Martlesham Heath

Endlich war ich auf dem Weg nach London. Es waren noch einige E-Mails gekommen, allerdings nicht von Andreas. Das überraschte mich nicht. Er antwortete nie sehr schnell und war besonders zurückhaltend, wenn es um persönliche oder emotionale Dinge ging. Über so etwas musste er lange nachdenken.

Aber James Taylor freute sich, dass ich wieder in England war. Ja, er würde sich gern mit mir treffen, schrieb er, und alles mitbringen, was er über Atticus unterwegs finden konnte. Er schlug vor, im Le Caprice zu Abend zu essen, und ich hoffte bloß, dass er die Rechnung bezahlen würde. Außerdem hatte ich eine Verabredung mit Lionel Corby in dem Fitness-Studio, wo er jetzt arbeitete. Michael Bealey hatte mich »auf einen schnellen Drink« im Soho House eingeladen. Schließlich hatte ich noch Craig angerufen. Es konnte ja sein, dass ich ein paar Tage länger in London blieb, und ich hatte keine Lust, wieder im Premier Inn zu übernachten. In seiner Mail hatte er mir sein Gästezimmer angeboten, und ich erinnerte mich gern an das hübsche Haus an der Ladbroke Grove. Das Geld dafür stammte nicht etwa von seinen Büchern, sondern von seiner früheren Karriere als Investmentbanker. Craig zeigte sich gern bereit, mir Unterschlupf zu gewähren, und es war tröstlich, mit ihm zu telefonieren. Aber warum fühlte ich mich so schuldig, als ich dann einhängte? Das war doch lächerlich. Alles, was ich wollte, war ein Bett für ein paar Nächte. Und vielleicht ein Abendessen und eine gemeinsame Flasche Wein.

In Woodbridge legte ich noch einen Zwischenstopp ein. Im Hotel gingen meine Klamotten gerade so durch, und Katie war es natürlich egal, wie ich aussah. Aber es war völlig undenkbar, dass ich ins Caprice oder auch nur in Craigs Haus in den Sachen marschierte, die ich aus Kreta mitgebracht hatte. Am Town Square in Woodbridge gab es ein paar überraschend gute Boutiquen, und am Ende hatte ich ein knielanges Cocktailkleid und eine leichte Baumwolljacke von Ralph Lauren gekauft, die 25 Prozent herabgesetzt war. Ich hatte wieder mal mehr ausgegeben, als ich beabsichtigt hatte, aber dann dachte ich an das Geld, das mir Lawrence Treherne schuldete, und hoffte nur, es würde vor meiner nächsten Kreditkartenabrechnung eintreffen.

Ich verstaute die Einkaufstüten im Kofferraum und machte mich erneut auf den Weg Richtung London. Aber kurz hinter Woodbridge kam ich zu einem Kreisverkehr und einem Wegweiser nach Martlesham Heath. Spontan blinkte ich und nahm dann die dritte Ausfahrt. Ob es mir gefiel oder nicht, es gab noch ein Gespräch, das ich führen musste. Ich durfte es nicht länger hinausschieben. Das Hauptquartier der Suffolk Constabulary befand sich in einem richtig hässlichen modernen Gebäude, das ein wenig abseits der Hauptstraße lag. Es war ein dicker, schwarzer Betonklotz mit sehr viel Panzerglas und ohne jeglichen architektonischen Reiz. Man fragte sich, was die guten Leute von Martlesham Heath wohl verbrochen hatten, um diese Brutalität in ihrem Dorf ertragen zu müssen – und noch dazu das scheußliche Forschungszentrum der British Telecom, das auf der anderen Seite den Himmel zerkratzte. Ich hoffte nur, dass dabei wenigstens ein paar Arbeitsplätze für die Leute im Dorf heraussprangen.

Ich betrat die Eingangshalle, meldete mich am Empfang und bat, mit Detective Chief Superintendent Locke sprechen zu dürfen. Nein – ich hatte keinen Termin. Worum es sich handelte? Das Verschwinden von Cecily Treherne. Die uniformierte Beamtin sah mich zweifelnd an, griff aber zum Telefon, während ich mich auf einen der Plastikstühle setzte und in einer Ausgabe von Suffolk Life blätterte, die kaum älter war als fünf Monate. Ich war mir keineswegs sicher, dass Locke mich empfangen würde, und die Beamtin ließ sich nicht anmerken, ob er überhaupt da war. Deshalb war ich sehr verblüfft, als er nach wenigen Minuten plötzlich aus dem Aufzug trat und mit solcher Entschlossenheit auf mich zukam, dass es mich nicht erstaunt hätte, wenn er mich am Kragen gepackt und sofort eingesperrt hätte. So waren nun mal seine Auftritte: Er schien immer am Rand der Gewaltanwendung zu stehen, als hätte er sich bei den Verbrechern, mit denen er zu tun hatte, mit einem Gewaltvirus angesteckt. Ich wusste, dass er mich nicht mochte. Das hatte er schon bei unserer ersten Begegnung ganz klar gemacht, aber als er mich jetzt ansprach, klang er fast amüsiert.

»Ms Ryeland! Ich habe mir schon gedacht, dass es kein Zufall war, als ich Sie im Hotel gesehen habe, und aus irgendeinem Grund bin ich auch nicht überrascht, dass Sie hier auftauchen. Na schön! Fünf Minuten habe ich Zeit. Hier unten gibt es ein Zimmer, in dem wir reden können.«

Ich hatte ihm Unrecht getan. Er hatte mich also doch gesehen, als er in Branlow Hall an mir vorbeistürmte. Er hatte mich bloß nicht zur Kenntnis genommen.

Er führte mich in einen leeren, seelenlosen Raum, der vollkommen quadratisch war. In der Mitte standen ein Tisch und vier Stühle. Das Fenster zeigte ein paar von den Bäumen, die um das Haus herumstanden. Locke hielt mir die Tür auf und schloss sie, als ich mich setzte.

»Wie gehts Ihnen?«, fragte er. Das überraschte mich.

»Danke, sehr gut.«

»Ich habe gehört, was Ihnen passiert ist, nachdem Sie das letzte Mal hier in der Gegend waren und den Tod von Alan Conway zu klären versuchten. Sie wären fast umgebracht worden.« Er wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger. »Ich hatte Ihnen ja gesagt, Sie sollten sich da lieber raushalten.«

Daran konnte ich mich zwar nicht erinnern, aber einen Streit wollte ich deswegen nicht anfangen.

»Was haben Sie denn diesmal vor? Nein. Sie brauchen es mir gar nicht zu sagen. Aiden MacNeil hat mich bereits angerufen, um sich zu beschweren. Komisch. Ich hätte gedacht, Alan Conway hat Ihnen schon Ärger genug gemacht, aber Sie scheinen sich nicht von ihm trennen zu können.«

»Ich würde eher sagen, dass er mich nicht in Ruhe lässt, Detective Chief Superintendent.«

»Er war ein mieses kleines Schwein, als er noch lebte, und er ist immer noch ein mieses Schwein, obwohl er jetzt tot ist. Glauben Sie wirklich, er hätte etwas in diesem Buch versteckt? Wieder mal eine geheime Botschaft? Diesmal über Frank Parris?«

»Haben sie es gelesen?«, fragte ich.

»Ja.«

»Und?«

Locke streckte seine Beine aus und überlegte. Mir fiel auf, dass er ungewöhnlich höflich, ja, beinahe freundlich war. Andererseits war er eigentlich immer nur auf Alan Conway wütend gewesen, und das hatte auch seinen Grund. Alan hatte ihn erst um Hilfe gebeten und dann als komische Figur in seinem Roman verbraten. Vor allem hatte er Lockes Ehefrau zu einer grotesken Karikatur gemacht. Hatte Locke mir jetzt alles vergeben, weil Alan inzwischen tot war? Glücklicherweise kam er in Atticus unterwegs gar nicht vor.

»Das Buch ist der übliche Blödsinn«, sagte er ruhig. »Sie kennen ja meine Ansicht über Kriminalromane.«

»Die haben Sie deutlich artikuliert«, bestätigte ich. Ich wollte das alles nicht noch einmal hören, aber das ersparte der Detective Chief Superintendent mir nicht.

»Romane wie die von Alan Conway haben überhaupt nichts mit dem wirklichen Leben zu tun, und wenn die Leute etwas anderes glauben, dann kann man ihnen nicht helfen. Es gibt keine Privatdetektive, außer solchen, die hinter schlecht erzogenen Teenagern her spionieren oder Ihnen erzählen können, wen Ihr Ehemann gerade vögelt. Morde finden auch nur selten in einem strohgedeckten Cottage oder prunkvollen Schlössern statt. Atticus unterwegs! Erzählen Sie mir irgendetwas aus diesem Buch, das kein völliger Blödsinn ist! Diese Hollywood-Schauspielerin! Die Geschichte mit dem Diamanten. Das Messer auf dem Tisch im Flur. Ich bitte Sie! Sobald man von einem Messer auf einem Tisch liest, weiß man sofort, dass es früher oder später bei irgendwem in der Brust steckt.«

»Das sagt Tschechow auch.«

»Wie bitte?«

»Der russische Dichter. Er sagt, wenn im ersten Akt eine Pistole an der Wand hängt, dann muss sie im zweiten Akt schießen. Damit wollte er sagen, dass jedes Element in einer Geschichte eine Funktion haben muss.«

»Hat er auch gesagt, dass die Geschichte unglaubwürdig und das Ende vollkommen lächerlich sein muss?«

»Sie haben die Lösung also nicht erraten?«

»Ich hab’ es nicht mal versucht. Ich habe das Buch gelesen, weil ich dachte, es hätte vielleicht mit dem Verschwinden von Cecily Treherne zu tun, aber es hat sich herausgestellt, dass es totale Zeitverschwendung war.«

»Wir haben immerhin eine Million Exemplare verkauft.« Ich wusste selbst nicht, warum ich Alan Conway verteidigte. Aber vielleicht verteidigte ich mich nur selbst.

»Nun ja, meine Ansichten darüber kennen Sie, Ms Ryeland. Sie machen aus Verbrechen eine Art Spiel, und bitten alle Leute, sich daran zu beteiligen. Wie heißt der Polizeibeamte in Atticus unterwegs? Hare. Das soll wohl heißen, dass er ein Hasenhirn hat. Ständig macht er alles falsch.« Locke schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie müssen sehr zufrieden mit sich sein. Eine Million Bücher mit kindischem Quatsch zu verbreiten, die Verbrechen verharmlosen und den Glauben an Recht und Gesetz untergraben.«

»Sie haben Ihre Meinung, Detective Chief Superintendent. Herzlichen Glückwunsch zur Beförderung übrigens, aber was die Kriminalromane angeht, irren Sie sich. Ich glaube nicht, dass Alans Bücher irgendjemand geschadet haben – außer mir vielleicht. Die Leute haben ihren Spaß gehabt und wussten genau, was sie wollten. Sie waren nicht auf das wirkliche Leben aus, sondern wollten es mal für ein paar Stunden vergessen. Und das kann ich sehr gut verstehen. Vierundzwanzig Stunden am Tag gibt es Nachrichten. Echte und falsche. Die Politiker beschimpfen sich gegenseitig und nennen sich Lügner und Heuchler, obwohl jeder weiß, dass sie selbst Lügner und Heuchler sind. Vielleicht ist es da ganz tröstlich, wenn man ein Buch lesen kann, das einem die Welt erklärt, in der es sich abspielt, das eine Moral hat und ein Stück Wahrheit behauptet.«

Er hatte keine Lust, darüber zu diskutieren. »Warum sind Sie gekommen, Ms Ryeland?«, fragte er.

»Ich hatte gehofft, dass Sie mir vielleicht die Ermittlungsakten zeigen, die Sie damals angelegt haben. Der Mord liegt ja schon acht Jahre zurück und ist wohl kaum noch von irgendeinem Interesse für irgendwen. Mich interessieren die Laborberichte, die Verhöre … nun ja, einfach alles.«

Er schüttelte den Kopf. »Das kommt gar nicht in Frage.«

»Warum nicht?«

»Weil das vertrauliches Material ist! Das ist Polizeiarbeit. Glauben Sie, wir könnten jedem, der hier an die Tür klopft, solche sensiblen Informationen aushändigen?«

»Aber was ist, wenn Stefan Codrescu es gar nicht getan hat?«

Das war der Punkt, an dem Locke mit seiner Geduld am Ende war. »Hören Sie!«, sagte er, und seine Stimme nahm einen drohenden Ton an. »Ich habe damals die Ermittlung geleitet. Was Sie da sagen, ist ganz einfach eine Beleidigung. Sie waren nicht mal in der Nähe, als der Mord stattfand. Sie haben in ihrem warmen Büro gesessen und zugesehen, wie Ihr Goldjunge ein gut verkäufliches Lügenmärchen daraus gemacht hat. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass Codrescu sein Opfer getötet hat, weil er dringend Geld für seine Spielsucht brauchte. Das hat er genau in diesem Zimmer hier zugegeben, bloß einen Stock höher, und sein Rechtsanwalt saß die ganze Zeit neben ihm. Es gab weder Daumenschrauben noch Drohungen. Codrescu war ein Berufsverbrecher, und es war verrückt, ihn überhaupt im Hotel anzustellen. Wenn Sie sich so für Verbrechen interessieren, dann kann ich Ihnen eine Geschichte erzählen, eine wahre Geschichte: Einen Monat vor dem Mord in Branlow Hall habe ich bei einem Team gearbeitet, das eine rumänische Bande in Ipswich verhaftet hat. Das war eine reizende Truppe von Bettlern, Einbrechern und Straßenräubern, die vor Gewalt nie zurückgeschreckt sind. Sie kamen alle von einer Verbrecherschule. Das ist kein Witz. Sie hatten sogar Lehrbücher, in denen erklärt wurde, wie man seine DNA verdeckt, mechanische und digitale Spuren verwischt und so weiter. Das meiste Geld haben sie mit einem Bordell mit Zwangsprostituierten gemacht. Das jüngste Mädchen dort war gerade mal 14 Jahre alt. Vierzehn! Sie war ins Land geschmuggelt worden und musste jede Nacht drei oder vier Freier bedienen. Wenn sie sich weigerte, wurde sie geschlagen oder man ließ sie hungern und gab ihr nichts zu trinken. Ist das vielleicht etwas, was ihre Leser genießen würden? Die fortgesetzte Vergewaltigung eines 14-jährigen Kindes? Vielleicht hätte sich Atticus Pünd darum mal kümmern sollen!«

»Ich weiß nicht, warum Sie mir das erzählen.«, sagte ich. »Natürlich ist es scheußlich. Aber hatte Stefan Codrescu damit etwas zu tun?«

»Nein.« Er starrte mich an, als hätte ich die Pointe verpasst.

»Dann wollen Sie also sagen, dass er Frank Parris ermordet hat, weil er Rumäne war?«

Locke stieß ein Knurren aus und sprang so schnell auf, dass sein Stuhl umgekippt wäre, wenn er nicht festgeschraubt gewesen wäre. »Verschwinden Sie einfach!«, sagte er. »Und verlassen Sie Suffolk.«

»Ich war gerade auf dem Weg nach London.«

»Das ist gut; denn wenn ich den Eindruck habe, dass Sie meine Ermittlungen behindern, dann werde ich Sie verhaften.«

Ich stand jetzt ebenfalls auf. Aber ich ging noch nicht. »Was glauben Sie denn, was Cecily passiert ist?«, fragte ich.

Er starrte mich wütend an. »Ich weiß nicht«, sagte er schließlich. »Ich nehme an, dass sie tot ist und sie jemand ermordet hat. Vielleicht war es ihr Ehemann. Vielleicht hatten sie einen Streit und er hat sie erstochen. Aber wir haben weder an seiner Person noch sonst irgendwo ihre DNA gefunden, wo sie nicht hingehört. Vielleicht war es dieser komische Duckmäuser, der bei seiner Mutter wohnt und nachts am Empfang arbeitet. Vielleicht war er scharf auf sie. Vielleicht war es auch einfach ein völlig Fremder, der zufällig am River Deben entlangging, eine Erektion in der Hose und kranken Scheiß im Gehirn hatte. Vielleicht werden wir’s nie erfahren. Aber ich kann Ihnen sagen, wer es nicht war: Es war bestimmt niemand, der in einem dämlichen Krimi auftaucht, der vor acht Jahren geschrieben und von Ihnen verlegt wurde. Kapieren Sie das endlich, und fliegen Sie wieder nach Hause! Hören Sie auf, Fragen zu stellen. Das ist meine letzte Warnung.«