöne Hollywood-Schauspielerin, die Melissa James heißt. Ja, das passte zu Alan: diese unattraktive Person hier zu nehmen und das Gegenteil daraus zu machen.
Lisa schien gar nicht gehört zu haben, was ich gesagt hatte. »Wenn Cess wegen diesem Buch etwas passiert ist, dann können Sie echt stolz auf sich sein«, sagte sie.
»Ich glaube, das ist nicht fair –«, begann Lawrence.
Aber ich konnte mich durchaus selbst verteidigen. »Wo, glauben Sie, ist Ihre Schwester?«
Ich fragte mich, ob Lisa zugeben würde, dass ihre Schwester wahrscheinlich schon tot war, und damit die letzten Hoffnungen ihres Vaters vernichten würde. Ich sah, dass sie einen Moment lang in Versuchung geriet, aber so weit wollte sie doch nicht gehen. »Ich weiß es nicht. Als sie verschwunden ist, habe ich zuerst gedacht, dass sie und Ade sich gestritten hätten.«
Cess und Ade. Die Kosenamen waren nicht wirklich freundlich. Sie dienten wohl bloß der Zeitersparnis.
»Haben sie sich oft gestritten?«
»Ja –«
»Das stimmt nicht –«, versuchte sie Lawrence zu stoppen.
»Ach, komm, Dad! Ich weiß, du wolltest immer, dass sie ein perfektes Paar sind. Aiden, der perfekte Ehemann und perfekte Vater. Aber wenn du mich fragst, hat er Cess bloß geheiratet, weil sie es ihm leichtgemacht hat. Ein goldenes Lächeln. Blaue Augen. Aber niemand fragt genauer nach, was dahinter vorgeht.«
»Was heißt das genau, Lisa?«, fragte ich. Ich war überrascht, dass sie ihre Gefühle so offen zeigte.
Ein zweiter Kellner kam mit einem doppelten Whisky auf einem Silbertablett. Lisa nahm das Glas, ohne sich zu bedanken.
»Ich hab’ es einfach satt, dass Ade im Hotel herumturnt, als gehörte es ihm. Das ist alles. Vor allem, weil ich die ganzen lästigen Sachen hier machen muss.«
»Lisa ist unsere Buchhalterin«, erklärte Lawrence.
»Ich führe die Bücher. Ich mach’ die Verträge. Ich kümmere mich um die Versicherungen, das Personal und die Vorräte.« Sie trank das halbe Glas Whisky in einem Zug aus. »Ade schmust bloß mit den Gästen herum.«
»Glauben Sie, dass er Frank Parris umgebracht hat?«, fragte ich.
Lisa starrte mich verblüfft an. Ich hatte sie absichtlich provoziert, aber meine Frage war absolut logisch. Wenn Cecily umgebracht worden war, dann deshalb, weil sie etwas über den früheren Mord wusste. Daraus folgte, dass derjenige, der Frank Parris ermordet hatte, auch für ihren Tod verantwortlich war.
»Nein«, sagte sie und trank ihr Glas leer.
»Warum nicht?«
Sie sah mich mitleidig an. »Weil es Stefan war. Er hat es zugegeben. Er sitzt im Gefängnis.«
Inzwischen waren einige andere Gäste in den Saal gekommen. Es war Viertel vor sieben, und draußen schien noch die Sonne. Lawrence nahm eine der Speisekarten, die auf dem Tisch lagen. »Wollen wir jetzt bestellen?«, fragte er.
Ich hatte Hunger, aber ich wollte Lisa nicht unterbrechen. Ich wartete darauf, dass sie fortfuhr.
»Stefan Codrescu anzustellen war ein Fehler. Wir hätten ihn gleich zu Anfang wieder rausschmeißen sollen. Das hab’ ich damals auch gesagt, aber niemand wollte mir zuhören. Er war nicht nur selbst ein Verbrecher. Er war mit Verbrechern aufgewachsen. Wir haben ihm eine Chance gegeben, und er hat uns bloß ausgelacht. Er war fünf Monate bei uns, aber er hat uns vom ersten Augenblick an bestohlen.«
»Dafür haben wir keinen Beweis«, sagte Lawrence.
»Aber wir wissen es ganz genau, Daddy. Ich weiß es jedenfalls.« Sie drehte sich zu mir um. »Er war kaum ein paar Wochen da, als ich die ersten Unregelmäßigkeiten entdeckt habe. Ich weiß nicht, ob sie eine Vorstellung davon haben, was es bedeutet ein Hotel zu führen, Susan.«
Das hätte ich ihr sagen können, aber ich verzichtete lieber darauf.
»So ein Hotel ist eine Maschine mit tausend beweglichen Teilen, und das Problem besteht darin, dass man es zunächst gar nicht merkt, wenn ein paar davon fehlen. Die Maschine hört deshalb nicht auf zu laufen. Wein und Whisky. Champagner. Filetsteaks. Wechselgeld. Eigentum der Gäste: Schmuck, Uhren und Designersonnenbrillen. Bettwäsche und Handtücher. Antiquitäten. Wenn man da einen Dieb reinsetzt, dann ist das so, als ob man einem Drogensüchtigen die Schlüssel zur Apotheke gibt.«
»Als Stefan hierherkam, war er aber nie wegen Diebstahls beschuldigt worden«, erinnerte sie Lawrence, klang aber nicht sehr überzeugt.
»Was redest du, Daddy? Er hat wegen Einbruch und Körperverletzung gesessen!«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Ihr habt einfach nicht auf mich hören wollen. Ihr hört mir ja nie zu.« Lisa kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern konzentrierte ihre Energien auf mich. »Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Irgendjemand hat uns bestohlen. Aber jedes Mal, wenn ich Stefans Namen erwähnte, waren alle empört und haben sich auf mich gestürzt.«
»Am Anfang hast du ihn doch gemocht? Du hast doch eine ganze Menge Zeit mit ihm verbracht.«
»Ich habe mir Mühe gegeben. Ich habe versucht, ihn zu mögen, weil ihr das alle wolltet. Aber der einzige Grund, warum ich mich um ihn gekümmert habe, und das habe ich euch schon tausendmal erzählt, war der, dass ich sehen wollte, was er so trieb. Und ich hatte doch recht, oder nicht? Was in Zimmer zwölf passiert ist, war grauenhaft, aber zumindest hat es euch gezeigt, dass ich von Anfang an recht hatte.«
»Wie viel Geld ist eigentlich tatsächlich aus dem Zimmer von Frank Parris gestohlen worden?«, fragte ich.
»Hundertfünfzig Pfund«, sagte Lawrence.
»Und Sie glauben wirklich, dass Stefan jemanden für so einen relativ kleinen Betrag totschlagen würde? Mit einem Hammer?«
»Ich weiß nicht, ob Stefan tatsächlich jemanden töten wollte. Er hat sich mitten in der Nacht in das Zimmer geschlichen und dachte, er könnte mitnehmen, was er dort fand, ohne dass er erwischt würde. Aber der arme Mann ist aufgewacht und hat ihn zur Rede gestellt. Da hat Stefan zugeschlagen.« Lisa sah mich herausfordernd an. »Das ist beim Prozess alles geklärt worden.«
Für mich ergab das alles keinen Sinn. Wenn Stefan nicht die Absicht gehabt hatte, Frank Parris zu töten, warum hatte er dann einen Hammer dabei? Und warum hatte er das Zimmer aufgesucht, als der Bewohner dort schlief? Aber ich sagte nichts. Es gibt Leute, mit denen man sich besser nicht streitet, und Lisa gehörte dazu. Sie rief den Kellner und orderte noch einen Whisky. Ich benutzte die Gelegenheit, um mein Essen zu bestellen: bloß einen Salat und noch ein Glas Weißwein. Lawrence nahm lieber ein Steak.
»Können Sie mir sagen, was in der Nacht des Mordes geschehen ist?«, fragte ich, und schon als ich das sagte, kam ich mir etwas lächerlich vor. Die Worte klangen so altmodisch. Wenn ich sie in einem Roman gesehen hätte, hätte ich sie bestimmt wegredigiert.
Lawrence erzählte mir alles noch einmal genau: »Wir hatten dreißig Verwandte und Freunde zum Wochenende eingeladen, aber wie ich schon erwähnte, war das Hotel trotzdem geöffnet und wir hatten ein paar zahlende Gäste. Alle Zimmer waren belegt. Frank Parris hatte zwei Tage vor der Hochzeit eingecheckt. Donnerstag. Er wollte drei Nächte bleiben. Ich erinnere mich gut an ihn, denn er war ein schwieriger Gast. Von Anfang an. Er war müde, er hatte einen üblen Jetlag, und sein Zimmer gefiel ihm nicht. Er wollte ein anderes haben.«
»In welchem Zimmer war er denn ursprünglich?«
»Wir hatten ihm Zimmer sechzehn gegeben, das ist im Moonflower-Flügel. Wo Sie jetzt wohnen.«
Ich war an Zimmer 16 vorbeigekommen, als ich zu meiner Suite ging. Es lag schon auf meiner Seite der Feuertür, wo der Teppich mit den scheußlichen Wirbelmustern begann.
»Er wollte lieber im alten Teil des Hotels wohnen«, fuhr Lawrence fort. »Glücklicherweise konnten wir das arrangieren und ihm geben, was er wollte. Das ist übrigens Aidens Job: die Leute bei Laune halten. Das kann er sehr gut.«
»Der Gast, der mit Parris tauschen musste, hat sich nicht beschwert?«
»Nein. Soweit ich mich erinnere, war er ein pensionierter Oberstudiendirektor, der allein reiste. Ich glaube, er hat es gar nicht gemerkt.«
»Erinnern sie sich noch an den Namen?«
»Von dem Lehrer? Nein, aber ich kann es gern herausfinden, wenn Sie möchten.«
»Das wäre ganz nützlich. Vielen Dank.«
»Die Hochzeit war dann am Samstag. Wir haben den Gästen gesagt, dass es gewisse Einschränkungen geben würde. So haben wir zum Beispiel das Wellness-Center am Freitagabend geschlossen, damit wir draußen eine kleine Party für das Personal geben konnten. Wir wollten ein paar Drinks spendieren, damit sie das Gefühl hatten dazuzugehören, obwohl sie an der Feier selbst natürlich nicht teilnehmen konnten. Diese kleine Party fing um halb neun an, und um zehn war sie zu Ende.«
»War Stefan auch eingeladen?«
»Ja. Er war da. Aiden und Cecily waren da, Pauline und ich, Lisa –«
Dass Lisa offensichtlich ohne Partner dagewesen war, blieb in der Luft hängen.
»Es war ein sehr warmer Abend. Sie erinnern sich vielleicht, dass es eine regelrechte Hitzewelle in diesem Sommer gab.«
»Es war grässlich heiß und schwül«, sagte Lisa. »Ich habe mich so schnell wie möglich verdrückt.«
»Lisa wohnt nicht auf dem Grundstück«, sagte Lawrence, »obwohl sie das natürlich könnte. Wir haben ja über zweihundert Hektar.«
»In meinem alten Haus wohnen jetzt Aiden und Cecily«, murmelte Lisa mürrisch.
»Branlow Cottage«, sagte ich.
Lisa nickte. »Ich bin damals nach Woodbridge gezogen, da gefällt es mir besser. Ich habe die Party lange vor zehn verlassen. Ich bin nach Hause gefahren und ins Bett gegangen.«
»Den Rest der Geschichte kann Ihnen Derek erzählen«, sagte Lawrence. »Das ist der Nachtportier. Er ist so gegen zehn gekommen. Er war nicht auf der Party.«
»War er nicht eingeladen?«
»Natürlich war er eingeladen, aber Derek ist an solchen geselligen Veranstaltungen nicht so interessiert. Sie werden es schnell verstehen, wenn Sie ihn kennengelernt haben. Er war an der Rezeption, als der Mord stattfand.«
»Wann war das denn?«
»Nach Angaben der Polizei wurde Parris ungefähr um null Uhr dreißig am Samstagmorgen getötet.«
»Sind Sie da noch im Hotel gewesen?«
»Nein. Pauline und ich haben ein Haus in Southwold gekauft, als wir uns aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen haben. Wir sind lange vor Mitternacht zu Hause gewesen.«
»Aber wir waren alle am nächsten Tag wieder da, als die Hochzeit stattfand«, sagte Lisa. »Es war ein wunderschöner Tag. Natürlich nur, bis der Mord entdeckt wurde. Der arme Aiden! Ich glaube, so etwas hatte er nicht erwartet.«
»Also bitte, Lisa, das reicht jetzt allmählich«, protestierte Lawrence.
»Ich sage ja nur, dass Cess ein Hauptgewinn für ihn war. Was hat er denn gemacht, ehe er sie kennenlernte? Gar nichts!«
»Er war Immobilienmakler. Er hat sehr gut verdient. Und er ist eine große Hilfe hier im Hotel, auch wenn dir das nicht so vorkommt«, sagte Lawrence. »Auf jeden Fall scheint es mir nicht angemessen, in dieser Art über deinen Schwager zu sprechen, solange wir uns alle solche Sorgen um Cecily machen.«
»Ich mache mir doch auch Sorgen um sie!«, rief Lisa. Zu meiner Überraschung sah ich Tränen in ihren Augen und wusste, dass sie die Wahrheit sagte. Der Kellner kam mit ihrem zweiten Whisky, und sie riss das Glas geradezu vom Tablett. »Natürlich mach’ ich mir Sorgen. Sie ist meine Schwester! Und wenn ihr etwas passiert ist … das ist so schrecklich, dass ich gar nicht dran denken kann.«
Sie starrte in ihren Drink. Alle drei schwiegen wir.
»Was erinnern Sie denn von der Hochzeit?«, fragte ich.
»Es war eine Hochzeit wie jede andere. Wir haben hier dauernd Hochzeiten, das sind unsere Umsatzbringer. Brot und Butter in unserem Geschäft.« Lisa holte tief Luft. »Der Gottesdienst fand im Rosengarten statt. Ich war die Trauzeugin. Der Standesbeamte kam aus Ipswich. Das Hochzeitsessen wurde in einem Festzelt auf dem großen Rasen serviert. Ich saß neben Aidens Mutter, die extra aus Glasgow gekommen war.«
»War sein Vater auch da?«
»Sein Vater ist gestorben, als Aiden noch ein kleiner Junge war. Krebs. Er hat eine Schwester, aber die war nicht eingeladen. Es war eigentlich sonst niemand von seiner Familie da. Mrs MacNeil ist eine süße alte Dame, eine richtige Schottin. Ich dachte gerade, wie langweilig das alles war, als ich plötzlich einen Schrei hörte, und zwei Minuten später kam Helen ins Zelt gerannt. Sie sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen.«
»Helen?«
»Sie war unsere Hausdame damals. Es stellte sich heraus, dass eins der Zimmermädchen gerade Frank Parris gefunden hatte. Sein Schädel war eingeschlagen und sein Gehirn überall auf dem Kissen verspritzt.«
Lisa schien die Geschichte fast zu genießen. Trotz allem, was sie zuvor gesagt hatte, freute sie sich offensichtlich, dass der Mörder den großen Tag ihrer Schwester so gründlich versaut hatte. Als ich sie ansah, fragte ich mich, ob sie noch nüchtern war.
»Das Zimmermädchen hieß Natascha«, unterbrach Lawrence. »Sie hatte das Zimmer herrichten wollen, als sie die Leiche entdeckte.«
Lisa trank ihren Whisky in einem Zug aus. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie noch rausfinden wollen, Susan. Stefan hat das Verbrechen gestanden, und jetzt kriegt er, was er verdient. Es wird bestimmt noch ein paar Jahre dauern, bevor sie auch nur daran denken, ihn rauszulassen, und das geschieht ihm ganz recht. Und Cess wird auch wieder auftauchen, wenn es ihr passt. Sie steht gern im Mittelpunkt. Wahrscheinlich ist das jetzt nur so eine dramatische Inszenierung von ihr.«
Lisa stand unsicher auf, und mir wurde klar, dass sie schon getrunken haben musste, ehe sie zu uns in den Speisesaal kam. Die beiden doppelten Whiskys hatten ihr bloß den Rest gegeben. »Ich lasse euch zwei jetzt allein«, sagte sie.
»Lisa, du musst doch was essen.«
»Ich hab’ keinen Hunger.« Sie beugte sich vor und starrte mir ins Gesicht. »Sie sind für Cecily verantwortlich«, knurrte sie. »Sie haben das verdammte Buch gedruckt. Jetzt sehen Sie zu, dass Sie Cecily finden!«
Lawrence sah ihr mutlos nach, als sie sich ihren Weg durch den Speisesaal suchte. »Tut mir leid«, sagte er. »Lisa arbeitet sehr hart. Sie trägt die ganze Verantwortung und muss den Laden am Laufen halten. Ich glaube, manchmal wird ihr das alles zu viel.«
»Sie scheint ihre Schwester nicht übermäßig zu mögen.«
»Ach, das sollten Sie nicht überbewerten. Lisa übertreibt oft ein wenig.« Er versuchte mich zu überzeugen, aber er klang selbst nicht sehr überzeugt. »Angefangen hat es, als sie noch ganz klein waren«, gab er schließlich zu. »Sie haben immer stark rivalisiert.«
»Wo kommt denn die Narbe her?«
»Ich habe mir schon gedacht, dass Sie danach fragen werden.« Er zögerte, und ich wartete. »Ich fürchte, daran war Cecily schuld. Es war natürlich ein Unfall, aber …« Er holte tief Luft. »Lisa war zwölf und Cecily zehn, als sie einen Streit hatten. Cecily hat ein Küchenmesser nach ihrer Schwester geschmissen. Sie wollte sie gar nicht treffen. Sie war so ein dummes, kindisches Ding. Ein Wutanfall eben. Aber die Klinge traf Lisa fast in den Mund und … Na ja, Sie haben das Ergebnis gesehen. Cecily war so erschrocken.«
»Worüber haben sie sich denn gestritten?«
»Ist das nicht egal? Vielleicht über Jungs. Sie waren immer eifersüchtig. Das findet man ja häufig bei jungen Mädchen. Cecily war schon immer die hübschere von den beiden, und jedes Mal, wenn sie einen Freund hatte, war Lisa wütend. Das ist auch der Grund, warum sie Aiden nicht leiden kann. Alles, was sie über ihn sagt, ist bloß Eifersucht. Der Junge ist völlig in Ordnung. Ich komme sehr gut mit ihm aus.«
Lawrence hob sein Glas. »So sind Mädchen nun einmal.«
Er wollte wohl mit mir anstoßen, aber ich ließ mein Glas stehen. Vielleicht waren Mädchen tatsächlich so, aber nicht immer gleich borderline. Lisa war von Cecily entstellt worden. Sie hegte einen kindischen Groll gegen Aiden. Und dieser Groll konnte sich – gemixt mit sexueller Eifersucht – durchaus auch auf Stefan Codrescu erstreckt haben.
Kindisch oder mörderisch?
Oder beides?