Kapitel 15

 

 

 

 

 

 

UNTER MIR RASTE DER BODEN mit unglaublicher Geschwindigkeit vorbei und weckte in mir ein beispielloses Gefühl von Freiheit. Chad war als Bruder unbezahlbar! Ich wusste nur zu gut, wie begrenzt die Ressourcen des Clans im Moment waren, und dennoch hatte der Fürst eine Überraschung für mich bereitgehalten. Keine Ahnung, wo, aber er hatte ein schnittiges und zugleich repräsentatives Auto für mich aufgetrieben. Wir hatten es ausgeschlachtet, alles Überflüssige entfernt, einen Flugantrieb eingebaut und das Lenkrad verbessert, indem wir einen Teil der Hebel damit verbanden. Die restlichen Hebel waren mit den Pedalen verbunden, wodurch man beim Fliegen die Hände frei hatte. So wurde das Fliegen zu einer sehr bequemen Fortbewegungsart.

 

Wenn man berücksichtigte, dass die Basis des Fluggeräts zunächst auf Geschwindigkeit und nur zwei Personen ausgerichtet war, hatte ich damit einen kompakten, wendigen und komfortablen Gleiter. Barx behandelte jeden Bauteil mit seinem Verstärker, um die Karosserie vor unerwarteten Zwischenfällen zu schützen. Gemeinsam mit dem doppelschichtigen Schutz, der automatisch aktiviert wurde, sobald der Lenker an seinem Platz saß, wurde der Gleiter dadurch zu einer fliegenden Festung, die durchaus dazu angetan war, das Kräfteverhältnis dieser Welt zu beeinflussen. Als mein Gleiter Fasorg verließ, sah ich mehrere Delegationen, die in die Stadt kamen, um über Lieferungen zu verhandeln. Und so wurde der gutaussehende junge Mann, der über ihren Köpfen flink davonflog, unfreiwillig zur besten erdenklichen Werbeaktion.

 

Das Wichtigste, das mir auf der Seele gebrannt hatte, war erledigt. Ich hatte mich mit Lando geeinigt. Seine Bedingungen waren zwar nicht gerade kulant, aber ich hatte ohne ein Wort des Widerspruchs eingewilligt. Somit schuldete ich dem Clan der Vipern nun zwanzig Gleiter, hundert Schutzamulette und zehn geläuterte Kristalle. Ein hoher Preis, aber für die Baschorg-Figur war mir kein Preis zu hoch. Lando dachte, er hätte ein gutes Geschäft gemacht. Wie naiv! Denn das hatte ich gemacht! Noch dazu hatte ich das alles im Stillen einfädeln können, ohne meine Verwandten miteinzubeziehen. Hätten sie von meinem Plan erfahren, hätten sie die restlichen Kristalle gewiss sofort in Sicherheit gebracht. Aber mit dem Bären konnte man sich immer einig werden. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass unser Schutzgeist selbst gern erfahren wollte, wozu die zusammengesetzte Figur fähig war.

 

Nachdem ich eine halbe Stunde geflogen war, wurde klar, welche Verbesserung ich als Nächstes realisieren musste – ein System zur Bestimmung des aktuellen Standorts. Ich besaß eine detaillierte Karte der Provinz. Doch es war eine Sache, damit einem Straßenverlauf zu folgen, eine völlig andere, anhand eines Feldes, über das man gerade hinwegflog, zu bestimmen, welcher Fluss da in der Ferne aufgetaucht war. Entweder war es so einfach, dass ich es nicht verstand, weil ich zu kompliziert dachte, oder ich hatte eine Art topografischen Kretinismus entwickelt, dem entgegengesteuert werden musste. Ich hoffte sehr, dass Ersteres der Fall war.

 

Das Problem löste sich fürs Erste von selbst, als ich in der Ferne die Ruinen von Tonler erkannte. Obwohl die Stadt bis auf ihre Grundmauern zerstört worden war, versteckten sich hier immer noch mehrere luftverpestende Geräte. Beim letzten Mal, als ich mich der Stadt mit einer Armee von Goblins genähert hatte, hatte der rote Nebel geschwiegen, doch als ich nun über die verfallenen Gemäuer flog, geruhte er, sich bemerkbar zu machen: „Hier gibt es zwei Luftverpester. Vernichte sie!“

 

Mehr sagte er nicht. Wäre ich nicht gekommen, um genau das zu tun, hätte ich es mir wahrscheinlich anders überlegt.

 

Denn wie immer, wenn er Befehle erteilte, fasste mein Auftraggeber sich auffallend kurz. Es war, als würde er sich für einen Augenblick von einer anderen wichtigen Tätigkeit losreißen und lässig ein paar Sätze hinwerfen, um später, wenn die Zeit abgelaufen war, jeden zu bestrafen, der es gewagt hatte, seine Befehle zu ignorieren.

 

Nachdem ich gelandet war, ließ ich meinen Gleiter ohne mich etwa dreißig Meter in die Höhe steigen. Die neue Fernsteuerung war eine weitere praktische Besonderheit meines Transportmittels. Auch hier galt natürlich die maximale Standarddistanz von fünfzig Metern, aber das war mehr als genug, um zu verhindern, dass ein potenzieller Dieb auch nur auf den Gedanken kam, meinen Gleiter zu entwenden. Nicht, dass irgendjemand bisher auch nur diese Bezeichnung gekannt hätte.

 

Den ersten Luftverpester entdeckte ich tief im Keller des Palasts. Es kostete mich einige Mühe, mich durch die Trümmer dorthin vorzuarbeiten. Irgendwann zückte ich sogar mein Notizbuch und fertigte zwischendurch schnell eine Skizze meiner nächsten Erfindung an. Diese Welt verlangte mir einiges ab, wie sich herausgestellt hatte, aber ich war sicher, dass der Clan es zu schätzen wissen würde. Meine zukünftige Kreation erhielt den Arbeitstitel „Helferstab“ und war dazu bestimmt, schwere Gegenstände von einem Ort an einen anderen zu bewegen. Es erschien mir unsinnig, die Steinblöcke mit den Händen beiseitezuräumen, daher nutzte ich magische Fäden. Ich umschlang damit die größeren Steinbrocken und schob sie so mit Leichtigkeit zur Seite. Es stellte sich schnell heraus, dass das maximale Gewicht bei fünfhundert Kilogramm lag. Oder anders gesagt, zehn Einheiten pro magischer Kraft. Die wirklich großen Steine konnte ich nicht verschieben. Doch auch so beschleunigte dieses Vorgehen meine Arbeit ungemein. Ich musste nicht alle Trümmer beseitigen, es reichte, einen Durchgang freizuräumen.

 

Die Läuterung des Dunkels aus dem Kristall erforderte nicht viel Energie, aber auch die wiedergewonnene Erinnerung bescherte mir keine großen Erkenntnisse. Ich erinnerte mich nur an den genauen Wortlaut des Lehrbuchs, das mir der Lehrer ausgehändigt hatte. Für einen Walg wäre selbst das eine Meisterleistung. Ich hingegen hatte schon beim letzten Mal mein Ziel erreicht. Kaum hielt ich das Buch in Händen, kannte ich dessen Inhalt auf Strich und Komma. Auch diese neue Erinnerung war somit verschwendet. Der Lernprozess selbst förderte nichts Nützliches zutage. Aber ich hatte noch Hoffnung. Der zweite Kristall wartete auf mich. Aus irgendeinem Grund war ich davon überzeugt, dass nach diesem nutzlosen Eintauchen in die Vergangenheit etwas über alle Maßen Nützliches ans Licht kommen würde. Etwas, das mich zum mächtigsten Zauberer dieser Welt machen würde.

 

Doch, wie so oft, hatte der rote Nebel andere Pläne und setzte meiner fieberhaften Suche ein Ende. Kaum trat ich aus dem Keller, da brüllte mein Auftraggeber mir ins Ohr, dass ich fast taub davon wurde: „Held, du musst sofort die Kreatur der Bestie vernichten! Sie ist ausgebrochen und hat begonnen, sich aktiv zu entwickeln! Beeil dich!“

 

Aktiv entwickeln … Ich wusste, was das bedeutete. Der Drakonid hatte begonnen, wie am Fließband Menschen zu verschlingen. Dennoch ging es mir gegen den Strich, mich jedem Wunsch meines Auftraggebers widerspruchslos zu fügen.

 

„Ich muss zuerst den zweiten Luftverpester finden.“

 

„Verschwende keine Zeit. Der Verpester wird keinen Unterschied machen, wenn es im Umkreis von tausend Kilometern kein Leben mehr gibt. Das, was die Goblins erschaffen haben, hat kein Recht, zu existieren!“

 

„Gibt es etwas, das ich wissen sollte, bevor der Kampf beginnt?“ Die Eindringlichkeit des roten Nebels beunruhigte mich. Für gewöhnlich war er gelassener.

 

„Ja … Kann man so sagen. Die erstandene Kreatur ist immun.“

 

„Ich habe das Gefühl, dass da noch etwas fehlt. Wogegen genau ist sie immun?“

 

„Sie ist absolut immun gegen jegliche Magie sowie physischen Schaden. Es gibt in dieser Welt keine Waffe, die dieses Wesen vernichten kann.“

 

„Und wie soll ich sie dann töten?“, fragte ich verblüfft. „Was erwartest du von mir?!“

 

„Die Kreatur hat noch nicht ihre volle Kraft entfaltet. Sie hat sich vorzeitig befreit und wurde nicht vollständig aufgezogen. Du kannst sie nicht töten, aber vielleicht kannst du sie blockieren oder von diesem Planeten verbannen, so wie die beiden Wiedergeborenen. Du wirst der Erste sein, der diesem Monster gegenübertritt. Die Recken, die Magierin und die Goblins werden folgen. Sie sind bereits benachrichtigt. Sie werden sich dem Kampf in drei Stunden anschließen. Diese Kreatur ist gefährlich, Held. Wir müssen sie aufhalten, bevor es zu spät ist! Wenn du sofort aufbrichst, rechne ich es dir doppelt an!“

 

Das „großzügige“ Angebot dieses Geizhalses war erheiternd, aber mir war nicht nach Lachen. Die Sorge des roten Nebels hatte sich auf mich übertragen. Zum ersten Mal erlebte ich die unbekannte Macht so angespannt. Alle Recken an einem Ort zu versammeln, und dazu noch Liara und die Goblins … Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Wenn das nur bloß keine Falle war.

 

„Tu das nicht“, protestierte ich. „Die Recken brauchen wir nicht! Wenn du alle deine Beschützer an einem Ort versammelst, können sie mit einem Schlag vernichtet werden!“

 

„Mir bleibt keine andere Wahl. Wir müssen alle Mittel nutzen, um dieses Monster aufzuhalten!“

 

„Nein, tu das nicht! Gib mir zwölf Stunden. Ich lasse mir etwas einfallen. Ohne die Hilfe der Recken und der Magierin. Die Goblins überlasse ich dir. Siehst du denn nicht, dass das eine Falle ist?! Jemand will deine Krieger vernichten. Ich schaffe das allein!“

 

Das Schweigen zog sich in die Länge. Ich dachte schon, der rote Nebel hätte das Gespräch abgebrochen, da seine Entscheidung längst getroffen war, da stimmte er überraschend zu: „Du hast zwölf Stunden, sie beginnen jetzt. Halte die Kreatur auf, Held! Lass nicht zu, dass sie einen weiteren Kontinent verschlingt.“

 

Wie bitte?! Geografie war nie meine Stärke gewesen, aber mit dem Aufbau dieser Welt war ich sehr wohl vertraut. Auf diesem Planeten gab es nur einen einzigen, riesigen Kontinent, der in drei Imperien und einige weitere Gebiete außerhalb ihrer Gerichtsbarkeit aufgeteilt war. Es gab einige Inseln, die zum Teil so groß wie ein ganzes Imperium waren, aber von irgendwelchen anderen Kontinenten hatte ich noch nie gehört. Was für eine interessante Neuigkeit. Ich wollte meinen Auftraggeber näher dazu befragen, aber er war bereits fort. Wahrscheinlich wollte er sich ansehen, wie die unbekannte Kreatur alle an einem Ort versammelten Banditen verschlang. Als der Goblin den Ort verraten hatte, an dem die letzte Kreatur gefangen gehalten wurde, war sie sofort sicher gewesen, dass der berüchtigte Herzog, der das ganze Gesindel anführte, eine braune, behaarte Haut hatte. Die Hinweise waren eindeutig.

 

Ich hatte aber nicht vor, den Banditen unvorbereitet zu Hilfe zu eilen. Wie sehr der rote Nebel mich auch zur Eile trieb, ich konnte nicht auf eine weitere Erinnerung verzichten. Besonders da die Vorherige damit geendet hatte, dass ich das Studium des geheimen Lehrbuchs abgeschlossen hatte. Nun musste es entweder mit einer Prüfung, neuem Wissen oder der praktischen Anwendung des Wissens weitergehen. Und das bedeutete – neue Fähigkeiten für mich. Die halbe Stunde, die ich dafür aufwenden würde, würde für die Gesamtsituation keinen Unterschied machen. Der Flug zu den Bergen würde etwa eine Stunde in Anspruch nehmen. Dann noch eine Stunde, um den Ort zu finden, an dem die Bestie erschienen war. Der Kampf würde wohl kaum zehn Stunden dauern. Ich konnte es mir also erlauben, ein paar Minuten meiner Zeit für meine eigenen Bedürfnisse aufzuwenden.

 

Zum Glück musste ich nicht lange suchen. Ich wusste bereits, wo das zweite Gerät sich befand.

 

* * *

 

„Ischar-Mor, mir wurde von deinen Erfolgen im Studium berichtet.“ Der älteste Schüler des Erzmagiers Ranut-Vys war persönlich an der imperialen Akademie erschienen, um meine Fortschritte zu überprüfen.

 

„Vielen Dank, Meister. Ich freue mich, dass Sie Zeit für mich gefunden haben.“ Ich verbeugte mich bereitwillig. Für den Erzmagier war er nur sein ältester Schüler, doch für alle anderen war er einer der mächtigsten Walge dieser Welt. Und ich empfand aufrichtigen Respekt für ihn, nachdem er mich in so kurzer Zeit die Arbeit mit dem Schnellspeicher gelehrt hatte.

 

„Die Ergebnisse der Prüfung zur Manifestierung der Kraftfäden haben den Lehrmeister beeindruckt. Nur sehr wenige bewältigen diese schwierige Aufgabe innerhalb von drei Monaten.“

 

„Der ehrwürdige Meister beschämt mich.“ Die Spitze meines Schweifs zuckte. Lob aus dem Mund dieses Walgs war etwas Besonderes. Aber mir war klar, dass der älteste Schüler nicht deswegen gekommen war. Ich fragte ihn ganz offen danach.

 

„Dein Studium muss erst mal warten. Das, was uns bevorsteht, erfordert die Anwesenheit aller Schüler von Ranut-Vys. Sowohl derjenigen, die ihre Ausbildung absolviert haben, wie auch solcher Taugenichtse wie dir.“

 

Der scherzhafte Ton, den der älteste Schüler anschlug, machte die Sache noch unwirklicher. Offenbar war etwas wirklich Außergewöhnliches geschehen.

 

„Ja, Meister. Soll ich packen gehen oder brechen wir sofort auf?“

 

„Wenn nur alle so wären …“ Der älteste Schüler seufzte, und erst jetzt fiel mir auf, dass ich seinen Namen nicht kannte. Eigenartigerweise wurde er von allen nur „der älteste Schüler“ genannt. Während der Woche, in der er mich zum Magier gemacht hatte, war sein Name kein einziges Mal gefallen.

 

„Wir brechen sofort auf. Du erhältst alles Nötige vor Ort. Der Rektor weiß Bescheid, dass du abgeholt wurdest.“

 

Ein Portal führte uns in eine felsige Landschaft. Wir befanden uns am Rand einer riesigen Schlucht. Was sich in einiger Entfernung abspielte, war der reine Wahnsinn. Ich wurde sofort von der freischwebenden Energie an diesem Ort durchdrungen. Staub und Nebel beschränkten die Sicht, aber meine innere Stimme schrie förmlich, dass wir hier nicht willkommen waren. Unterstützt wurde diese Stimme von donnernden Schlägen wie von Metall auf Metall, die mir kalte Schauer über den Rücken trieben und klangen, als stünden wir vor der gewaltigen Schmiede eines Riesen. Ganz zu schweigen von den markerschütternden Schreien der Dämonen, die keine Sekunde verstummten.

 

„Ischar-Mor, in die Formation!“, hörte ich den Befehl des Kommandanten. „Dein Ziel sind die mittleren Dämonen. Nach Möglichkeit auch die minderen, aber verschwende deine Kräfte nicht mit ihnen.“

 

Natürlich! Wozu sonst hätten sie einen nach Hause geschickten Schüler zurückrufen sollen, wenn nicht für das, was er von allen in dieser Welt am besten konnte? Nur wenige schafften es, mittlere Dämonen so nahe an sich heranzulassen und genau im richtigen Moment den Zauber zu aktivieren, wie ich. Ich schloss mich den Magiern in der vordersten Reihe an, wo die Besten der Besten kämpften. Doch nichts geschah. Keine feindlichen Horden stürmten uns entgegen.

 

„Langsam vorrücken“, befahl Ranut-Vys. „Alle zehn Meter Portale aktivieren.“

 

Der Befehl erschien mir seltsam, aber wer war ich schon, den großen Erzmagier anzuzweifeln? Wir schlichen vorwärts, in dichten Nebel gehüllt. Die Sicht verschlechterte sich zusehends, bis ich meinen ausgestreckten Speer kaum noch sehen konnte. Die freischwebende Energie zog sich zu winzigen Blitzen zusammen, die über unsere Waffen und Rüstungen zuckten, ohne jedoch Schaden zu verursachen. Die Schlaggeräusche wurden lauter, genau wie die Schreie der Dämonen. Ich fürchtete, im dichten Nebel kämpfen zu müssen, doch genauso schnell, wie er gekommen war, löste er sich wieder auf. Wir standen in einem riesigen Kreis, in dessen Mitte ein Kampf stattfand – nicht ums Leben, sondern bis in den Tod. Eine riesige Menge Dämonen, unter denen ich zu meinem Entsetzen einen Nestmeister sowie gleich vier höhere Dämonenzauberer entdeckte, umringte die wundervollste Kreatur, die diese Welt je gesehen hatte. Ein Drache! Leibhaftig, azurgrün, wie aus einem Märchen, dem er auch tatsächlich entsprungen zu sein schien. Um die Macht dieser Wesen rankten sich Legenden, und obwohl seit tausenden von Jahren kein Drache mehr gesehen worden war, war die Ehrfurcht vor diesen märchenhaften Wesen um nichts geringer geworden. Doch trotz seiner enormen Kräfte hatte der Drache diesen Kampf verloren. Angeführt vom Nestmeister fügten die Dämonen dem perfekten grünen Körper eine schreckliche Wunde nach der anderen zu, wobei sie klar und methodisch vorgingen.

 

Der Drache bemerkte uns, und meine Knie knickten beinahe ein, als eine fremdartige, aber mächtige Stimme in meinem Kopf hallte: „Walge, helft mir! Die Dämonen sind zu viele! Ich brauche Zeit, um ihnen Schaden zuzufügen. Lenkt sie ab!“

 

„Bewahrer“, sagte Ranut-Vys ehrfürchtig und begann sofort, Befehle zu erteilen. „Bereitmachen zum Kampf! Alle Energie zu mir! Die jüngsten Schüler – Blut! Ich brauche alles, was ihr habt. Errichtet einen Teleport neben mir!“

 

„Wo willst du hin?“ Der älteste Schüler klopfte mir auf die Finger, als ich nach meinem Ritualdolch griff, um ihn mir ins Herz zu stoßen. „Dein Platz ist ganz vorne! Das ist das letzte Gefecht. Von nun an und bis zum Ende des Kampfes bist du ein älterer Schüler! Merk dir das! Und jetzt her mit deiner Energie! Alles, bis auf den letzten Tropfen!“

 

Mein Schweif zuckte vor Freude über diese Ehre, aber ich bekam meine Emotionen sofort in den Griff und begann, alles, was ich zusammenraffen konnte, zu meinem Meister zu senden. Und das war gar nicht wenig. Eine kolossale Magiewolke schwebte im Nebel. Ich ließ die Magie in einem so starken Strom fließen wie nie zuvor, doch es war eindeutig nicht genug. Aus den Händen des Erzmagiers schoss ein Strahl auf den Nestmeister zu, doch er konnte sich nicht mit dem Strahl messen, der zur Antwort von Baschorg abgefeuert wurde. Wie sehr wir uns auch bemühten, wir waren ganz offensichtlich zu wenige. Hier war eine ganze Armee gefragt, nicht ein einzelner Erzmagier mit einer Handvoll Schüler.

 

„Mittlere – Blut!“, krächzte Ranut-Vys, während er weiterhin die gewaltigen Energieströme lenkte. Dutzende blutiger Rinnsale wurden von dem Magier absorbiert, doch selbst das verstärkte den Energiestrom nur unwesentlich. Mittlerweile hatten die Dämonen begriffen, woher die neue Bedrohung kam, und ich hatte Wichtigeres zu tun, als den Erzmagier zu beobachten. Ich begann, das zu tun, wozu ich gerufen worden war – mittlere Kreaturen zu vernichten.

 

„Energie! Ich brauche mehr Energie!“, rief Ranut-Vys, aber es war umsonst. Unser Trupp, der mühelos riesige Gebiete von Dämonen gesäubert hatte, war ohnmächtig im Angesicht wahrer Macht. Der Nestmeister war der Dritte in der Hierarchie der Dämonen. Insgesamt gab es nur drei oder vier davon auf diesem Planeten. Wären es mehr gewesen, hätten sie sich gegenseitig bekämpft. Und nun demonstrierten sie uns anschaulich, wer die wahre Macht auf diesem Planeten besaß.

 

„Stümper! Ihr seid alle Stümper!“ Das letzte Energiepartikel floss aus den Händen des Erzmagiers und der Strahl versiegte. Der Nestmeister stieß ein donnerndes Brüllen aus, das die letzten Walge, die noch übrig waren, in die Knie zwang, wobei sie sich an den Kopf fassten und vor Schmerz aufheulten. Irgendwie schaffte ich es, mich auf den Beinen zu halten, obwohl es sich anfühlte, als würde mir der Kopf zerspringen. Ich sah einen übermäßig flinken Dämon und belegte ihn mit einem Zauber, um nicht in seinem Schlund zu landen. Hauptsache, ich konnte mir diese Kreaturen vom Leib halten. Das gelang mir auch, aber ich schien damit der Einzige zu sein. Neben mir in der Reihe, buchstäblich drei, vier Meter von mir entfernt, schaffte es niemand mehr, sich vor den Dämonen zu schützen. Die Kreaturen packten die Magier und taten das Schrecklichste, was sie ihnen antun konnten. Sie saugten ihre Essenz aus ihnen heraus und rissen sie so aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburt.

 

„Wir brauchen eine Armee“, rief Ranut-Vys. Dann trat er mit einem Schritt durch das nächste Portal, das sich hinter ihm schloss, sodass die Dämonen den Fliehenden nicht verfolgen konnten. Was der Nestmeister nicht geschafft hatte, gelang dem Erzmagier – ich erstarrte zur Salzsäule. Denn für sein Verhalten gab es keine treffendere Bezeichnung als Verrat. Er überließ seine Schüler ihrem Schicksal, das darin bestand, von den Dämonen zerrissen zu werden.

 

„Ischar-Mor, schlaf nicht!“ Die Stimme des ältesten Schülers riss mich aus meiner Erstarrung. Ich spürte einen harten Schlag ins Gesicht. Fast hätte meine Wut sich auf meinen Angreifer entladen, da begriff ich, dass er mein wahrer Meister war. Derjenige, der mich tatsächlich die Magie gelehrt hatte. „Aufwachen! Wir müssen alle Walge töten! Nur so haben sie die Chance auf eine Wiedergeburt! Ich kümmere mich darum. Halte du mir die Dämonen vom Leib!“

 

Anstelle einer Antwort aktivierte ich den Zauber gegen mittlere Dämonen und attackierte eine besonders hartnäckige Kreatur, die sich zu nahe an uns herangewagt hatte. Ranut-Vys’ ältester Schüler sah, dass ich mich wieder unter Kontrolle hatte, und machte sich daran, etwas zu tun, das jede Kampfmoral vernichten musste – er begann, seine Mitstreiter zu töten. Rigoros und mit den effektivsten und tödlichsten Zaubern, von denen ich die meisten noch nie gesehen hatte. Die Feuerbälle, mit denen die Schüler normalerweise zur Übung um sich warfen, waren nichts gegen das, was der Walg hier tat. Die Körper der anderen Magier zerfielen zu Staub, verglommen oder wurden zu übelriechenden, trüben Schleimpfützen, aber niemand leistete Widerstand. Der Meister schenkte den anderen Magiern die Chance auf eine Wiedergeburt. Und damit die Chance, für diese schändlich Niederlage Rache zu üben. Und Ranut-Vys zu fragen, warum er seine Schüler im Stich gelassen hatte!

 

„Finde mich, wenn du aufwachst! Mein Name ist Gasat-Sur!“ Mit diesen Worten schleuderte der älteste Schüler einen tödlichen Zauber in meine Richtung. Mittlerweile interessierten sich auch die höheren Dämonenzauberer für uns, und unsere Verteidigung stand kurz vor dem Zusammenbruch. Ich wusste selbst nicht, wie ich den Schutz so lange hatte aufrechterhalten können. Offenbar hatte die Angst, meinen wahren Meister zu enttäuschen, meine letzten inneren Reserven freigesetzt. Mein Körper erzitterte unter der Wirkung des Zaubers, und das Letzte, was ich sah, bevor die Dunkelheit mich endgültig übermannte, war der zu Boden gestürzte Bewahrer. Die Dämonen hatten eine Lücke in der Verteidigung des Drachen gefunden. Diese Welt würde nie wieder dieselbe sein.

 

So endete meine vierte Reinkarnation.

 

* * *

 

Ich stand im Keller eines eingestürzten Gebäudes und kämpfte darum, einen klaren Kopf zu bekommen. Die Erinnerung an Ranut-Vys’ Verrat hatte mich tief getroffen. Was der Erzmagier getan hatte, passte nicht ins gewohnte Bild jener Welt, und dennoch war es geschehen. Anstatt sich seiner Schüler anzunehmen und nach Möglichkeit irgendeinen schrecklichen Zauber über die Umgebung zu legen, der alle gemeinsam in die Wiedergeburt schickte, hatte der Erzmagier beschlossen, vom Schlachtfeld zu fliehen und nur seine eigene Haut zu retten. Ja, er hatte wahrscheinlich vor, mit einer riesigen Armee zur Schlucht zurückzukehren und die Dämonen zu besiegen, aber das würde seinen älteren Schülern nicht mehr helfen, von denen die meisten für immer aus dem Kreislauf der Wiedergeburt herausgerissen worden waren. Selbst die Tatsache, dass mir die perfekten Vernichtungskonstruktionen, die Gasat-Sur benutzte hatte, in Erinnerung geblieben waren, konnten an meinem niederschmetternden Zustand nichts ändern. Immerhin hatte ich in einer Sache recht behalten – diese neue Erinnerung war tatsächlich schicksalsschwer. Aber ich hatte nicht erwartet, dass sie von einem so monumentalen Ereignis handeln würde.

 

„Die Kreatur der Bestie gewinnt mit jeder Minute an Stärke! Held, unsere Abmachung über den zeitlichen Aufschub ist hinfällig. Alle Recken, die Magierin und die Goblins wurden zum Kampf gegen das Monster aufgerufen. Die Schlacht beginnt in zwei Stunden und wird erst mit der vollständigen Vernichtung enden. Entweder von ihm, oder von uns! Wenn du nicht sofort in den Kampf ziehst, wirst du ausgelöscht!“

 

Der rote Nebel war schlicht und ergreifend in Panik. Anders konnte man seinen Zustand nicht beschreiben. Eigentlich war mein eigener Zustand auch nicht ideal für eine Schlacht gegen ein Monster, aber mein Auftraggeber hatte ein Wort benutzt, das bei mir alle Alarmglocken schrillen ließ: Magierin. Ich wollte Liara nicht in der Nähe des wiedergeborenen Monsters haben. Sie sollte sich ihrem Studium widmen. Ich musste als Erster dort sein, um das Ausmaß der Katastrophe einzuschätzen.

 

Eine halbe Stunde später hatte ich mein Ziel erreicht. Ich hatte alles aus dem Gleiter herausgeholt. Der rote Nebel zeigte mir die Richtung an, aber sobald die Berge in Sicht kamen, war das nicht mehr nötig. Die riesigen, schwarzen Rauchsäulen, die hoch in die Luft stiegen, waren kaum zu übersehen. Ich flog näher und sah die einst so mächtige Festung. Der Ort, an dem die Banditen sich niedergelassen hatten, hätte früher einer gewaltigen Armee standgehalten, doch nun lag er in Ruinen. Die Macht, die hier hindurchgefegt war, war so zerstörerisch, dass das jahrhundertealte Gemäuer unter ihr eingestürzt war.

 

Ich kreiste über der Festung, auf der Suche nach Überlebenden, doch vergeblich. Von den Banditen war nur die Erinnerung geblieben. Der rote Nebel war immer noch außer sich und befahl mir, weiter in die Berge zu fliegen. Ich tat, wie mir geheißen, doch eine Minute später hielt ich abrupt an. Ich konnte nicht weiterfliegen. Auf einem sanften Berghang saß ein Wesen, das ich in dieser Welt definitiv nicht zu sehen erwartet hatte. Ich hatte mitangesehen, wie die Dämonen es vernichtet hatten. Die Kreatur, die Ranut-Vys den Bewahrer genannt hatte. Inmitten eines Berges blutiger Körper thronte ein gewaltiger Drache und verschlang, was von der riesigen Armee der Banditen übrig war. Die schiere Größe der Kreatur übertraf alles, was ich jemals gesehen hatte. Sie war sogar größer als der Elefant in der Welt der Totems. Neben diesem Monster hätte dieser wie ein Käfer gewirkt. Der Drache war gut und gerne so hoch wie ein dreistöckiges Haus. Seine Länge war schwer einzuschätzen. Das Monster verschwand zum Teil unter dem Leichenberg seiner Opfer. Ansonsten war es das perfekte Abbild des Bewahrers aus meiner Erinnerung – der schlangenartige Körper, die Klauenarme und Klauenbeine, die riesigen Flügel, die im Moment gefaltet an seinem Rücken lagen. Der Körper des Drachen war von grünen Schuppen bedeckt, und ich wusste instinktiv, dass es nichts in dieser Welt gab, was sie durchbohren konnte. Weder Stahl, noch Magie.

 

Der Drache hatte sein neues Ziel erfasst und riss sich von dem leblosen Fleisch los, das er gerade in sich hineinstopfen wollte. Einen Moment lang schien er zu überlegen, wen er da vor sich hatte. Einen Vogel oder doch einen Menschen? Schließlich fiel die Entscheidung und das Monster kroch elegant aus dem Leichenhaufen heraus. Ich konnte nicht umhin, die Schönheit und Anmut des Drachen zu bewundern, trotz der tödlichen Gefahr, die er ausstrahlte.

 

„Die Tochter der Bestie … Dieser Kontinent ist dem Untergang geweiht. Keine Macht dieser Welt kann ihn mehr abwenden. Ich werde alle Armeen zurückrufen, die hierher entsandt wurden, und die Evakuierung in Gang setzen, Held. Ich muss versuchen, so viele zu retten, wie ich nur kann. Du bist nun auf dich allein gestellt. Versuche, die Kreatur aufzuhalten, wenigstens für einen Tag.“

 

Als habe er den roten Nebel gehört, riss der Drache sein Maul auf und erfüllte den Raum mit einem besinnungslosen Brüllen. Dieses Monster hatte nichts mit dem Bewahrer gemeinsam, den die Dämonen vernichtet hatten. Denn diese Kreatur wollte nur eines: fressen! Dann schwang sie sich in die Lüfte und ich hatte andere Sorgen, als nach Gemeinsamkeiten zu suchen.

 

Ich brauchte dringend einen Plan, um lebend aus dieser Situation zu entkommen.