Der Mörder

Wir fuhren nicht nach Woodbridge zurück, sondern direkt zum Heath House in Westleton und marschierten zusammen zur Eingangstür. Ich lehnte mich geradezu auf die Klingel, damit die Bewohner gar nicht erst auf die Idee kamen, die Tür nicht zu öffnen. Nach etwa dreißig Sekunden erschien Martin Williams. Er sah Andreas mit Misstrauen und mich mit Überraschung und unverhohlener Wut an. Hatte er mir nicht gestern erst gesagt, ich solle mich nie wieder blicken lassen?

»Sie können nicht reinkommen«, sagte er.

»Sind Sie beschäftigt?«

»Joanne will Sie nicht sehen. Und ich auch nicht. Das haben wir Ihnen gesagt, als Sie das letzte Mal hier waren.«

»Ich weiß, wer Frank Parris ermordet hat«, sagte ich. »Und mein Freund Andreas weiß es auch. Sie können es von mir erfahren oder von der Polizei. Das ist Ihre Entscheidung.«

Er starrte mich an und berechnete seine Chancen und Risiken. Er war nicht sehr groß, stand aber mitten in der Tür und versperrte den Weg. Ausnahmsweise trug er mal keinen Overall, sondern Jeans, Cowboystiefel und ein offenes Hemd mit Paisley-Muster, als wolle er tanzen gehen. Er richtete sich auf. »Sie reden Blödsinn«, sagte er. »Aber ich will nicht, dass Sie sich zum Narren machen. Kommen Sie für fünf Minuten rein.«

In diesem Augenblick kam Joanne die Treppe herunter. Sie war wütend über meinen Anblick und zeigte es deutlich. »Was macht denn die schon wieder hier?«, fragte sie ihren Mann. »Du hast mir doch versprochen, dass sie nicht wieder herkommt.«

»Hallo, Joanne«, sagte ich.

»Susan behauptet, sie wüsste jetzt, wer der Mörder von Frank war«, sagte Martin. »Ich dachte, es ist das Beste, sich anzuhören, was sie zu sagen hat.«

»Ich bin nicht interessiert.«

»Was macht Sie so sicher?«, fragte ich. »Ich habe gerade schon Ihrem Mann gesagt, dass ich direkt zur Polizei gehe, wenn Sie nicht mit mir reden wollen. Also entscheiden Sie sich!«

Ich sah, wie sie einen Blick tauschten, und wusste, dass sie keine weitere Aufforderung brauchten.

»Kommen Sie rein«, sagte Martin.

Wir gingen in die Küche, die ich allmählich schon viel zu gut kannte. Andreas und ich saßen auf der einen Seite des Tisches, Martin und Joanne auf der anderen. Wir starrten uns über die Kiefernholzplatte an. Man hätte denken können, es wäre ein Kriegsrat.

»Es dauert nicht lange«, sagte ich. »Ich bin jetzt das dritte Mal bei Ihnen, und Sie sind sicher froh, wenn ich sage, es wird auch das letzte Mal sein. Wie ich Ihnen schon gleich zu Anfang sagte, haben Lawrence und Pauline Treherne mich gebeten, nach ihrer Tochter Cecily zu suchen, die verschwunden ist. Sie vermuten, dass es einen Zusammenhang mit dem Mord an Ihrem Bruder und Schwager Frank Parris vor acht Jahren gibt. Als ich das erste Mal hier war, haben Sie mich vielleicht nicht direkt belogen, aber Sie waren beim Umgang mit der Wahrheit ziemlich flexibel, könnte man sagen. Ich habe nicht lange gebraucht, um herauszufinden, dass Sie beide – und nur Sie beide – einen triftigen Grund hatten, Frank Parris aus dem Weg zu räumen. Der Zusammenbruch seiner Werbeagentur in Australien hatte zur Folge, dass er Geld brauchte. Deshalb wollte er Sie zwingen, Ihr Haus zu verkaufen. Wenn er starb und kein Testament hinterließ, würde sein Anteil dagegen an Sie fallen.«

»Er hat es Joanne hinterlassen«, sagte Martin.

»Hat er das wirklich?« Andreas und ich waren einigermaßen erstaunt.

»Das hat er jedenfalls immer gesagt.«

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum erzählen Sie mir das, Martin? Das macht Sie doch umso verdächtiger. Wenn er Ihnen das Haus vermacht hat, dann hatten Sie doch ein besonders starkes Motiv für den Mord. Aber Sie posaunen das heraus, als ob Sie mich unbedingt darauf hinweisen wollten. Genauso haben Sie mir gestern ausdrücklich erklärt, dass Sie womöglich Gelegenheit hatten, den Mord zu begehen. Und warum haben Sie uns heute hereingelassen, nachdem Sie gestern erklärt haben, Sie wollten mich nie wieder sehen?«

»Weil ich diese ganzen lächerlichen Anschuldigungen endlich mal aus der Welt schaffen will.«

»Aber das tun Sie gar nicht. Findest du, dass es so klingt, als ob er die Anschuldigungen aus der Welt schaffen will, Andreas?«

»Nein«, sagte Andreas. »Ich würde sagen, er schürt den Verdacht.«

Joanne beobachtete ihren Mann so genau, dass man den Eindruck hatte, sie hielte den Atem an. Ich wartete, was er sagen würde.

»Ich glaube, Sie sollten jetzt besser gehen«, sagte er.

»Dafür ist es zu spät«, sagte ich. »Ich kenne die Wahrheit.«

»Sie können alles Mögliche behaupten«, sagte er. »Aber beweisen können Sie nichts.«

»Doch, das kann ich, Martin«, entgegnete ich. »Ich kann beweisen, dass Sie Frank nicht ermordet haben. Und der Grund besteht darin, dass ich weiß, wer den Mord begangen hat. Und Sie waren es nicht.«

»Und weshalb sind Sie dann hier?«, fragte Joanne.

»Weil ich Sie und Ihre Scharaden satthabe. Seit ich das erste Mal hier war, haben Sie Ihre Spielchen mit mir gespielt, und damit machen wir jetzt endlich Schluss!«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Martin.

»Das wissen Sie nicht? Na schön, ich werde es Ihnen sagen. Nehmen wir mal an, Sie stecken in einer beschissenen Ehe, und Ihre Ehefrau lässt Sie jeden Tag spüren, was für ein Würstchen Sie sind –«

»Was fällt Ihnen ein?«, rief Joanne mit hochroten Wangen.

»Das hat mir jedenfalls eine sehr vertrauenswürdige Quelle erzählt. Sie hat gesagt, Sie wären ein richtiger Drachen, Joanne. Sie hat gesagt, Sie würden Martin regelrecht plattmachen. Sie war sehr erstaunt, dass er es bei Ihnen aushielt.«

»Na ja«, sagte Martin. »Ihre Quelle kann viel erzählen …«

»Richtig. Heute sieht es jedenfalls ganz anders aus, Martin. Heute geben Sie hier den Ton an«, sagte ich. »Wie kommt das, habe ich mich gefragt, und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass Joanne heute offenbar glaubt, Sie hätten Ihren Schwager umgebracht. Deshalb hat sie plötzlich Respekt vor Ihnen: Sie hält Sie für gefährlich. Und Sie haben Ihre Frau in diesem Glauben belassen, weil es Ihnen ein bisschen mehr Freiheit verschafft.«

»Das ist lächerlich.«

»Ach, wirklich? Das erklärt aber, warum Sie sich dauernd mutwillig selbst belasten. Sie wollen, dass man Sie für einen raffinierten, gefährlichen Mann hält.«

Martin stand auf. »Ich höre mir diesen Quatsch nicht mehr an«, sagte er.

»Doch das tun Sie, Martin. Denn gestern haben Sie sogar versucht, mich umzubringen, damit Ihre Lügen nicht aufgedeckt werden. Ich habe gesehen, wie Sie sich weggeschlichen haben aus Branlow Hall. Vielleicht wollten Sie sogar, dass ich Sie sehe, nachdem Ihr Anschlag missglückt war. Vielleicht wollten Sie verdächtigt werden, weil Sie dachten, es könne Ihnen niemand beweisen. Aber Sie irren sich. Es gibt Beweise.«

Martin blieb abrupt stehen und starrte mich ungläubig an.

»Als Sie im Hotel angerufen haben, um mich vor die Tür zu locken, waren Sie schon auf dem Dach. Sie haben darauf gewartet, dass ich aus dem Hotel komme, dann haben Sie die Eule heruntergestoßen.« Ich wandte mich Joanne zu. »Hat er Ihnen erzählt, was passiert ist?«

»Er hat gesagt, er hätte gehört, dass da etwas los war und dass es mit Ihnen zu tun hätte …« Joanne warf ihrem Mann einen Blick zu, der diesen Besuch allein schon zu einem Hauptgewinn machte.

»Hat er Ihnen auch gesagt, dass er von der Überwachungskamera beobachtet wurde, wie er ins Hotel kam und aufs Dach kletterte? Dass die Rezeption seine Nummer notiert hat? Hat er Ihnen gesagt, ob er Handschuhe trug? Die Polizei hat nämlich heute Morgen schon die Feuertür und die kaputte Eule auf Fingerabdrücke, Fasern, DNA und alles Weitere untersucht.«

Das war natürlich frei erfunden. Die Polizei hatte sich um überhaupt nichts gekümmert, weil das Hotel den Vorfall natürlich verschwiegen hatte. Aber das konnten Martin und Joanne ja nicht wissen. Martin sah jedenfalls totenblass aus.

»So, Martin, und jetzt – während ich noch ganz entspannt und nachsichtig bin – sagen Sie mir bitte, ob Sie mich wirklich umbringen wollten. Oder ob Sie mir bloß einen Schrecken einjagen wollten. Sagen Sie mir, dass Sie Frank Parris nicht umgebracht haben und mich auch nicht umbringen wollten, sondern alles nur Teil eines Spielchens gewesen ist, dass Sie mit Ihrer Frau gespielt haben. Martin der Mörder! Das war alles bloß Show, hab’ ich recht?«

Es entstand eine lange Pause, aber dann sagte er leise: »Ja.«

»War das ein Ja?«

»Ja!«, diesmal lauter.

»Danke, Martin. Mehr wollte ich nicht wissen.«

Ich stand auf und ging hinaus. Andreas trabte hinter mir her. Wir waren noch nicht ganz bis zum Gartentürchen gekommen, als Martin uns eingeholt hatte. Er sah schuldbewusst und jämmerlich aus. Er hätte uns besser nicht nachlaufen sollen.

»Ich habe es nicht böse gemeint«, sagte er. »Sie haben recht wegen Frank. Und auch mit dem, was ich gestern gemacht habe. Ich schwöre, ich wollte Ihnen nicht wehtun. Sie erzählen es doch nicht der Polizei, oder?«

Noch ehe ich merkte, was los war, schlug Andreas schon zu. Er drehte sich um und knallte Martin die Faust ins Gesicht. Wenn das eins von Alans Büchern gewesen wäre, hätte Martin jetzt auf dem Boden gelegen. Bewusstlos. Aber so ging es viel sanfter zu: Es machte knacks, Martin fasste sich ins Gesicht und das Blut lief ihm in den Mund. Wahrscheinlich hatte ihm Andreas achtsam die Nase gebrochen.

»Du wolltest ihm doch nicht wehtun«, sagte ich, als wir zum Wagen zurückgingen.

»Ich weiß«, sagte Andreas. »Tut mir leid.«

Ich stieg ein. »Die Entschuldigung nehme ich gerne an.«