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Algernon Marsh

Melissa liebte ihren Bentley auf dieselbe Art wie ihren Chow-Chow. Es war ein schöner Wagen, und er war reiner Luxus. Er gehörte ihr ganz allein. Der Besitz war das entscheidende. Das Gefühl der Macht und das gesteigerte Selbstbewusstsein. Als sie sich auf dem lederbezogenen, silbrigen Fahrersitz niederließ und das dunkle Knurren des Motors hörte, war sie sich bewusst, dass der Wagen in der ganzen Gegend erkannt wurde, und sie spürte, wie das Unbehagen über die Auseinandersetzung mit Francis im Fahrtwind verflog. Das Verdeck des blassblauen Wagens ließ sich elektrisch öffnen, musste aber leider geschlossen bleiben, weil es tatsächlich wieder zu regnen begonnen hatte, auch wenn es sich nur um ein klägliches graues Nieseln handelte. Warum musste das Wetter jetzt, Ende April, nur so scheußlich kalt sein? Ihr Agent hatte gesagt, dass Hitchcock den neuen Film in den Studios von Warner Brothers in Kalifornien drehen wollte, und das war ihr sehr recht. Sie freute sich auf die Sonne.

Clarence Keep war nur eine halbe Meile von Tawleigh entfernt. Das kleine Fischerdorf war von vier verschiedenen Gewässern umgeben: Auf der einen Seite lag der Bristol Channel, auf der anderen die Irische See; aus dem Hinterland kamen der Taw und der Torridge, zwei Flüsse, die sich mächtig ins Meer ergossen. Manchmal hatte man das Gefühl, dass der kleine Hafen um seine Existenz kämpfen musste, wenn es stürmte, wenn sich die Wellen mit großer Gewalt an der Kaimauer brachen und die graue Gischt hoch in den Himmel spritzte. Dann zerrten die Fischerboote an ihren Tauen und der Leuchtturm blinkte verzweifelt, ohne mehr als die wirbelnden Nebelfetzen mit seinem Strahl zu erreichen.

Das Dorf hatte ungefähr dreihundert Einwohner. Die meisten Häuser standen an der Marine Parade, die sich am Strand entlangzog. Dahinter gab es noch eine zweite Straße, die Rectory Lane. Tawleigh-on-the-Water besaß außerdem eine Kirche (St Daniel’s), einen Fleischer, einen Bäcker, eine Autowerkstatt und einen Bootsausrüster, bei dem auch Andenken, Wanderkarten, Angelruten und Gummistiefel verkauft wurden. Jahrelang hatte es nur einen Gasthof gegeben, den Roten Löwen. Aber dann hatte Melissa das große viktorianische Zollhaus gekauft und in ein elegantes Hotel verwandelt, das sie nach einem ihrer Filme The Moonflower nannte. Es hatte zwölf Gästezimmer, ein Restaurant und eine gemütliche Bar.

Eine Polizeistation gab es nicht in Tawleigh, aber das war auch nicht nötig. Abgesehen von ein paar jungen Leuten, die sich am Strand betranken, hatte es seit Menschengedenken keinen wirklichen Ärger im Dorf gegeben. Ein Postamt, eine Bank, eine Bibliothek oder ein Kino gab es ebenfalls nicht. Dafür musste man nach Bideford fahren. Mit der von einer Dampflok gezogenen Kleinbahn auf der eingleisigen Strecke von Instow dauerte das ungefähr zwanzig Minuten. Mit dem Auto brauchte man eine Viertelstunde. Besucher waren oft überrascht, dass es keinen Fischladen in Tawleigh gab. Das lag daran, dass die Fischer ihren Fang lieber direkt vom Boot aus verkauften.

Das Moonflower war das ideale Hotel für die wachsende Zahl von Gästen aus London, die davon träumten, in den Sommermonaten mit ihren Familien ans Meer zu fahren. Melissa hatte dafür gesorgt, dass der Aufenthalt sowohl für Erwachsene als auch für Kinder höchst attraktiv war. Die teureren Zimmer hatten ein eigenes Bad. Das Abendessen wurde pünktlich um sieben serviert, aber für die jüngeren Gäste gab es den High Tea schon um halb sechs. Zur Unterhaltung fanden gelegentlich kleine Konzerte, Krocket oder ein Picknick statt. Kindermädchen und persönliche Diener wurden in einem Nebengebäude untergebracht, das sich in einem hinteren Winkel des Gartens versteckte.

Melissa fuhr am Haupteingang vor. Der Regen war stärker geworden, und obwohl es nur ein paar Schritte waren, wurden ihr Haar und ihr Regenmantel von dicken Tropfen bedeckt, als sie zum Eingang ging. Lance Gardner, der Geschäftsführer, hatte sie kommen sehen und empfing sie mit einem schmierigen Lächeln, als sie die Eingangshalle betrat. Auf die Idee, ihr mit einem Schirm entgegenzukommen, war er offenbar nicht gekommen. Ob er die Gäste wohl auch so begrüßte?

»Guten Abend, Miss James«, sagte er und schien gar nicht zu merken, dass er sie bereits gründlich verärgert hatte.

»Hallo, Mr Gardner.«

Weder ihr noch ihm wäre es je in den Sinn gekommen, sich mit Vornamen anzureden. Das hätte sich nicht gehört. Lance und Maureen Gardner waren Melissas Angestellte, nicht ihre Freunde. Sie waren früher die Pächter des Roten Löwen gewesen, und Melissa war eigentlich richtig stolz gewesen, dass es ihr gelungen war, die Gardners für ihr Hotel anzuwerben. Die beiden kannten schließlich die Gegend. Sie hatten Freunde im Gemeinderat und bei der Polizei. Wenn es irgendwelche Probleme mit Genehmigungen oder den örtlichen Lieferanten gab, dann wussten sie, wie man damit umging. Es schien damals eine gute Idee zu sein, und erst jetzt, dreieinhalb Jahre nach der Eröffnung des Moonflower, fragte sich Melissa, ob es klug gewesen war, dem Paar so ganz zu vertrauen. Sie wusste eigentlich nichts über sie. Der Rote Löwe hatte Gewinn gemacht, als sie dort arbeiteten – so viel hatte Melissa herausgefunden. Aber damals hatten sie unter der Kontrolle einer großen Brauerei gestanden, die sehr genau abrechnete.

Als Geschäftsführer des Moonflower hatten die Gardners dagegen nicht den geringsten Profit gemacht. Irgendetwas stimmte nicht. Das Hotel war beliebt. Alle Zeitungen hatten darüber geschrieben und waren offensichtlich beeindruckt gewesen, dass es einem echten Hollywoodstar gehörte. Melissa wusste, dass am Anfang viele Gäste in der Hoffnung gekommen waren, dass sie zumindest ein Autogramm und ein freundliches Lächeln mitnehmen würden. Aber seit das Moonflower sich etabliert hatte, erschien sie seltener, und die Gäste nahmen das Hotel als das, was es war: ein eleganter behaglicher Rückzugsort an der Küste mit einem herrlichen Strand und fantastischer Aussicht. Das Moonflower war den ganzen Sommer über vollständig ausgebucht und auch in den anderen Monaten gut besucht.

Trotzdem verschlang es nur Geld. Ihr Geld. Wessen Fehler konnte das sein? Melissa hatte bereits erste Schritte unternommen, um das herauszufinden, und mit ihrem heutigen Besuch wollte sie eine Theorie überprüfen, die schon seit einiger Zeit in ihrem Kopf spukte.

»Wie stehts denn?«, fragte sie ganz beiläufig, als sie Lance Gardner durch die leere Empfangshalle in sein Büro folgte.

»Wir können uns nicht beschweren, Miss James. Neun Zimmer sind derzeit belegt. Das schlechte Wetter ist nicht gerade auf unserer Seite. Aber ich habe mir den Wetterbericht vom Meteorological Office angeschaut. Die sagen, dass der Mai schön werden soll.«

Sie waren in einen großen quadratischen Raum mit zwei Schreibtischen, einigen Aktenschränken und einem altmodischen Safe eingetreten, der etwas protzig in einer Ecke stand. An der rechten Wand hing eine komplizierte Schalttafel. Sie gehörte zu der Telefonanlage, die alle Zimmer verband. Melissa hatte den Einbau genehmigt, obwohl er sie ein kleines Vermögen gekostet hatte. Maureen Gardner saß an ihrem Schreibtisch und studierte irgendwelche Unterlagen, erhob sich aber, als Melissa hereinkam.

»Guten Abend, Miss James.«

»Möchten Sie eine Tasse Tee?«, fragte Gardner. »Oder vielleicht etwas Stärkeres?«, fügte er verschwörerisch hinzu. Die Bar öffnete erst um halb sieben.

»Nein, danke.«

»Das ist Ihre Post, Miss James«, Maureen Gardner schob drei bereits geöffnete Umschläge über den Tisch, als sich Melissa setzte. Der oberste war fliederfarben. Melissa wusste gleich, dass er nach Lavendel roch, und sie wusste auch, von wem er kam.

Sie erhielt jetzt weitaus weniger Briefe als auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, aber sie hatte immer noch Fans in Amerika und England. Ihre Adresse im Moonflower war bestens bekannt. Jeden Monat kamen zwei oder drei Briefe, in denen sie beschworen wurde, endlich wieder eine Rolle anzunehmen und einen Film zu drehen. Ihre Verehrer vermissten sie schrecklich. Die Frau mit den fliederfarbenen Briefumschlägen bezeichnete sich immer nur als »Your Number-One Fan«. Sie hatte eine energische, saubere Handschrift, und es fehlte kein Komma. Melissa hatte sich schon oft gefragt, ob sie verheiratet war oder ledig, glücklich oder verzweifelt. Die Gefühle ihrer Fans hatte sie nie ganz verstanden, und sie waren ihr manchmal unheimlich. Wie können Sie uns das antun, liebe Miss James? las sie. Die Leinwand ist leer ohne Sie. Alles Licht ist aus unserem Leben verschwunden. Musste man nicht ziemlich gestört sein, um solche Briefe zu schreiben? Das war vermutlich schon der neunte oder zehnte Brief, den ihr Miss Lilac im Lauf der Jahre geschickt hatte.

»Vielen Dank«, sagte sie und schob den Brief zurück in den Umschlag. Antworten würde sie nicht. Das tat sie schon lange nicht mehr. »Ich habe mir die Abrechnungen bis Februar angeschaut«, sagte sie, denn sie wollte endlich zur Sache kommen.

»Über Weihnachten ist es sehr gut gelaufen«, sagte Mrs Gardner.

»Na ja. Der Verlust im Dezember war etwas kleiner als im Monat zuvor. Meinen Sie das?«

»Ich glaube, wir müssen die Preise erhöhen, Miss James«, rief Lance Gardner dazwischen. »Die Zimmerpreise und das Restaurant –«

»Wir sind bereits eins der teuersten Hotels in Devonshire«, sagte Melissa.

»Wir kalkulieren sehr scharf. Wir haben sogar das Personal reduziert. Aber wir müssen natürlich einen gewissen Standard einhalten …«

Manchmal sah Lance Gardner aus wie ein Gangster und klang auch so. Das hatte nicht nur mit dem zweireihigen Anzug, dem schwarzen, mit Pomade zurückgekämmten Haar, dem bleistiftdünnen Oberlippenbärtchen und der heiseren Stimme zu tun. Es war die Art, wie er einem nie in die Augen zu sehen vermochte. Seine Frau war genauso. Sie war deutlich breiter als er, trug sehr viel Make-up und hatte eine lautere Stimme.

Melissa erinnerte sich noch, wie sie Maureen Gardner das erste Mal gesehen hatte: hinter der Theke des Roten Löwen, wo sie Bier ausschenkte. Das war genau der Ort, wo sie hingehörte. Die Gardners waren beide ungefähr fünfzig Jahre alt. Sie waren schon lange verheiratet, hatten aber keine Kinder. In gewisser Weise war der eine das Spiegelbild des anderen, aber beide Spiegelbilder waren verzerrt.

Melissa beschloss, ihre Falle jetzt zuschnappen zu lassen. »Ich habe daran gedacht, ein paar Buchprüfer hier ins Hotel zu holen«, sagte sie.

»Wie bitte?« Lance Gardner sah sie mit blankem Entsetzen an.

»Ich wollte jemand aus London bitten, die Bücher der letzten zwei Jahre zu überprüfen: den Umsatz, die Ausgaben, die Renovierung, die laufenden Kosten.« Melissa zeigte auf die Telefonanlage. »Ich will eine komplette Prüfung.«

»Ich hoffe, Sie wollen Maureen und mir nicht unterstellen, dass wir –«

»Ich unterstelle gar nichts, Mr Gardner. Ich bin sicher, Sie leisten hervorragende Arbeit. Aber ich muss ja Vernunft walten lassen. Wir verlieren Geld, und ich weiß nicht, warum. Wenn wir Gewinn machen wollen, müssen wir rauskriegen, wo das Problem liegt.«

Jetzt mischte sich seine Frau ein. »Wir machen die Dinge hier an der Küste etwas anders als in der Stadt«, sagte sie, während ihr Mann verstummte. »Wir zahlen die Fischer zum Beispiel immer in bar, Miss James. Das wollen die so. Und Quittungen gibt es auch keine. Als Mr Hocking das letzte Mal hier war, haben wir ihm ein Abendessen serviert und eine Flasche Scotch hingestellt. Er hat keinen Penny für die Prüfung der Leitungen hier verlangt.«

Melissa erinnerte sich dunkel, dass Mr Hocking der Elektriker aus Bideford war. Sie setzte zu einer Entgegnung an, kam aber nicht gleich zu Wort.

»Ich will ja nur sagen«, fuhr Maureen unbeirrt fort, »dass sich eine Londoner Firma hier gar nicht auskennen würde.«

»Nun, das werden wir sehen.« Melissa hatte damit gerechnet, dass die beiden sich gegen die Buchprüfung wehren würden. Sie hatte sie scharf beobachtet. »Die Entscheidung ist gefallen«, sagte sie. »Ich möchte, dass Sie sich vorbereiten und alle Unterlagen bereithalten.«

»Und wann werden die Herren kommen?«, wollte Lance wissen. »Haben Sie ihnen schon geschrieben?«

»Den Brief schreibe ich morgen. Ich rechne damit, dass es dann ein, zwei Wochen dauert, bis die Buchprüfer hier sind. Ich werde es Sie sofort wissen lassen, sobald ich Näheres weiß.«

Melissa stand auf. Sie hatte alles gesagt, was sie sagen wollte. Lance und Maureen Gardner blieben wie gelähmt sitzen.

»Vielen Dank!« Fast hätte Melissa die Briefe vergessen. Jetzt griff sie danach und nahm sie mit, als sie das Büro verließ.

Nach ihrem Abgang folgte ein langes Schweigen. Man hätte glauben können, dass die Gardners ganz sicher sein wollten, dass sie allein waren.

»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Maureen. Sie sah nervös aus.

»Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Du hast ja gehört, was sie gesagt hat.« Lance zog ein Päckchen Zigaretten aus der Schreibtischschublade und steckte sich eine an. »Wir leisten hervorragende Arbeit.«

»Diese Buchprüfer sind vielleicht anderer Ansicht.«

»Diese Buchprüfer werden vielleicht gar nicht kommen. Sie hat sie ja noch nicht eingeladen, und vielleicht wird sie das auch niemals tun.«

»Was willst du damit sagen?« Maureen sah ihren Mann entsetzt an. »Was hast du vor?«

»Ich werde mit ihr reden. Ich werde sie davon überzeugen, dass es keinen Sinn hat, so eine Bande von Stadtfräcken hier an die Küste zu holen. Das heißt doch nur, dass man gutes Geld schlechtem Geld hinterherwirft. Ich werde ihr jemand hier aus der Gegend empfehlen. Jemand viel Preiswerteren. Ich denke, sie wird das schon einsehen.«

»Und was ist, wenn sie nicht auf dich hört?«

Lance Gardner stieß eine Rauchwolke aus. »Dann muss ich mir etwas anderes einfallen lassen …«

*

Während Melissa zum Moonflower gefahren war, war ein anderer Wagen auf der Braunton Road unterwegs, am Stadtrand von Barnstaple. Es handelte sich um einen cremefarbenen Peugeot, und er fuhr wesentlich schneller. Man sah das Modell nicht häufig in England, aber genau deshalb hatte sein Besitzer es ausgesucht. Es war kein bloßes Transportmittel, sondern eine Visitenkarte.

Der Mann am Steuer war entspannt und rauchte eine Zigarette, auch als die Nadel seines Tachometers die fünfzig erreichte. Links und rechts der Straße flogen die Bäume vorbei und bildeten einen grünen Tunnel, der einen starken Sog auf ihn ausübte. Es regnete immer noch und das rhythmische Pendeln der Scheibenwischer steigerte das Gefühl der Hypnose.

Er hatte gar nicht bemerkt, wie spät es schon war. Ein geselliges Mittagessen im Golfclub hatte sich zu einem Alkohol-Marathon ausgeweitet. Der Whisky wurde direkt in das private Hinterzimmer geliefert. Er würde anhalten und ein paar Pfefferminzbonbons kaufen müssen, ehe er ins Haus seiner Schwester zurückkehrte. Sie würde es bestimmt nicht billigen, wenn sie seine Alkoholfahne roch. Und obwohl er nur kurz bleiben wollte, würde ihr Ehemann, dieser aufgeblasene kleine Doktor, bestimmt jede Gelegenheit nutzen, um ihn aus dem Haus zu vertreiben.

Algernon seufzte. Es war alles so gut gelaufen, bis es dann nicht mehr so richtig klappte, und jetzt war plötzlich alles sehr schnell gegangen. Er hatte Probleme, und das wusste er genau.

Aber war es denn seine Schuld?

Seine Eltern waren gleich in der ersten Woche des Blitz gestorben. Er war gerade mal sechzehn gewesen, als es passierte. Und obwohl er gar nicht in der Nähe von London gewesen war, hatte er oft das Gefühl, selbst das größte Opfer der deutschen Bombe geworden zu sein, die sein Elternhaus, sein Kinderzimmer und all seine Besitztümer und Erinnerungen zerschmettert hatte. Er und Samantha waren dann bei seiner unverheirateten Tante untergekommen. Seine Schwester hatte bis heute ein gutes Verhältnis zu Tante Joyce, aber Algernon mochte sie gar nicht.

Und irgendwann war er dann erwachsen gewesen. Samantha hatte den Doktor geheiratet und sich in Tawleigh ein neues Zuhause geschaffen, mit zwei Kindern, netten Nachbarn und einem Sitz im Gemeinderat. Algernon war nach einem ruhmlosen Militärdienst in ein großes Loch gefallen. Er war allein und hatte nichts erreicht. Eine Zeitlang hatte er mit den Banden in Südlondon kokettiert, den Elephant Boys und dem Brixton Mob, aber er taugte nicht zu einer professionellen Verbrecherkarriere. Das hatte er nach einem dreimonatigen Gefängnisaufenthalt wegen einer Schlägerei in einem Spielsalon in Piccadilly begriffen. Nach seiner Entlassung war er Verkäufer, Buchmacher, Staubsaugervertreter und schließlich Immobilienmakler geworden. Letzteres erwies sich als seine Berufung.

Trotz all seiner Fehler hatte Algernon ein höfliches Wesen. Er war an einer Privatschule in West Kensington gewesen und konnte sehr charmant und witzig sein, wenn er wollte. Sein kurzes blondes Haar und sein Filmstar-Image machten ihn attraktiv, besonders für ältere Damen, die seine Gegenwart schätzten und sich für seine Vergangenheit nicht interessierten. Er erinnerte sich noch, wie er seinen ersten Anzug auf der Savile Row bestellt hatte. Der hatte ihn zwar weit mehr gekostet, als er sich leisten konnte, aber er war genauso ein Statement wie der französische Wagen. Wenn er einen Raum betrat, fiel er den Leuten auf. Und wenn er redete, hörten sie zu.

Bald hatte er sich auf Projektentwicklung und Bauträgerschaft spezialisiert. Mehr als hunderttausend Gebäude in London waren während des Krieges zerstört worden, und das waren hunderttausend Chancen, beim Wiederaufbau Geld zu machen. Das Problem bestand darin, dass der Markt bereits überlaufen und Algernon nur ein ganz kleiner Fisch war.

Immerhin hatte er es geschafft, sich eine kleine Wohnung in Mayfair zu kaufen. Und er hatte ein, zwei vielversprechende Projekte. Dann hatte er den Süden von Frankreich entdeckt und ein Fischerdorf namens St Tropez. Da ging gerade das ganz große Geld hin. Die ganze Küste verwandelte sich in einen Spielplatz der Reichen und Schönen mit Fünf-Sterne-Hotels, Apartmenthäusern, Restaurants, Yachthäfen und Spielcasinos. Das war ideal für den großen Coup, den er vorhatte. Es war nahe genug, um attraktiv für die Kunden zu sein, aber nicht so nahe, dass sie ständig kontrollieren konnten, was wirklich vorging. Der Name für seine neue Firma war ihm sofort eingefallen: Sun Trap Holdings Ltd. Er war nach Frankreich gefahren und mit ein paar französischen Redewendungen und einem Auto zurückgekommen, das zwar aus Frankreich stammte, aber das Lenkrad doch an der richtigen Stelle hatte. Jetzt konnte er loslegen.

Es war viel besser gelaufen, als er gedacht hatte. Innerhalb weniger Monate hatten dreißig betuchte Kunden in die Sun Trap Holdings Ltd. investiert, einige von ihnen gleich mehrfach. Er hatte ihnen versprochen, dass die Erträge fünf- bis zehnmal so hoch wie ihre Einlagen sein würden. Sie brauchten bloß in aller Ruhe zu warten. Einigen hatte er Dividenden auszahlen müssen, aber die meisten waren mit zusätzlichen Anteilscheinen zufrieden gewesen, die ihnen später noch mehr einbringen würden.

Algernon hatte sich angewöhnt, gelegentlich Urlaub bei seiner Schwester in Devon zu machen, weil sie ein schönes Haus hatte, wo er sich vom Londoner Stress erholen konnte. Außerdem suchte ihn hier niemand, und das war ihm sehr wichtig. In London gab es Geschäftsfreunde und ungemütliche alte Kumpane, denen er manchmal ganz gern aus dem Weg ging. Wenn es Ärger gab, sprang er in seinen Wagen und machte sich auf den Weg nach Südwesten, wo es ruhig und friedlich war. Tawleigh mochte er nicht besonders. Er fand es recht langweilig. Er hätte nie gedacht, dass er seinen wichtigsten Investor ausgerechnet in diesem Kaff finden würde, aber genau das war geschehen.

Er war Melissa James vorgestellt worden, kurz nachdem sie das Moonflower gekauft hatte. Am Anfang war er voller Ehrfurcht gewesen, aber dann war ihm klar geworden, dass sie nicht nur ein berühmter Filmstar, sondern auch eine reiche Frau war, die darauf brannte, ihr Geld loszuwerden. Er hatte sie gern erhört. Sie waren Geschäftspartner geworden, dann Freunde und schließlich noch etwas mehr. Es war sehr einfach gewesen, sie davon zu überzeugen, dass die Sun Trap Holdings Ltd. sie weitaus reicher machen würden als sämtliche Filme, die sie nun schon seit einiger Zeit nicht mehr drehte.

Melissa war auch der Grund für diese hastige Reise nach Devon. Ihr Anruf hatte ihn vor zwei Tagen in seiner Wohnung in Mayfair ereilt.

»Bist du das, Liebling?«

»Melissa, mein Schatz. Was für eine Überraschung! Wie gehts dir?«

»Ich möchte dich sehen. Kannst du herkommen?«

»Ja, natürlich. Du weißt doch, das lasse ich mir nicht zweimal sagen.« Er machte eine behutsame Pause. »Stimmt was nicht?«

»Ich wollte über meine Geschäftsanteile mit dir reden.«

»Die Firma läuft prächtig.«

»Ich weiß. Du bist ein toller Manager. Und das ist auch der Grund, warum ich dachte, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um meine Anteile zu verkaufen.«

Algernon hatte senkrecht im Bett gesessen. »Das meinst du doch nicht im Ernst!«

»Doch, Liebling, das meine ich ernst.«

»Aber wenn du noch sechs Monate wartest, dann hat der Wert sich verdoppelt. Wir eröffnen dieses neue Hotel. Und wenn die Villen in Cap Ferrat fertig sind –«

»Ich weiß, ich weiß. Aber mir reicht, was ich bisher verdient habe. Also komm her und bring die Unterlagen gleich mit. Auf jeden Fall können wir uns eine schöne Zeit machen.«

»Natürlich, Liebling. Ganz wie du willst.«

Ganz wie du willst! Wenn er ihr diesen Wahnsinn nicht ausreden konnte, würde er in kürzester Zeit hunderttausend Pfund auftreiben müssen, um Melissa ihre Einlagen und die Gewinne auszuzahlen, die nur in ihrer Phantasie existierten. Er trat das Gaspedal durch und sah, wie eine Fontäne aufspritzte, als er durch eine Pfütze fuhr. Morgen würde er Melissa treffen. Hoffentlich war er mit ihr allein. Es würde sehr viel einfacher sein, wenn ihr Ehemann nicht daneben saß.

Algernon warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett und verzog das Gesicht. Zwanzig nach fünf schon! Hatte er wirklich den ganzen Nachmittag im Saunton Golfclub verbracht?

Als er wieder hochsah, wurde die Windschutzscheibe von einem riesigen menschlichen Körper verdeckt.

Viel zu spät merkte er, dass er den Wagen zu weit nach links hatte rutschen lassen. Er spürte, wie der Vorderreifen auf die Grasnarbe holperte, die zwischen der Fahrbahn und der Hecke zu seiner Linken lag. Da musste der Mann gestanden haben. Oder war er ihm entgegengekommen? Algernon sah ein bleiches Gesicht, weit aufgerissene Augen und einen grässlichen Mund, der nur noch ein einziger Schrei war. Verzweifelt kurbelte er am Lenkrad, um den Wagen herumzureißen. Aber es war längst zu spät. Er war mit fünfzig Meilen pro Stunde gefahren.

Das Brüllen des Motors übertönte den Schrei des Mannes, aber der Aufprall des Wagens auf dem Körper war das schrecklichste Geräusch, das Algernon je gehört hatte. Es schien unsäglich laut. Er stand jetzt fast auf der Bremse, und wie von Zauberhand schien der Mann zu verschwinden. Er war einfach weg. Als der Wagen schließlich zum Halten kam, versuchte sich Algernon einzureden, dass er sich das alles nur eingebildet hatte, dass es gar kein Mensch gewesen war, sondern nur ein Kaninchen oder höchstens ein Reh. Aber er wusste, was er gesehen hatte. Ihm war schrecklich schlecht, und der Whisky brannte in seinem Magen.

Der Wagen stand schräg auf der Fahrbahn. Algernon hörte die Scheibenwischer von links nach rechts über das Glas quietschen und griff nach dem Hebelchen, das sie abstellte. Was jetzt? Er griff nach dem Schaltknüppel, legte den Rückwärtsgang ein und stieß zurück, bis er die Hecke berührte. Er spürte, wie Tränen in seine Augen stiegen. Aber sie galten nicht dem Mann, den er überfahren und womöglich getötet hatte. Er dachte vielmehr an sich selbst und daran, dass er getrunken hatte. Nach einem Zwischenfall mit einem Streifenwagen an der Hyde Park Corner war ihm der Führerschein für ein Jahr entzogen worden, und er hätte gar nicht am Steuer sein dürfen. Was würde jetzt aus ihm werden? Wenn er den Mann getötet hatte, dann musste er womöglich wieder ins Gefängnis. Er stellte den Motor ab und stieß die Tür auf. Der Regen schlug ihm ins Gesicht. Die Zigarette hatte er immer noch in der Hand, aber jetzt warf er sie wütend ins nasse Gras. Wo war er überhaupt? Und wo war der Mann, den er gerade angefahren hatte? Was hatte der Kerl hier zu suchen gehabt? Auf einer großen Überlandstraße, weit weg von jeder Siedlung? Ein anderer Wagen fegte dicht vor ihm vorbei.

Er musste es hinter sich bringen. Er stieg aus und ging ein paar Schritte zurück. Er fand die Leiche sofort. Sie trug einen Regenmantel und lag mit dem Gesicht nach unten im Gras. Der Tote sah völlig kaputt aus, Arme und Beine zeigten in alle Richtungen, als hätte ein Ungeheuer versucht, ihn zu zerreißen. Er atmete nicht mehr, und Algernon war sich ganz sicher, dass er tot war. Niemand konnte einen solchen Zusammenprall überleben. Es war also Mord. In der Sekunde, als er auf die Uhr geschaut hatte, hatte er jemand getötet und zugleich sein eigenes Leben zerstört.

Nur ein Wagen war bisher vorbeigekommen, und er hatte nicht angehalten. Es regnete so stark, dass ihn der Fahrer bestimmt nicht gesehen hatte. Auch nicht die Leiche. Plötzlich bedauerte Algernon zutiefst, dass er in England einen französischen Wagen fuhr. Wahrscheinlich war es der einzige in ganz Devon. Er warf einen Blick hinter sich und einen nach vorne. Die Straße war vollkommen leer. Er war ganz allein.

Im Bruchteil einer Sekunde traf er seine Entscheidung. Er wandte sich ab und rannte zu seinem Wagen zurück. Er fand eine Delle im Kühlergrill und verschmiertes Blut auf der Peugeot-Plakette mit dem Löwen. Schaudernd zog er sein Taschentuch heraus und wischte sie sauber. Er hätte das Taschentuch beinahe weggeworfen, aber sofort besann er sich eines Besseren. Dann fiel ihm die Zigarette ein. Es war verrückt gewesen, sie einfach so wegzuschmeißen. Aber es hatte keinen Sinn, sie zu suchen. Er würde nicht auf Händen und Füßen durchs nasse Gras kriechen. Alles, was zählte, war, so schnell wie möglich hier wegzukommen. Er stieg in den Wagen, schlug die Tür zu und drehte den Zündschlüssel um. Der Motor hustete, kam aber nicht in Gang. Algernon war triefnass. Das Wasser lief ihm über die Stirn. Er schlug mit beiden Fäusten aufs Lenkrad und versuchte es noch einmal. Diesmal sprang der Wagen an.

Algernon legte den Gang ein und fuhr davon. Er schaute nicht in den Rückspiegel. Und er hielt auch nicht an, ehe er nicht in Tawleigh war. Ins Haus seiner Schwester wagte er sich allerdings nicht. Wie sollte er die nassen Sachen und die zitternden Hände erklären? Stattdessen suchte er sich eine ruhige Ecke in einer Sackgasse und blieb dort zwanzig Minuten sitzen, den Kopf in den Händen. Er fragte sich, was er jetzt tun sollte.

*

Während Algernon voller Verzweiflung in seinem Wagen saß und zusah, wie der Regen über die Windschutzscheibe herablief, stand seine Schwester ebenfalls unter Schock. Sie starrte einen Brief an, der vor ihr auf dem Tisch lag.

»Ich verstehe das nicht«, sagte sie. »Was bedeutet es?«

»Ich glaube, es ist ziemlich eindeutig, meine Liebe«, sagte ihr Ehemann. »Deine Tante –«

»Tante Joyce.«

»Deine Tante Joyce Campion hat dich zur Alleinerbin ihres Vermögens gemacht, und leider ist sie vor ein paar Tagen gestorben. Die Rechtsanwälte wollen dich sprechen, um über das Erbe mit dir zu reden. Wie es klingt, ist es offenbar ganz erheblich. Das könnten sehr gute Nachrichten sein, meine Liebe – und zwar für uns beide! Ich könnte mit einer Multimillionärin verheiratet sein!«

»Len! Sag doch nicht so was!«

»Na ja, es wäre doch möglich.«

Der Brief war schon am Morgen gekommen, aber sie waren den ganzen Tag so beschäftigt gewesen, dass Samantha ihn jetzt erst geöffnet hatte. Der Absender war eine Kanzlei in London – Parker & Bentley – und schon der schwarz geprägte Briefkopf mit einer Adresse im Lincoln’s Inn war irgendwie bedrohlich gewesen. Samantha hatte mit Rechtsanwälten und Gerichten nie etwas zu tun haben wollen. Sie hatte Angst vor allem, was sie nicht ganz verstand. Sie hatte die drei Absätze auf dem Blatt mehrfach gelesen. Dann hatte sie Leonard gerufen.

Leonard und Samantha Collins saßen in der Küche ihres Hauses, in dem auch die Arztpraxis untergebracht war. Es war ein hübsches altes Gebäude, das allerdings dringend eines frischen Anstrichs bedurfte. Die salzige Luft vom Meer hatte das Haus ziemlich mitgenommen, zudem hatte der Wind ein paar Ziegel vom Dach gerissen. Der Garten hatte unter dem schlechten Wetter und marodierenden Kindern gelitten. Trotzdem war es noch immer ein sehr ansehnliches Haus, mit einem Obstgarten, der im Sommer Massen von Himbeeren lieferte, mit Apfelbäumen und einem Baumhaus in einer alten Eiche. Es stand in der Rectory Lane, direkt neben St Daniel’s. Das war einer der Gründe, warum Samantha es hatte haben wollen. Sie war eine fleißige Kirchgängerin und verpasste nie einen Gottesdienst. Sie half dem Pfarrer mit dem Blumenschmuck, den verschiedenen kirchlichen Festen und Spendensammlungen. Sie verteilte am Donnerstag den Tee und die Kekse an die Rentnerinnen und Rentner und kümmerte sich auch um die Verteilung der Plätze auf dem Kirchhof, die gegen eine geringe Gebühr jedem zustanden, der zur Gemeinde gehörte.

Während die eine Hälfte ihrer Zeit der Kirche gehörte, widmete Samantha die andere Hälfte ihrer Familie, zu der auch zwei Kinder gehörten: Mark und Agnes, sieben und fünf Jahre alt. Sie kümmerte sich um die Praxis und die Rechnungen, die Patientenakten und die täglichen Sprechstunden. Es gab Leute, die sie ein bisschen zu ernst fanden, weil sie nie ohne Kopftuch und Handtasche unterwegs war und immer in Eile schien. Andererseits war sie stets höflich. Sie lächelte alle Gemeindemitglieder an, auch wenn sie selten stehen blieb, um zu plaudern.

Niemand wusste mehr über die Leute in Tawleigh als sie. Vom Pfarrer, der sie als seine engste Vertraute betrachtete, erfuhr sie alles über die seelischen Nöte, Sorgen und Sünden der Dorfbewohner. Von ihrem Ehemann erhielt sie regelmäßige Einblicke in die Gesundheit der Nachbarn, die präziser waren als eine Röntgenaufnahme. Mr Doyle, der Fleischer, trank zu viel und hatte eine Leberzirrhose. Nancy Mitchell, die im Moonflower arbeitete und nicht verheiratet war, war jetzt im dritten Monat. Und selbst Melissa James hatte sich trotz all ihres Ruhms Pillen gegen Stress und Schlaflosigkeit geben lassen.

Samantha wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, dass sie vielleicht zu viel wusste. Auf jeden Fall war sie viel zu vernünftig, um sich auf den Klatsch und Tratsch einzulassen, der das Dorf manchmal sehr klein erscheinen ließ. Man könnte sagen, dass sie an das Beichtgeheimnis glaubte. Die Patienten in der Sprechstunde wurden mit der gleichen Förmlichkeit empfangen, mit der sie am Sonntag in der Kirche begrüßt wurden. Auch Mrs Mitchell, Nancys Mutter, die dreimal die Woche zum Putzen ins Haus kam und auch die Kinder betreute, wusste nichts von der Schwangerschaft ihrer Tochter. Ihr nichts davon zu erzählen war sowohl Leonard als auch Samantha schwergefallen, aber es verstand sich, dass sie beide der ärztlichen Schweigepflicht unterlagen.

Sie waren jetzt seit acht Jahren verheiratet. Doktor Leonard Collins war Facharzt am King Edward Hospital in Slough gewesen, Samantha war freiwillige Sanitätshelferin, und sie hatten sich sehr bald verlobt. Er war schlank und elegant, ein dunkelhaariger gutaussehender Mann mit einem sauber gestutzten Bart und einer Vorliebe für Tweedjacken. Jeder im Dorf war überzeugt, dass sie ein ideales Paar waren. Sie lebten und arbeiteten zusammen und waren stets einer Meinung. Nur in einem Punkt fehlte die völlige Übereinstimmung: Doktor Collins war kein besonders gläubiger Mensch. Er begleitete seine Frau zwar in die Kirche, aber das war mehr ein Zeichen von persönlichem Respekt; die religiöse Überzeugung fehlte ihm völlig. Außerdem rauchte er – sehr zu ihrem Missfallen – gern Pfeife. Schon seit seiner Jugend hatte er eine Stanwell Royal Briar besessen, die er auf keinen Fall aufgeben wollte. Sein einziges Zugeständnis war die Tatsache, dass er nie rauchte, wenn die Kinder im Zimmer waren.

»Aber ich habe Tante Joyce doch seit Jahren nicht mehr gesehen«, sagte Samantha. »Außer den Karten zum Geburtstag und zu Weihnachten hatten wir eigentlich gar keinen Kontakt mehr.«

»Sie hat dich aber nicht vergessen, wie es scheint«, sagte Leonard. Er griff nach seiner Pfeife, überlegte einen Moment und legte sie dann wieder weg.

»Sie war ein wunderbarer Mensch, und es tut mir sehr leid, dass sie jetzt tot ist.« Samanthas kantiges, ernstes Gesicht eignete sich sehr gut, um Trauer auszudrücken. Freude war weniger ihre Stärke. »Ich werde den Pfarrer bitten, am Sonntag ein Gebet für meine Tante zu sprechen.«

»Sie würde das sicher zu schätzen wissen.«

»Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen. Ich hätte mir wirklich mehr Mühe geben müssen, mit ihr in Kontakt zu bleiben.«

Samantha saß eine Weile stumm da und dachte an Joyce Campion, die für sie da gewesen war, als ihre Eltern im Bombenhagel gestorben waren. Es war ihre Tante gewesen, die sie ermutigt hatte, zur Kirche zu gehen. Ihr Bruder Algernon hatte sich natürlich geweigert. Tante Joyce hatte auch die Ausbildung zur Sekretärin bezahlt, bei der sie Kurzschrift und Schreibmaschine gelernt hatte. Später hatte sie dafür gesorgt, dass ihre Nichte eine Stelle bei Horlicks gekriegt hatte, der Malzmilch-Firma in Slough. Samantha hatte ihre Tante immer für die klassische alte Jungfer gehalten und war deshalb völlig überrascht gewesen, als Joyce plötzlich ihre Verlobung mit dem Multimillionär Harlan Goodis bekanntgab, der eine Werbeagentur in New York hatte. Das war ungefähr zur selben Zeit gewesen, als Samantha selbst geheiratet hatte und mit Leonard nach Tawleigh gezogen war. Vielleicht war es ganz unvermeidlich gewesen, dass die beiden Frauen sich aus den Augen verloren hatten.

»Ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben«, sagte Samantha. »Kinder hatten sie nicht. Soviel ich weiß, hatten sie überhaupt keine Verwandten.«

»Die Rechtsanwälte jedenfalls vermitteln den Eindruck, dass du die einzige Erbin bist.«

»Glaubst du wirklich, es könnte sehr viel sein?«

»Schwer zu sagen, ihr Mann war wohl sehr erfolgreich. Es hängt alles davon ab, wie viel von seinem Geld sie vor ihrem Tod noch verbraucht und verschenkt hat. Willst du in London anrufen oder soll ich?«

»Ich glaube, es wäre mir lieber, wenn du das übernimmst. Mich machen solche Dinge immer nervös.« Samantha las den Brief jetzt zum zwölften Mal. Ihr Gesichtsausdruck deutete darauf hin, dass es ihr lieber gewesen wäre, er wäre nie eingetroffen.

»Vielleicht sollten wir keine zu großen Erwartungen haben«, sagte sie. »Von Geld ist überhaupt nicht die Rede. Vielleicht hat sie uns etwas hinterlassen, was wir gar nicht brauchen können. Ein paar Gemälde oder ein bisschen Schmuck.«

»Ein paar Picassos und eine diamantenbesetzte Tiara?«

»Hör auf! Diese Phantasien sind nicht gesund.«

»Wenn es kein großes Vermögen wäre, hätten die Rechtsanwälte dich sicher nicht eingeladen.«

»Ich weiß nicht. Es scheint mir –«

Sie wollte noch weitersprechen, aber in diesem Augenblick öffnete sich die Tür und ein kleiner Junge kam herein. Er hatte schon seinen Schlafanzug an und schien gerade gebadet zu haben. Das war ihr Sohn Mark. »Mami, liest du mir noch etwas vor?«

Samantha war müde. Sie hatte den Kindern noch nicht mal den High Tea auf den Tisch gestellt, und das Abendessen musste sie auch noch machen. Aber sie lächelte und stand sofort auf. »Natürlich, Liebling. Mami kommt gleich nach oben.«

Sie hatten gerade ein Buch von C.S. Lewis angefangen, und Mark war begeistert. Erst am Abend zuvor hatte ihn Samantha in seinem Schrank entdeckt, wo er den Weg nach Narnia suchte. Er rannte wieder nach draußen, und seine Mutter wollte ihm schon folgen, als ihr etwas einfiel. Sie drehte sich noch einmal zu ihrem Mann um. »Von Algernon ist in dem Brief überhaupt nicht die Rede«, stellte sie fest.

»Ja. Das ist mir auch aufgefallen.« Leonard verzog das Gesicht. »Es heißt ganz ausdrücklich, dass du die alleinige Erbin bist.«

»Tante Joyce war entsetzt, als er ins Gefängnis musste«, sagte Samantha. »Erinnerst du dich? Diese Geschichte in Piccadilly?«

»Damals hab’ ich dich noch nicht gekannt.«

»Aber ich hab’ dir davon erzählt.« Samantha stand immer noch in der Tür, obwohl sie wusste, dass Mark oben wartete. »Sie hat immer gesagt, dass man ihm nicht trauen könne«, fuhr sie fort. »Er sei in schlechte Gesellschaft geraten und hätte lauter verrückte und illegale Geschäftsideen. Glaubst du, sie hat ihn bewusst weggelassen?«

»Es sieht so aus.«

»Trotzdem. Ich muss mit ihm teilen. Ich kann das nicht alles allein behalten. Ich meine, wenn es –« Sie unterbrach sich, als ob sie die Möglichkeit erneut von sich weisen wolle. »Ich meine, wenn es wirklich sehr viel ist.«

»Ja, vielleicht.« Leonard senkte die Stimme, als hätte er Sorge, dass die Kinder ihn hören könnten. »Darf ich dir etwas vorschlagen, meine Liebe?«

»Natürlich. Du weißt doch, dass ich immer auf dich höre, Leonard.« Das stimmte. Sie hatte sich immer Rat bei ihm geholt. Auch wenn sie ihn nicht immer befolgte.

»Also, wenn ich du wäre, würde ich deinem Bruder nichts von der Sache sagen.«

»Was? Ihm nichts davon sagen?«

»Jetzt noch nicht, jedenfalls. Ich meine, du hast ja recht. Wir haben überhaupt keine Ahnung, um was und wie viel es überhaupt geht. Das werden wir erst erfahren, wenn wir in London sind und mit diesen Rechtsanwälten geredet haben. Es wäre keine gute Idee, einen großen Wirbel um diese Geschichte zu machen, und am Ende geht es nur um ein paar persönliche Andenken.«

»Aber eben hast du doch gesagt –«

»Ich weiß, was ich gesagt habe, aber jetzt pass einmal auf.« Leonard wählte seine Worte behutsam. Samantha und Algernon sahen sich nicht allzu oft, aber er wusste, dass sie aneinander hingen. Das war auch verständlich. Nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern und dem Verlust ihrer Kindheit konnte es gar nicht anders sein. »Ich weiß nicht, ob das der richtige Zeitpunkt ist, um darüber zu reden, meine Liebe. Aber ich mache mir Sorgen um Algernon.«

»Was meinst du damit?«

»Ich will dich nicht beunruhigen, meine Liebe, schon gar nicht, solange er unser Gast ist, aber es gibt eine Seite an ihm, von der wir nichts wissen. Es könnte sein, dass er –«

»Was?«

»– gefährlich ist. Du hast seine verschiedenen Projekte und Ideen ja schon erwähnt. Wir sollten diese Angelegenheit vorläufig nicht mit ihm erörtern. Zumindest sollten wir erst einmal klären, worum es überhaupt geht, ehe wir irgendwelche Entscheidungen treffen.« Leonard lächelte, und in diesem Augenblick wusste Samantha wieder, warum sie ihn geheiratet hatte. »Du brauchst mal eine Pause, um dich zu erholen«, sagte er. »Ich habe dir mit meinem bescheidenen Einkommen nie sehr viel bieten können. Vielleicht wird das jetzt anders.«

»Sei nicht albern. Ich habe mich nie beschwert. Ich bin vollkommen glücklich.«

»Das geht mir doch genauso. Ich bin sehr froh, dass ich mit dir verheiratet bin.«

Samantha eilte zum Tisch zurück und küsste ihren Mann auf die Stirn. Dann ging sie nach oben, um ihrem Sohn von Narnia zu erzählen.