Das Buch

Es war ein komisches Gefühl, als ich nach all den Jahren wieder Atticus unterwegs in die Hand nahm. Bücher, die ich redigiert habe, lese ich meist nicht noch einmal. Das Redigieren ist genau wie das Schreiben oft so schwierig und intensiv, dass man es gern hinter sich lässt, auch wenn einem das fertige Produkt gut gefällt.

Was hatte ich empfunden, als Detective Chief Inspector Hare zu seinem Wagen zurückgekehrt war und ich das Buch zugeklappt hatte? Ich hatte den ganzen Nachmittag gelesen, aber jetzt hatte ich den Eindruck, dass es mich keinen Schritt weitergebracht hatte.

Auf den ersten Blick hatte Atticus unterwegs nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Ereignissen, die im Juni 2008 in Branlow Hall stattgefunden hatten. Es gab keine Hochzeit, keinen Besitzer einer Werbeagentur, keinen rumänischen Hausmeister und keinen Sex in den Wäldern. Der Schauplatz ist Devon und nicht Suffolk, niemand wird mit einem Hammer erschlagen, die meisten Elemente der Handlung sind ziemlich unrealistisch: Eine berühmte Schauspielerin wird erdrosselt (und das gleich zweimal), der entscheidende Hinweis kommt von Shakespeare, die fanatische Verehrerin mit ihrem lila Briefpapier, die Erbtante mit ihren 700000 Pfund. Das alles hatte Alan erfunden und hätte dafür nicht nach Branlow Hall kommen müssen.

Und doch hatte Cecily Treherne das Buch gelesen und daraus den Schluss gezogen, dass Stefan Codrescu unschuldig war. Sie hatte ihre Eltern in Südfrankreich angerufen und ihnen gesagt: Da stand genau drin, wer es gewesen ist. Das hatte sie jedenfalls ihrem Vater gesagt. Jetzt hatte ich das Buch von Anfang bis Ende gelesen und auch einen guten Überblick über die Fakten des echten Verbrechens von 2008, aber ich wusste immer noch nicht, was Cecily glaubte, gesehen zu haben.

Zu meiner eigenen Überraschung hatte das Buch mir Spaß gemacht, obwohl ich ja von Anfang an wusste, wer die beiden Mörder gewesen waren. Alan Conway mochte Kriminalromane zwar nicht, aber er war doch ein guter Autor. Ein komplexer, gut konstruierter Detektivroman, der am Ende funktioniert, ist sehr befriedigend, und die Freude, die ich damals daran gehabt hatte, war zu einem guten Teil wieder zurückgekehrt. Alan hatte seine Leser nie betrogen. Das war wichtig für seinen Erfolg gewesen.

Im persönlichen Umgang war er allerdings alles andere als angenehm. Ich muss damals viele Stunden mit ihm verbracht haben. Schon der berühmte Zeitablauf mit den Zehn Momenten musste immer wieder geprüft werden, damit sich kein Fehler einschlich. Der größte Teil der Arbeit war ein Austausch übers Internet. Alan und ich hatten immer eine schwierige Beziehung, aber zumindest einmal hatten wir auch in meinem Londoner Büro zusammengesessen, und als ich jetzt im Garten von Branlow Hall saß, erinnerte ich mich an den Streit, den wir damals gehabt hatten. Warum musste er so unangenehm sein? Dass ein Autor sein Manuskript verteidigt, ist völlig in Ordnung, aber Alan wurde immer gleich laut. Man hatte das Gefühl, im heiligsten Bereich seiner Fantasie herumzutrampeln, auch wenn man sich bloß bemühte, das verdammte Ding besser verkäuflich zu machen.

Ich hätte es zum Beispiel vorgezogen, den Roman mit Atticus Pünd zu eröffnen. Er war ja schließlich der Held der Geschichte, und ich war mir nicht sicher, ob die Leser bereit sein würden, vier ganze Kapitel zu absolvieren, ehe er überhaupt auftrat. Auch mit dem Kapitel ›Der Ludendorff-Diamant‹ war ich nicht glücklich. Diese Episode steckt wie eine Kurzgeschichte mitten im Buch und hat nichts mit dem zu tun, was in Tawleigh-on-the-Water passiert. Ich hätte sie am liebsten rausgeschmissen, aber davon wollte Alan nichts hören. Der Grund war vielleicht so eine Art schlechtes Gewissen; denn mit zweiundsiebzigtausend Wörtern war Atticus unterwegs ziemlich kurz. Besonders schlimm war das nicht. Es gibt eine ganze Reihe von Romanen von Agatha Christie, die nicht besonders lang sind. Tod auf dem Nil zum Beispiel – ein Meisterwerk – hat nur knapp über sechzigtausend Wörter. Wenn man aus Atticus unterwegs den Diamantendiebstahl herausnahm, wurde aus dem Roman bloß noch eine Novelle, was seine kommerziellen Aussichten deutlich vermindert hätte. Aber Alan hatte einfach keine Lust, den Teil der Handlung der in Tawleigh spielt, noch weiter auszuschmücken. Ich musste mich also mit dem zufriedengeben, was er geliefert hatte. An sich mag ich das Kapitel durchaus, die Geschichte mit dem Riss in der Tapete von Melissas Schlafzimmer war sogar meine Idee, auf diese Weise gab es zumindest eine vage Verknüpfung der beiden Handlungen.

Den größten Streit hatten wir über den Charakter von Eric Chandler. Eric war mir ziemlich unsympathisch erschienen, und das war noch lange vor der Zeit, als die Autoren aufhörten, überhaupt Behinderte in ihren Romanen auftreten zu lassen, weil das Publikum so empfindlich geworden war. Jemandem einen Klumpfuß zu verpassen, ist eine Sache. Ihn aber noch dazu als weinerliches Kind mit einer sexuellen Perversion darzustellen, geht heute natürlich gar nicht mehr. Es ist ja fast schon ein gezielter Angriff auf die Menschenwürde, eine körperliche Behinderung mit einem psychischen Defekt in Verbindung zu bringen. Dabei wusste ich damals noch gar nicht, dass Eric ein Abbild von Derek Endicott, dem Nachtportier von Branlow Hall, sein sollte. Es war – wie Lawrence Treherne bemerkt hatte – tatsächlich eine grausame Karikatur, und wenn ich das gewusst hätte, hätte ich natürlich umso heftiger dagegen angekämpft.

Auch bei der Auflösung des Falles hatte ich Streit mit Alan gehabt. Nachdem er sie von der Brücke gerettet hat, erklärt Pünd der schwangeren Nancy, dass er immer ihr Freund sein werde, aber schon kurz darauf beschuldigt er sie, womöglich Francis Pendleton ermordet zu haben. »Das ist ja wohl nicht sehr nett«, sagte ich.

»Das macht er doch nur, um die Spannung zu steigern.« Ich erinnere mich heute noch, wie hochnäsig Alan mich angesehen hatte, als er das sagte.

»Aber das passt doch gar nicht zu seinem Charakter.«

»Das ist nun mal Tradition in diesen Romanen: Der Detektiv versammelt alle Verdächtigen und hakt sie der Reihe nach ab.«

»Das weiß ich, Alan, aber muss er Nancy so aggressiv angehen?«

»Was würden Sie vorschlagen, Susan?«

»Muss sie denn in der Szene überhaupt auftauchen?«

»Natürlich muss sie auftauchen, sonst funktioniert die ganze Szene nicht.«

Am Ende milderte er die Sache ein bisschen ab, aber nur sehr unwillig. Gefallen hat es mir trotzdem nicht.

Und so ging es weiter. Wie schon erwähnt, versteckte Alan gern Dinge im Text, und jetzt beim Wiederlesen hatte ich mich gefragt, ob er sich gegen meine redaktionellen Vorschläge deshalb so heftig gewehrt hatte, weil ich, ohne es zu wissen, versteckte Hinweise entfernen wollte, die ihm so wichtig waren: seine Ostereier gewissermaßen. Ich habe ja schon erwähnt, dass ich den Namen Algernon gar nicht mochte, weil er mir viel zu melodramatisch war. Außerdem fand ich es unwahrscheinlich, dass Algernon schon im Jahre 1953 einen in Frankreich hergestellten Peugeot fahren sollte. Die römischen Ziffern im Kapitel ›Dunkelheit senkt sich herab‹ gefielen mir nicht, sie schienen nicht zum Rest des Buches zu passen. Aus demselben Grund war ich nicht glücklich über die realen Personen, die im Text auftauchten: Bert Lahr, Alfred Hitchcock, Roy Boulting und so weiter.

Er hatte sich geweigert, das zu ändern.

Auch mit ›Dunkelheit senkt sich herab‹ als Kapitelüberschrift hatte ich ein Problem, aber das war nun wirklich eins seiner Ostereier. Conway verehrte Agatha Christie und stahl immer wieder Ideen von ihr. Das Kapitel mit seiner Beschreibung von Tawleigh bei Nacht war eine Variation ihres Romans Endless Night. Und ›Ein Opfer der Flut‹ ist eine Hommage an Taken at the Flood. Auch dass der entscheidende Hinweis aus Othello stammt, passt zu Agatha Christie. Sie hat ja vier Romane nach Shakespeare-Stücken benannt. Sie taucht sogar selbst im Text auf. Im Zug nach Devon liest Miss Cain das neue Buch von Mary Westmancott, eins der Pseudonyme von Agatha Christie.

Ich war nicht die Einzige, die sich an Alan die Zähne ausbiss. Auch die Außenredakteurin wurde abgeschmettert. Sie hatte verschiedene Fehler entdeckt, aber woran ich mich noch genau erinnere, war die LMR 57-Dampflok, die im Schlusskapitel dazu beiträgt, Pünd nach London zurückzubefördern. Diese Lok war schon hundert Jahre vor Beginn der Geschichte außer Dienst gestellt worden. Sie zog vor allem Güterzüge und war nur bei der Liverpool-Manchester Railway im Einsatz und nicht etwa in Devon. Alan war das egal. »Das merkt doch kein Mensch«, sagte er, und es blieb drin. Aber warum? Es wäre doch ganz leicht gewesen, die richtige Lokomotive zu finden. Bei dem Peugeot mit Rechtslenkung im Jahr 1953 war die Außenredakteurin auch meiner Meinung gewesen.

Mit der Frage, wer Frank Parris getötet hatte, hatten diese Diskussionen allerdings nicht viel zu tun. Tatsache war aber, dass Alan es offenbar wusste. Die haben den Falschen erwischt, hatte er seinem Lebenspartner James Taylor erzählt, als er aus Branlow Hall zurückkam. Warum hatte er das für sich behalten? Warum hatte er es der Polizei nicht gesagt? Ich wusste es noch immer nicht. Allerdings hatte ich jetzt nach der Lektüre von Atticus unterwegs den Eindruck, dass es womöglich gleich zwei Lösungen gab. Wie konnte ich das Buch dazu bringen, seine Geheimnisse zu verraten?

Ich fing bei den Namen an.

Alan hatte immer mit den Namen seiner Figuren gespielt. In Nachts kommt das Böse trugen sie die Namen englischer Flüsse. In einem anderen Roman waren es die Hersteller von Füllfederhaltern. Bei Atticus unterwegs brauchte ich auch nicht lange, um den Schlüssel zu finden: Es waren alles Namen von Kriminalschriftstellern. Eric und Phyllis Chandler brachten mich auf die Spur. Das war eine offensichtliche Anspielung auf Raymond Chandler, den Erfinder von Philip Marlowe, dem ikonischen Privatdetektiv. Algernon Marsh bezog sich auf Ngaio Marsh, Madeline Cain auf James M. Cain, den Verfasser von Wenn der Postmann zweimal klingelt und Double Indemnity. Gladys Mitchell, die Namenspatin von Nancy Mitchell hat über sechzig Kriminalromane geschrieben, zu ihren Fans gehörte auch Philip Larkin.

Aber das war noch nicht alles. Die wichtigsten Figuren hatte Alan auch noch mit den Leuten verknüpft, denen er in Branlow Hall begegnet war. Alle haben ähnlich klingende Vornamen, und viele haben dieselben Initialen. Da ist Lance Gardner, über den sich Lawrence Treherne so geärgert hatte. Dr. Leonard Collins hat dieselben Initialen wie der Fitnesstrainer Lionel Corbin. Der lettische Produzent Sīmanis Čaks, der nur eine Randfigur und für kurze Zeit ein Verdächtiger ist, entspricht Stefan Codrescu.

Um herauszufinden, was in Alans Kopf vorgegangen war, musste ich eine Art Schaltplan erstellen, der die Welten von Branlow Hall in Suffolk und Tawleigh-on-the-Water miteinander verknüpfte. Ich hatte das Buch im Garten gelesen, aber jetzt war die Sonne untergegangen, und es wurde zu kalt. Ich ging in mein Zimmer, schnappte mir einen Bleistift und einen Notizblock und fing mit der Arbeit an.

Melissa James

Name bezieht sich auf P.D. James, Verfasserin von Innocent Blood und A Taste of Death. Oder vielleicht auf Peter James (der ein quote für das Taschenbuch beigesteuert hat!)

Die Figur beruht auf: Lisa Treherne, der Schwester von Cecily.

Anmerkung: Die Figuren haben wenig miteinander zu tun, außer dem Vornamen: Lisa/​Melissa. An einer Stelle wird auch erwähnt, dass die Schauspielerin eine winzige Narbe im Gesicht hat. Lisa hat möglicherweise Sex mit Stefan Codrescu gehabt (Aussage von Lionel Corby). In Atticus unterwegs hat Melissa eine Affäre mit Dr. Leonard Collins.

Auch Alan Conways Ex-Ehefrau heißt Melissa und scheint eine enge Beziehung mit dem Fitnesstrainer Lionel Corby gehabt zu haben. Hat Alan ihr eine Affäre mit dem Trainer unterstellt?

Francis Pendleton

Name bezieht sich auf den amerikanischen Autor Don Pendleton, Verfasser von The Executioner.

Die Figur beruht auf: Frank Parris.

Anmerkung: Gleiche Initialen (FP), beide sind sonnengebräunt und haben lockiges Haar. Francis besitzt ein Segelboot namens Sundowner, die Werbeagentur von Parris hat denselben Namen.

Beide Männer werden ermordet, der eine mit einem Messer, der andere mit einem Hammer. Eine Parallele. Aber Madeline Cains Mordmotiv kommt in der Realität überhaupt nicht vor.

Nancy Mitchell

Der Name bezieht sich auf Gladys Mitchell, die Verfasserin der Mrs-Bradley-Romane.

Die Figur beruht auf: Natascha Mälk. Den Namen des Zimmermädchens, das die Leiche von Parris gefunden hat, weiß ich von Aiden. Die Anfangsbuchstaben passen.

Anmerkungen: Nicht viel. Conway hat Natascha getroffen, ich nicht. Für die kurze Affäre zwischen Francis und Nancy gibt es in der Realität wohl keine Entsprechung. Frank Parris war schließlich schwul.

Madeline Cain

Name stammt von: James M. Cain.

Beruht die Figur auf Melissa Conway?

Anmerkungen: Außer den Initialen MC gibt es keine erkennbaren Ähnlichkeiten, aber vielleicht hat es Alan Spaß gemacht, seine Ex-Frau zur wahnsinnigen Filmfanatikerin und Mörderin zu machen. Als Figur brauchte er sie ohnehin nicht mehr. Im nächsten Pünd-Roman sollte James Fraser der Assistent sein.

Dr. Leonard Collins

Woher der Name stammt, ist nicht ganz klar. Könnte Michael Collins sein (Pseudonym des amerikanischen Autors Dennis Lynds, der zahlreiche Detektivgeschichten verfasst hat). Vielleicht auch Wilkie Collins (The Woman in White und The Moonstone)?

Figur beruht auf: Lionel Corby (LC)

Anmerkungen: Collins ist ein Mörder und eine Hauptfigur in Atticus unterwegs. Er bringt aber nicht Francis Pendleton, sondern Melissa James um. Will Alan ausdrücklich sagen, dass Lionel Corby nicht der Mörder von Parris ist?

In Branlow Hall hat es nur einen Mörder gegeben, in Tawleigh dagegen zwei. Irgendwie passt das nicht richtig.

Samantha Collins

Der Ursprung des Namens ist derselbe wie bei Leonard Collins.

Beruht die Figur auf Cecily Treherne?

Anmerkung: Wo Samantha herkommt, ist schwer zu bestimmen, und sie spielt auch nur eine kleine Rolle in Atticus unterwegs. Die Vornamen Cecily und Samantha beginnen beide mit scharfem »S«, und ihr Gesicht wird als eckig und ernst beschrieben, das passte auf beide Frauen.

Simon Cox (Sīmanis Čaks)

Der Name stammt von Anthony Berkeley Cox, der 1929 The Poisoned Chocolates Case schrieb. Eine weitere Verbindung: Eins seiner Bücher wurde 1941 von Alfred Hitchcock unter dem Titel Suspicion verfilmt.

Die Figur ist eine Entsprechung zu: Stefan Codrescu.

Anmerkungen: Obwohl Codrescu beim Mord an Parris der Hauptverdächtige ist, spielt Cox in Atticus unterwegs nur eine Nebenrolle. Andererseits malt Alan genüsslich die osteuropäische Herkunft der beiden aus und behauptet, Cox sähe wie ein Gangster aus, der gerade aus dem Gefängnis kommt. Dachte Alan, Stefan habe den Mord an Parris begangen, oder wusste er, dass er unschuldig war und wollte ihn bloß verspotten?

Lance und Maureen Gardner

Der Name bezieht sich auf: Erle Stanley Gardner, den Erfinder von Perry Mason.

Die Figuren beruhen auf: Lawrence und Pauline Treherne.

Anmerkungen: Lance und Maureen werden als Gauner und Betrüger beschrieben. Wahrscheinlich nur aus Bosheit und Mutwillen. Weder mit dem realen noch mit dem fiktiven Mord haben sie etwas zu tun. Lawrence hätte völlig zu Recht eine Verleumdungsklage einbringen können!

Eric Chandler/​Phyllis Chandler

Die Namen stammen von Raymond Chandler.

Die Figuren beruhen auf: Derek Endicott – und wahrscheinlich seiner Mutter.

Anmerkungen: Alan Conway scheint die Endicotts genauso wenig mit dem Mord in Verbindung bringen zu wollen wie die Trehernes, aber vielleicht hat er da selbst etwas übersehen. Was ist, wenn Parris gar nicht derjenige war, den der Mörder eigentlich umbringen wollte? Dass er einen Spanner in die Geschichte einführt und sich über Behinderte lustig macht, ist typisch für Alan Conway. Ob er wohl Dereks Mutter kennengelernt hat? Vielleicht sollte ich sie mal aufsuchen?

Algernon Marsh

Der Name stammt von: Dame Ngaio Marsh, der berühmtesten Kriminalschriftstellerin aus Neuseeland.

Die Figur entspricht offensichtlich: Aiden MacNeil, wie dieser selbst festgestellt hat (AM).

Anmerkung: Aiden hat sich geweigert, mit Alan zu reden. »Es waren nur fünf Minuten. Ich mochte ihn nicht besonders.« Alan wiederum macht ihn zu einem Betrüger und Lügner. Die Darstellung ist fast eine Karikatur. Ist das Alans Rache? Dass er ein Mörder sei, wird aber nirgends behauptet.

So weit also die Namen. Wenn es mir Alan hätte leichtmachen wollen, dann wäre Francis Pendleton von jemandem getötet worden, der dieselben Anfangsbuchstaben hatte wie jemand in Branlow Hall. Dann hätte ich daraus schließen können, wer Frank Parris getötet hatte.

Jetzt, wo ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass es tatsächlich so war. Madeline Cain hatte Francis Pendleton umgebracht. War also Frank Parris von Melissa Conway umgebracht worden? Die Initialen MC hatten beide.

Es erschien mir aber sehr unwahrscheinlich, dass Alan Conway mit dem Finger auf seine Ex-Frau gezeigt hatte. Zum Zeitpunkt des Mordes hatte sie ihren Namen ohnehin schon wieder zu Johnson geändert. Und was für ein Motiv hätte sie haben sollen, Frank Parris umzubringen? Außerdem gab es noch eine andere Melissa in Atticus unterwegs – Melissa James, die in Kapitel 4 stranguliert wird. Alan scheint seine Ex-Frau als Opfer und Mörderin zugleich gesehen zu haben.

Warum musste das alles so kompliziert sein?

Es gab noch zwei weitere Elemente aus der Realität, die Eingang in Atticus unterwegs gefunden hatten. Ich notierte sie in meinem Notizbuch: Die Hochzeit des Figaro und Der Hund, der in der Nacht bellt.

Es konnte kein Zufall sein, dass Francis Pendleton und Frank Parris beide fälschlich behaupten, dieselbe Mozart-Oper gesehen zu haben. Auch die Initialen der beiden Lügner passen zusammen. Warum Parris gelogen hatte, war nach wie vor ein Rätsel. Wo war er wirklich hingegangen? Und warum hatte er sich überhaupt die Mühe gemacht, so etwas zu erfinden?

Die beiden Hunde, Kimba in Clarence Keep und Bear, der Goldene Retriever in Barnlow Hall, hatten kurz vor oder während der Morde gebellt. Wieder hatte ich das Gefühl, dass Alan mir etwas sagen wollte, und machte mir eine Notiz, Derek noch einmal genau über die Ereignisse dieser Nacht zu befragen.

*

Als ich das nächste Mal aus dem Fenster sah, war es draußen stockdunkel und ich hatte Hunger. Ich schlug den Notizblock zu und legte ihn zusammen mit dem Roman in meinen Koffer.

Ich wollte schon zum Essen hinuntergehen, als mir noch etwas einfiel. Ich schlug die ersten Seiten des Romans auf, und richtig, da war sie: Die Widmung.

Für Frank und Leo. Zur Erinnerung.

Frank war offensichtlich Frank Parris. Leo war der Strichjunge, den James Taylor erwähnt hatte. Frank, Leo, Alan und James hatten zusammen zu Abend gegessen. Parris hatte Alan geholfen, seine Sexualität zu erforschen. Und er hatte sexuelle Spielchen mit Leo getrieben.

Zur Erinnerung.

Die beiden Wörter sprangen mich beinahe an. Frank war in Branlow Hall ermordet worden. War etwa auch Leo gestorben?

Spontan zog ich mein Handy heraus und tippte eine SMS:

James – habe ich mich eigentlich schon richtig für das nette Abendessen im Le Caprice mit Ihnen bedankt? Eine Frage ist mir noch eingefallen: Sie haben einen gewissen Leo erwähnt, der mit Frank Parris befreundet war. Wissen Sie noch mehr über ihn? Ist er womöglich gestorben? Alans Buch ist ja seinem Andenken gewidmet. Danke, Susan. X

Ich musste nicht lange warten. Schon eine Minute später machte es ping, und die Antwort erschien auf dem Display.

Hallo Susan. Über Leo kann ich nicht viel sagen. Er hatte eine schicke Wohnung in Mayfair (Gott weiß, wie er die finanziert hat). Aber soviel ich weiß, hat er London verlassen, ob er noch lebt, weiß ich nicht. Er war oft mit Frank zusammen, aber ich bin doch überrascht, dass ihm Alan das Buch gewidmet hat. Er hat ihn mir gegenüber nie erwähnt. Viel mehr weiß ich nicht. Ich hab ihn ja nur einmal gesehen. Er war blond (gefärbt?) und hübsch. Eher zierlich. Ich hab ihn nie nackt gesehen, deshalb weiß ich nicht, wie er so gebaut und ob er beschnitten war. Ich bin sicher, Sie brennen darauf, das zu erfahren. Er ging viel ins Fitness-Studio. Gut in Form. Leo war möglicherweise nur sein Künstlername. Viele von uns haben ein Pseudonym benutzt (sicher ist sicher). »Stud« und »Nando« waren immer populär. Und natürlich gab es auch Kosenamen. Als Alan mich kennenlernte, war ich »Jimmy« – ein süßer Junge eben. Sind Sie schon irgendwie weitergekommen? Frank Parris war ziemlich unheimlich, ein richtiger Perverser, wenn ich so darüber nachdenke. Vielleicht hat er bloß gekriegt, was er verdient. Rufen Sie mich an, wenn Sie wieder nach London kommen. Jimmy XXX

James wusste also nicht, ob Leo noch lebte oder ob er schon tot war. Ich fragte mich, wie ich das herausfinden könnte.