Cecily Treherne

Es war schon spät, als ich wieder in der Ladbroke Grove ankam, aber schlafen kam nicht in Frage. Ich kippte den Inhalt der Plastiktüte, die James mir gegeben hatte, aufs Bett. Es gab einen kompletten, in eine Mappe gebundenen Ausdruck von Atticus unterwegs mit vielen Randnotizen, verschiedene Notizbücher, ein paar Fotografien, einige Zeichnungen, Zeitungsausschnitte über den Mord in Branlow Hall (darunter auch die aus der East Anglian Daily Times, die ich schon kannte), weitere Computerausdrucke und drei USB-Sticks. Als ich dieses üppige Angebot sah, war ich ganz sicher, dass die Antworten, nach denen ich suchte, direkt vor meiner Nase lagen. Wer hatte Frank Parris ermordet, und wo war Cecily Treherne? Dieses spezielle Beweismaterial hatte noch nicht mal die Polizei gesehen, aber wo sollte ich anfangen? Das Manuskript war, soweit ich sehen konnte, ein zweiter Entwurf und hätte wahrscheinlich nur einen Archivar oder sehr verzweifelten Doktoranden interessiert. Der erste Satz des Romans hatte ursprünglich offenbar folgendermaßen gelautet: Tawleigh-on-the-Water war ein kleines Dorf, das lediglich einen engen Hafen und zwei schmale Gassen umfasste, die von vier verschiedenen Gewässern umgeben waren. Alan hatte drei Wörter angestrichen: klein, eng und schmal, und die hätte ich auch angemerkt. Das war alles zu klein, eng und schmal für einen einzigen Satz. Am Ende hatte er das alles gestrichen und später verwendet. Die anderen Änderungen waren so ähnlich. Es gab nichts, was mit dem Mord zu tun hatte. Die Notizbücher waren für die Entstehungsgeschichte durchaus interessant. Ich erkannte Alans saubere, etwas verkrampfte Handschrift und die blassblaue Tinte, die er bevorzugte. Es gab Dutzende von Seiten, die mit Ideen, Fragen, Pfeilen, Verweisen und durchgestrichenen Wörtern bedeckt waren.

Algernon weiß von dem Testament

Erpresst ihn?

Jasons One-night stand mit Nancy

60

Slip aus der Kommode gestohlen

Einige der Namen hatten sich später noch verändert, aber die meisten dieser Ideen waren im Roman aufgetaucht. Alan hatte auch detaillierte Grundrisse von Branlow Hall skizziert. Er hatte es Stein um Stein auseinandergenommen und nach Devon versetzt, und daraus war dann das Moonflower Hotel geworden. Wie in all seinen Büchern gab es das Dorf mit dem Schauplatz des Mordes nicht in der Wirklichkeit. Aber wenn ich die von ihm skizzierten Landkarten ansah, hatte ich den Eindruck, dass es irgendwo an der Küste südlich von Appledore sein sollte. Die Computerausdrucke stammten größtenteils vom besten Freund des Autors: Wikipedia. Es handelte sich um Artikel über berühmte Diamanten, das Kino im Vereinigten Königreich, die Geschichte von Saint-Tropez, den Homicide Act vom 21. März 1957 und andere Motive, die ich aus dem Roman kannte. Einer der drei USB-Sticks enthielt Fotos der Leute, mit denen Alan gesprochen hatte: Ich erkannte Lawrence und Pauline Treherne, Lisa und Cecily, Aiden MacNeil und Derek. Ein anderes Bild zeigte eine untersetzte Frau mit kurzgeschnittenem Haar und engstehenden Augen, die ein schwarzes Kleid und eine weiße Schürze trug. Ich nahm an, dass es sich um Natascha Mälk handelte, das estnische Zimmermädchen, das die Leiche gefunden hatte. Ein sportlicher junger Mann, wahrscheinlich Lionel Corby, hatte vor dem Eingang des Wellness-Centers posiert. Es gab auch Fotos vom Anwesen: Zimmer 12, die ehemaligen Stallungen, die Bar, den Rasen, wo die Hochzeit stattgefunden hatte und so weiter. Ich fand es irgendwie merkwürdig, als ich merkte, dass ich von Anfang an seinen Spuren gefolgt war.

James hatte auch ein altmodisches, auf Papier abgezogenes Foto beigelegt, auf dem ich Alan erkannte. Er saß mit zwei anderen in einem offensichtlich teuren Restaurant, wahrscheinlich in London. Neben ihm war ein sehr viel jüngerer James Taylor zu sehen. Auf der anderen Seite saß ein Mann mit lockigem grauem Haar und einer tiefen Sonnenbräune, der eine Samtjacke trug. Das musste Frank Parris sein. War James an diesem Abend mit Frank oder mit Alan zusammen gewesen? Schwer zu sagen. Die drei saßen sehr dicht beieinander und lächelten.

Ich hatte zunächst angenommen, dass ein Kellner das Foto gemacht hatte, aber als ich genauer hinsah, stellte ich fest, dass die Perspektive nicht stimmte. Die Kamera war viel zu weit unten und auch zu nahe gewesen. Der Tisch war für vier Personen gedeckt, und offensichtlich hatte die vierte Person auch das Foto gemacht. War es Leo gewesen, der Stricher, den James erwähnt hatte? Zwei Männer und zwei süße Jungs. Es schien durchaus möglich.

Plötzlich hörte ich unten die Haustür ins Schloss fallen. Craig war aus dem Theater zurück. Ich hatte den Vorhang zugezogen und nur die Nachttischlampe angeknipst, und als ich jetzt merkte, dass ich den Atem anhielt, wurde mir klar, dass diese Vorsichtsmaßnahmen kein Zufall gewesen waren. Ich wollte wohl nicht gestört werden. Auch nicht von Craig. Ich hörte, wie er die Treppen heraufkam und in seinem Zimmer verschwand. Dann erst wagte ich wieder zu atmen.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit den beiden anderen USB-Sticks zu. Der eine enthielt die Interviews mit Lawrence, Pauline und Lisa. Der andere interessierte mich mehr. Ich steckte ihn in meinen Laptop, und richtig: Es war genau das, was ich gehofft hatte: Cecily Treherne. Ich setzte die Kopfhörer auf. Ich war sehr nervös. Ich wusste ja nicht, ob Cecily noch lebte oder schon tot war. Aber sie war der Grund, warum ich hier war, und ich hatte sie ständig in meiner Nähe gespürt, seit ich in Suffolk eingetroffen war. Wollte ich jetzt wirklich ihre Stimme hören? Der Gedanke war sehr makaber. Es konnte ja sein, dass dies alles war, was noch von ihr übrig war. Alan Conway war mit Sicherheit eine Geisterstimme, und ich hatte eigentlich keine große Lust, über das Grab hinaus von ihm zu hören. Aber was in diesem Interview gesagt worden war, musste ich unbedingt wissen. Und zwar sofort. Ich hätte es nicht ausgehalten, bis morgen damit zu warten.

Ich bewegte den Cursor und drückte auf PLAY.

Eine lange Pause. Dann hörte ich sie. Es war schade, dass es damals noch keine Videokameras in den Handys gegeben hatte, denn ich hätte sie gern auch gesehen. Was hatte Cecily an? Wie sah sie aus, wenn sie sich bewegte? Und wo hatten die beiden sich aufgehalten? Irgendwo im Hotel, wie es schien, aber sicher konnte ich mir dessen nicht sein.

Alan benahm sich so höflich, wie er nur konnte. Ich musste fast lachen, als ich seine Stimme hörte. Er verstand es zu schmeicheln und konnte durchaus seinen Charme spielen lassen, wenn er es für nötig hielt, das wusste ich aus Erfahrung. Allerdings waren solchen Nettigkeiten in meinem Falle stets Beschwerden oder unerfüllbare Wünsche gefolgt. Dass ich ihn nicht sehen konnte, war mir ganz recht. Fast alle meine Gespräche mit ihm hatten am Telefon stattgefunden, und so kannte ich ihn am besten. Bei Cecily war es anders. Sie wurde hier zum ersten Mal lebendig für mich, wenn auch nur halb. Sie hatte eine ähnliche Stimme wie ihre Schwester Lisa, aber sie klang wie eine nette Person, warmherzig, freundlich und arglos. Sich vorzustellen, dass dieses Gespräch vor acht Jahren stattgefunden hatte, war schwer. Die Stimmen waren ganz nah. Ich musste daran denken, wie es gewesen war, als meine Eltern starben: Das erste, was ich vergessen hatte, waren die Stimmen. Ich wusste nicht mehr, wie es geklungen hatte, wenn sie mit mir sprachen.

So etwas konnte heute nicht mehr passieren. Die moderne Technologie hat das Wesen des Todes verändert.

Alan:  Guten Tag, Mrs MacNeil. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit mir zu sprechen.

Cecily (lacht): Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass ich jetzt Mrs MacNeil bin. Bitte nennen Sie mich doch einfach Cecily.

Alan:  Ah ja. Natürlich. Wie waren die Flitterwochen?

Cecily:  Nicht ganz einfach, nach allem, was passiert war. Wir konnten ja erst zwei Wochen später fliegen, aber wir hatten ein wunderschönes Hotel. Sind Sie mal in Antigua gewesen?

Alan:  Nein.

Cecily:  Nelson’s Bay. Die Ferien haben wir wirklich gebraucht.

Alan:  Jedenfalls sind Sie fabelhaft braun geworden. Die Sonne hat Ihnen bestimmt gutgetan.

Cecily:  Vielen Dank.

Alan:  Ich will Sie gar nicht lange aufhalten. Nur ein paar Fragen.

Cecily:  Das ist okay. Heute ist es ja ziemlich ruhig. Wie gefällt Ihnen das Zimmer?

Alan:  Das ist sehr nett. Das ganze Hotel ist sehr schön.

Cecily:  Vielen Dank.

Alan:  Wussten Sie, dass meine Frau ein Ferienhaus bei Ihnen gemietet hat?

Cecily:  Welches denn?

Alan:  Oaklands.

Cecily:  Ach, ich wusste gar nicht, dass Sie und Melissa …

Alan:  Wir haben uns letztes Jahr getrennt.

Cecily:  Oh, das tut mir leid. Wir haben ein- oder zweimal miteinander geredet. Ich treffe Melissa manchmal im Wellness-Center.

Alan:  Keine Sorge! Die Scheidung war sehr freundschaftlich, und ich bin froh, dass es ihr hier so gut gefällt. Ich hoffe, es beunruhigt Sie nicht, über … die Ereignisse zu reden.

Cecily:  Nein. Es ist jetzt über einen Monat her, und wir haben Zimmer 12 komplett leergeräumt. In Hotels passieren so viele schlimme Sachen. Es war fast wie in diesem Film, The Shining. Haben Sie den je gesehen? Ich habe Frank Parris kaum kennengelernt, und zum Glück habe ich auch nicht in das Zimmer geschaut. Deshalb macht es mir nicht allzu sehr zu schaffen. Tut mir leid, ich wollte nicht pietätlos sein. Ich weiß ja: Er war ein Freund von Ihnen.

Alan:  Ich hatte ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen. Wir kannten uns aus London.

Cecily:  Und jetzt wohnen Sie in Framlingham?

Alan:  Ja.

Cecily:  Aiden hat gesagt, dass Sie Schriftsteller sind …

Alan:  Ja. Ich habe zwei Bücher veröffentlicht: Atticus Pünd ermittelt und Nachts kommt das Böse.

Cecily:  Ich fürchte, die habe ich nicht gelesen. Ich habe so wenig Zeit.

Alan:  Die Bücher waren ziemlich erfolgreich.

Cecily:  Wollen Sie auch über uns schreiben?

Alan:  Nein, nein. Die Absicht habe ich nicht. Wie ich schon Ihren Eltern erklärt habe, will ich nur wissen, was eigentlich passiert ist. Frank hat mir sehr geholfen, als ich mich zu orientieren versuchte, und ich finde, das bin ich ihm schuldig.

Cecily:  Es wäre mir gar nicht recht, wenn ich in einem Buch auftauchen würde.

Alan:  Leute, die ich kenne, lasse ich nie in meinen Büchern auftauchen. Und auf keinen Fall ohne ihre Erlaubnis. Ich schreibe ja keine True-Crime-Geschichten.

Cecily:  Na, dann ist es wahrscheinlich in Ordnung. Glaube ich.

Alan:  Ja. Ich habe gehört, die Polizei hat jemand verhaftet?

Cecily:  Ja, Stefan.

Alan:  Was können Sie mir über ihn sagen?

Cecily:  Was wollen Sie denn wissen?

Alan:  Waren Sie überrascht, dass man ihn verhaftet hat?

Cecily:  Ja, das war ich tatsächlich. Ich war schockiert. Wissen Sie, meine Eltern haben immer junge Straftäter in unserem Hotel beschäftigt. Ich finde das eine wunderbare Idee. Man muss diesen jungen Leuten doch helfen. Ich wusste, dass Stefan Ärger mit der Polizei gehabt hatte, aber das war doch nicht seine Schuld. Er hatte ja nie eine Chance. Man muss sich nur mal vorstellen, in welchen Verhältnissen er aufwachsen musste. Aber hier im Hotel war er immer sehr dankbar und fleißig, und ich glaube, er hat ein gutes Herz. Ich weiß, meine Schwester mochte ihn nicht, aber das lag nur daran, dass er nicht tun wollte, was sie von ihm verlangte.

Alan:  Und was war das?

Cecily:  Sie dachte, er arbeitet nicht genug. Außerdem dachte sie, dass er gestohlen hätte. Aber das hätte auch jeder andere sein können, Lionel oder Natascha oder sonst jemand. Sie hat ihn nur schlechtgemacht, weil sie wusste, dass ich ihn mochte. Ich fand es ungerecht, dass ihm gekündigt wurde. Ich würde Ihnen das nicht sagen, wenn ich es nicht auch Lisa gesagt hätte. Sie hatte überhaupt keinen Beweis. Ich glaube, es war ziemlich unfair.

Alan:  Die Polizei denkt, er wäre bei Frank eingebrochen, weil ihm gekündigt worden war und er wusste, dass er das Hotel verlassen musste.

Cecily:  Ja, das haben sie gesagt, aber ich glaube das nicht.

Alan:  Sie glauben nicht, dass er es getan hat?

Cecily:  Ich weiß es nicht, Mr Conway. Am Anfang habe ich es überhaupt nicht geglaubt. Ich habe mit Aiden darüber geredet, und sogar der hat mir zugestimmt, obwohl er kein großer Fan von Stefan gewesen ist. Stefan ist einer der sanftmütigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Er hat sich mir gegenüber immer korrekt verhalten. Er wusste, dass meine Eltern ihm eine große Chance gegeben haben, und er wollte sie mit Sicherheit nicht enttäuschen. Ich hab’ es gar nicht glauben können, als es hieß, dass er ein Geständnis abgelegt hätte. Jetzt behauptet die Polizei, sie hätten genug Beweise, um ihn vor Gericht zu bringen, aber sie wollen mir nicht sagen, was das für Beweise sind. Die Polizei scheint zu glauben, dass alles glasklar ist. Sie sagen, sie hätten Geld in seinem Zimmer gefunden … Tut mir leid … Entschuldigen Sie … Es ist nur alles so schrecklich, und es … Na ja, dass jemand so grausam ermordet wird, das …

Die Aufnahme wurde unterbrochen und dann fortgesetzt.

Cecily:  Tut mir leid.

Alan:  Nein. Nein, ich kann das sehr gut verstehen. Es war ja am Tag ihrer Hochzeit. Die ganze Geschichte muss schrecklich für Sie gewesen sein.

Cecily:  Ja, das war sie.

Alan:  Wir können das Gespräch ein andermal fortsetzen, wenn Sie wollen.

Cecily:  Nein, nein. Lassen Sie uns nur weitermachen.

Alan:  Gut. Ich habe mich gefragt, ob Sie mir noch etwas über Frank Parris erzählen können.

Cecily:  Ich habe ihn eigentlich kaum wahrgenommen.

Alan:  Haben Sie ihn am Donnerstag gesehen, als er hier ankam?

Cecily:  Nein. Ich habe gehört, dass ihm sein Zimmer nicht gefallen hat, aber Aiden hat das ja geklärt. Aiden kann gut mit den Gästen umgehen. Alle mögen ihn, und wenn es ein Problem gibt, findet er immer schnell eine Lösung.

Alan:  Er hat Frank in Zimmer 12 untergebracht.

Cecily:  Ja. Er hat zwei Zimmer getauscht. Da sollte ursprünglich irgendein Lehrer schlafen. Aber er war noch nicht eingetroffen und hat von dem Zimmertausch gar nichts mitbekommen.

Alan:  Und am Freitag ist Frank mit dem Taxi nach Westleton gefahren, nicht wahr?

Cecily:  Das Taxi hat Derek für ihn bestellt. Haben Sie schon mit Derek gesprochen?

Alan:  Das ist der Nachtportier, oder? Den treffe ich heute Abend.

Cecily:  Ich habe Mr Parris am Freitagmittag gesehen, als er zurückkam. Ich musste mich mit den Leuten befassen, die das Festzelt aufstellen sollten. Sie haben uns ziemlich hängen lassen. Die kriegen von uns keinen Auftrag mehr. Am Schluss ist alles noch gutgegangen, aber als Mr Parris zurückkam, war ich auf dem Hauptrasen. Ich habe gesehen, wie Aiden und Mr Parris miteinander geredet haben.

Alan:  Wissen Sie, worüber sie gesprochen haben?

Cecily:  Ach, nur über das Zimmer, das Hotel und so weiter. Ich hatte mit Aiden etwas zu bereden, deshalb bin ich hingegangen und habe mich dazugestellt. Aiden hat mich mit Mr Parris bekannt gemacht.

Alan:  Wie fanden Sie Frank?

Cecily:  Darf ich ehrlich sein? Ich weiß, dass er Ihr Freund war, und ich will Sie nicht kränken.

Alan:  Bitte sagen Sie, was immer Sie denken.

Cecily:  Nun ja. Ich fand ihn nicht übermäßig sympathisch. Ich kann es mir selbst nicht erklären. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun, dass ich zu viele andere Dinge im Kopf hatte, aber ich fand ihn irgendwie … Ich habe ihm nicht geglaubt. Ich fand, dass er total übertrieben hat. Er hat sich immer wieder bedankt, dass ihm Aiden ein anderes Zimmer gegeben hat, und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass seine Freundlichkeit vorgetäuscht war. Und als er Aiden und mir zur bevorstehenden Hochzeit Glück gewünscht hat, kam es mir vor, als ob er sich über uns lustig machte.

Alan:  Ja. Frank war manchmal etwas überheblich.

Cecily:  Wie meinen Sie das?

Alan:  Arrogant und herablassend.

Cecily:  Es war noch mehr als das. Er hat auch gelogen. Dafür kann ich Ihnen sogar ein Beispiel geben. Aiden hatte ihn darauf hingewiesen, dass wir am Abend eine kleine Party am Pool geben würden. Daraufhin sagte Mr Parris, das würde ihn gar nicht stören, er wolle sich in Snape Maltings Die Hochzeit des Figaro anhören. Ich verstehe ja nicht viel von Opern, aber den Namen kannte ich schon. Außerdem hat er sich noch lange darüber ausgelassen, dass Mozart sein Lieblingskomponist sei und er sich schon sehr auf diese ganz spezielle Inszenierung freue.

Alan:  Und warum glauben Sie, dass er gelogen hat?

Cecily:  Ich weiß, dass er gelogen hat. Als ich ein paar Tage später auf dem Markt in Snape Maltings war, habe ich ein Plakat mit dem Spielplan gesehen und die Hochzeit des Figaro war überhaupt nicht dabei. Am Freitagabend vor unserer Hochzeit hat ein Jugendorchester Stücke von Benjamin Britten gespielt!

Alan:  Aber warum glauben Sie, dass Frank so etwas erfindet?

Cecily:  Na ja, wie ich schon sagte. Er hat uns verspottet.

Alan:  Aber ist das nicht sehr merkwürdig? Was sollte er für einen Grund gehabt haben?

Cecily:  Ich glaube, es gab gar keinen Grund. Ich glaube, er wollte nur demonstrieren, dass er uns überlegen war. Vielleicht, weil er schwul war und wir so normal. Darf man so etwas überhaupt sagen? Er wohnte in London, und wir waren bloß Dorfbewohner. Er war der zahlende Gast, und wir gehörten zum Personal. Ich weiß nicht. Als er sich von uns verabschiedete, war das auch sehr merkwürdig. Er hat Aidens Hand mit beiden Händen ergriffen, als ob er der amerikanische Präsident oder so etwas wäre. Und mich hat er geküsst, was ich recht unangemessen fand. Vor allem, weil er seine Hand sehr weit unten auf meinem Rücken hatte. Ach, ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Ich meine nur …. Er hat mit uns gespielt. Ich habe nur ein paar Minuten mit ihm geredet, und Sie kennen ihn ja viel besser. Aber ich fand ihn nicht sonderlich nett. Tut mir leid, aber so ist es nun mal.

Alan:  Haben Sie ihn noch mal getroffen?

Cecily:  Nein. Am Freitagabend war die Party, und ich hatte ihn längst vergessen. Das Hotel war ausgebucht, und es gab genug Leute, um die ich mich kümmern musste. Ich habe eine Schlaftablette genommen und bin früh zu Bett gegangen. Am nächsten Tag war ja die Hochzeit.

Alan:  Haben Sie Stefan Codrescu bei der Party gesehen?

Cecily:  Ja. Er ist da gewesen.

Alan:  Wie ging es ihm?

Cecily:  Nun ja. Lisa hatte ihn gerade gefeuert, und deshalb war er nicht sehr glücklich. Er hat eigentlich gar nichts gesagt. Aiden hat erzählt, dass er zu viel getrunken hat. Er ist auch ziemlich früh gegangen. Ich glaube, Lionel hat ihn in sein Zimmer gebracht.

Alan:  Aber ein paar Stunden später war er wieder unterwegs, oder? Nach Ansicht der Polizei ist er aufgestanden, ins Hotel geschlichen und in Zimmer 12 eingebrochen.

Cecily:  Ja, das haben sie gesagt.

Alan:  Derek hat ihn gesehen.

Cecily:  Derek kann sich getäuscht haben.

Alan:  Glauben Sie das?

Cecily:  Ich weiß nicht. Über all das darf ich mit Ihnen nicht reden. Und wenn Sie keine weiteren Fragen haben, würde ich gern weiterarbeiten. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.

Alan:  Sie waren eine große Hilfe, Cecily, und ich hoffe, Ihre Flitterwochen waren sehr schön. Gefällt Ihnen das Eheleben?

Cecily:  (lacht) Nun ja, wir stehen ja noch ganz am Anfang. In Antigua war es wirklich sehr schön, aber ich bin auch froh, dass ich wieder hier bin. Wir sind sehr glücklich in Branlow Cottage, und diese anderen Dinge möchte ich alle so schnell wie möglich vergessen.

Alan:  Vielen Dank.

Cecily:  Ich danke Ihnen.

Die Aufzeichnung endete, und das nachfolgende Schweigen war sehr bedrückend. Ich dachte daran, dass Cecily jetzt schon seit zehn Tagen verschwunden war, und fragte mich, ob man ihre Stimme jemals wieder hören würde.

Es war noch ein weiteres Interview auf dem USB-Stick. Aiden hatte mir gesagt, dass er kurz mit Alan gesprochen hatte. Aber ich musste das Gespräch zweimal abhören, ehe mir klar wurde, dass es schon früher stattgefunden hatte als das Gespräch mit Cecily. Die beiden Männer waren offenbar von Pauline miteinander bekannt gemacht worden, als die Aufnahme bereits lief.

Pauline: Es tut mir leid. Ich möchte wirklich nicht, dass Sie unser Gespräch aufzeichnen.

Alan:  Es ist doch nur für mich privat. Es ist einfacher, als sich Notizen zu machen.

Pauline: Trotzdem. Es war schlimm genug, was passiert ist. Sind Sie sicher, dass Sie nichts darüber schreiben werden?

Alan:  Nein, nein. Mein neues Buch hat einen ganz anderen Schauplatz. Es spielt nicht mal in Suffolk.

Pauline: Haben Sie schon einen Titel?

Alan:  Noch nicht.

Dann schien Aiden zu kommen.

Pauline: Das ist Aiden MacNeil. Mein Schwiegersohn.

Alan:  Ich glaube, wir kennen uns schon.

Aiden:  Ja. Ich war an der Rezeption, als Sie ankamen. Entschuldigen Sie, nehmen Sie dieses Gespräch etwa auf?

Alan:  Ja, stört Sie das?

Aiden:  Ja. Ich fürchte, es stört mich tatsächlich.

Pauline: Mr Conway hat ein paar Fragen wegen dem Mord.

Aiden:  Ich würde es vorziehen, die Angelegenheit ruhen zu lassen.

Alan:  Wie bitte?

Aiden:  Entschuldigen Sie, Mr Conway. Mein Job hier besteht darin, die Interessen des Hotels zu wahren. Diese ganze Geschichte mit Stefan Codrescu war ein einziger großer Ärger, und ich bin der Ansicht, dass wir das Thema nicht vertiefen sollten.

Alan:  Ich habe nicht die Absicht, diese Aufzeichnungen mit irgendjemand zu teilen.

Aiden:  Trotzdem. Wir haben der Polizei alles gesagt, was passiert ist. Wir haben nichts zurückgehalten, und wenn Sie das Hotel in irgendeiner Weise für die Ereignisse verantwortlich machen wollen …

Alan:  Davon war überhaupt nicht die Rede, und das ist auch nicht meine Absicht.

Aiden:  Ich weiß nicht, ob wir uns darauf verlassen sollen.

Pauline: Aber, Aiden!

Aiden:  Tut mir leid, Pauline. Ich habe Lawrence schon gesagt, dass ich das alles hier für eine schlechte Idee halte. Ich bin fest überzeugt, dass Mr Conway ein sehr angesehener Schriftsteller ist, aber –«

Alan:  Bitte nennen Sie mich doch Alan …

Aiden:  Mr Conway, bei diesem Spiel kann ich nicht mitmachen. Es tut mir leid. Würden Sie jetzt bitte das Gerät abstellen?

Alan:  Wenn Sie darauf bestehen.

Aiden:  Ja, das tue ich.

Das war das Ende der Aufzeichnung. Es war offensichtlich, dass Aiden meinen ehemaligen Autor vom ersten Augenblick an nicht hatte leiden können, und dafür hatte ich viel Verständnis. Hatte es etwas zu bedeuten, dass er nicht von Alan befragt werden wollte? Nein. Aiden hatte ja klar gesagt, dass er nur seinen Job machte.

Es war schon nach Mitternacht, und morgen musste ich früh aufstehen. Aber trotzdem lud ich mir noch Die Hochzeit des Figaro bei Apple Music herunter. Die würde ich mir morgen anhören.