FATHER AND SON
Cat Stevens
I
ch bin, was man ein Beziehungstier nennt. Ohne Familienzusammenhalt könnte ich keinen Monat überleben. Mit meinen Eltern war ich bis zu ihrem Tode nie zerstritten, was keine Kunst war, denn mein Vater starb früh. Meine Mutter machte mich zwar meistens zur Schnecke, wenn sie mit mir sprach, aber richtete damit keine bleibenden Schäden an, denn ich wusste, dass sie mich aus ganzem Herzen liebte. Auch wenn sie, ich muss ungefähr sechzehn gewesen sein, ziemlich taktlos laut darüber nachdachte, was die Mädchen an mir fanden: »Du siehst aus wie ein Rabe.« Seelische Grausamkeiten wie diese habe ich meinen Kindern erspart, aber Erziehungsfehler sind mir ganz sicher unterlaufen.
Damit Sie es besser machen, werde ich mir im Folgenden Gedanken zum Thema Eltern und Kinder machen. Vor einer unnötigen Tiefe müssen Sie sich nicht fürchten, das wissen Sie, wenn Sie bis hierhin gelesen haben. Die wäre auch gar nicht angemessen, denn in Bezug auf den Umgang mit Kindern wurschteln sich die meisten Eltern genauso durch wie meine Frau und ich. Dabei machen wir jeden Tag was falsch und müssen dafür irgendwann bezahlen. Deswegen habe ich immer andere Eltern bewundert, die nach Prinzip erzogen
haben, und diese um ihre Erfolge beneidet. Ich habe es als Misserfolg gewertet, wenn mein Sohn geklagt hat, er hätte »was im Auge«, während der Nachwuchs meines Freundes seinem Vater mit klirrender Präzision mitteilte, er habe dort ein »Fremdkörpergefühl«.
Erziehungsliteratur gab es auch zu meiner Zeit schon genug, meine Mutter legte sie mir des Öfteren kommentarlos auf den Nachttisch. Selber hat sie wohl auf pädagogische Nachhilfe verzichtet, denn dann wäre mir die eine oder andere spontane Ohrfeige erspart geblieben. Falls ich die Erziehungsratschläge überhaupt gelesen haben sollte, muss ich dabei zügig eingeschlafen sein, denn im Moment elterlicher Hilflosigkeit ist mir keiner davon eingefallen. Auch die Tatsache, dass ich Erziehungswissenschaften und Pädagogik studiert habe, hat mir in Momenten der Verzweiflung nur bedingt geholfen. Meine Frau hat allerdings regelmäßig auf diesen akademischen Unterbau gesetzt und mir in kniffligen Situationen die Handlungsvollmacht übertragen.
Wir haben die Fehler gemacht, die alle Eltern gemacht haben. Dass wir unsere Kinder verwöhnt haben, ist uns beiden klar. Mein jüngerer Sohn wuchs, bereits in den USA, in einem Haus auf, das zwei Ebenen hat. Ich erinnere mich noch gut, wie Tristan immer wieder auf der oberen Galerie erschien und wortlos drei Finger erhob. Thea verschwand daraufhin sofort in der Küche und eilte kurz danach mit drei Hotdogs in die obere Etage. Pädagogen und Ernährungsfachleute fallen sich an dieser Stelle weinend in die Arme, aber unser Kind war glücklich. Dies ist der Moment, in dem ich solche Fehler eingestehe, um Ihnen damit die Chance zu geben, es besser zu machen. Bringen Sie nur zwei Hotdogs! Behalten Sie die Lufthoheit
!
Wobei Sie vermutlich eher zu der Generation der Großeltern gehören, die das, was sie als Eltern schon falsch gemacht haben, noch verschlimmern, wenn sie Opa und Oma und damit gänzlich unbelehrbar sind.
Meine Geschichte von Vätern und Söhnen beginnt am Anfang eines verflossenen Jahrhunderts. Obwohl mein Vater nicht alt wurde, umfasst die Gottschalk-Saga, in deren Mittelpunkt ich stehe, die Zeit vom November 1902, seinem Geburtsjahr, bis zum 1. Januar 2018, dem Geburtstag meines zweiten Enkels. Es könnte einem schwindlig werden, wenn man bedenkt, wie sich die Welt innerhalb von nur drei Generationen verändert hat. Auch wenn ich hoffe, meinem Enkel noch die Geschichte vom kohlschwarzen Raben weitergeben zu können, die mir mein Vater erzählt hat, als ich klein war, ist doch vieles aus seinem und auch aus meinem Leben für die Generation der Enkel auf ewig versunken. Um vieles ist es schade. Bei manchem muss man froh sein, dass es ihnen erspart blieb, gleichzeitig blieb ihnen die Chance verwehrt, aus den Fehlern der Eltern zu lernen. Es gibt Dinge, deren Wirkung sich ihnen nie erschließen wird, auch wenn es unserer Generation viel bedeutet.
Ich spreche hier nicht von der jeweiligen politischen Großwetterlage und betrachte es nicht als Verlust, den Zweiten Weltkrieg nicht miterlebt zu haben. Die Geschichten vom Winter vor Stalingrad habe ich immer wieder von Menschen gehört, die ihn erlebt haben. Einen besseren Menschen haben sie nicht aus mir gemacht. Ebenso wenig werden meine Enkel es vermissen, den Stacheldraht auf der Mauer gesehen zu haben, die fast vierzig Jahre meines Lebens Deutschland in zwei Hälften teilte. Ich rede von den Erfahrungen, die unseren ganz persönlichen Lebensweg prägen
.
Nehmen wir das Beispiel der Taufe. Letztes Jahr habe ich in Polen die Kirche besucht, in der mein Vater Anfang des 20. Jahrhunderts getauft wurde. Das hat mir was bedeutet. Irgendwo in der Nähe muss das Haus gestanden haben, vor dem das »Tigerle« überfahren wurde. Der Tod des Dackels war die traurige Pointe der anderen Geschichte, die mir mein Vater immer wieder erzählt hat. Eigentlich hatte er nur diese zwei Geschichten drauf: die vom kohlschwarzen Raben und die vom »armen Tigerle«. Ich wollte auch keine anderen hören. Beide hatten eine schlichte Moral. Die vom Tigerle war, dass man überfahren wird, wenn man nicht aufpasst. Keine ganz schlechte Botschaft für einen Heranwachsenden, und ich bin auch bis heute nie mit etwas kollidiert, das mich gekillt hätte. Die vom Raben ist, dass er sich vom schlauen Fuchs dazu verleiten ließ, ihm das Stück Käse vor die Füße fallen zu lassen, das er bis dahin als sichere Beute im Schnabel gehalten hatte. Dazu hatte es nur einer Schmeichelei von Meister Reineke bedurft. Der hatte dem Raben scheinheilig bezeugt, ein schöner Vogel zu sein, und die Frage angehängt, ob er denn auch so schön singen könne. Natürlich hatte der Idiot sofort losgekrächzt. Die Lehre aus dieser Fabel habe ich zwar grundsätzlich verstanden, aber – im Rückblick – vielleicht nicht ganz so konsequent befolgt wie die vom toten Dackel. Aber beide haben sich in meine kognitive Struktur gegraben.
Ein Dackel und ein Rabe bilden die Summe meiner literarischen Früherziehung, und ich wage es, ein Buch zu schreiben. Meine Söhne habe ich – vermutlich aber in leicht angekotzter Diktion – mit pädagogisch wertvoller Kinderlektüre in den Schlaf gelesen. Beide nehmen Bücher nur widerwillig zur Hand. Daran, eins zu schreiben, denkt keiner
von beiden. Und das, obwohl ich den großen Sohn, Achtung, Betonungssensation, RoMAN genannt habe.
Zurück zur Taufe und meinem Vater. Kürzlich habe ich von Tante Edeltraud erfahren, dass ihre Mutter, Tante Sophie, das Taufkleid meines Vaters über die Jahrhunderte gerettet hat. Auch ich wurde offenbar damit zum Kinde Gottes geweiht, es gibt sogar ein Beweisfoto. Zum Glück war das Taufkleid letztmals bei Tante Sophies Enkel Michael im Einsatz und ist deshalb noch blau (ist das heute noch politisch korrekt?) unterfüttert. Bei Michaels älterer Schwester Bettina war es jedenfalls noch rosa.
Der liebe Gott hat mir einen (männlichen) Enkel beschieden, das Taufkleid hat auf wundersame Weise bereits den richtigen Farbton. Tante Edeltraud glaubt an Fügung, ich an Zufall. Die Taufe selbst warf im Vorfeld eine Menge von Fragen auf, die ich mir in Teilen gerne erspart hätte. Zuerst einmal die, ob es überhaupt nötig ist, dass der kleine Sebastian getauft wird. Das haben sich meine Großeltern ganz sicher nicht gefragt, als ihr Sohn, mein Vater Hans, im schlesischen Kaulwitz geboren wurde. Die Gottschalks waren katholisch, und nach der damals gültigen Glaubenslehre wurde ein ungetauftes Kind, wenn es früh verstarb, des ewigen Lebens nicht teilhaftig. Der Säuglingstod war zu dieser Zeit nichts Außergewöhnliches und in der Familie meines Vaters bereits vorgekommen. Man wollte also jedes Risiko vermeiden. Noch zu meiner Zeit lernte ich im Religionsunterricht, dass ungetaufte Kinder in einer Art Limbo verharren und bestenfalls nach einer Zwischenstation im Fegefeuer das Licht der Herrlichkeit erblicken. Für meine Großeltern war das eine schreckliche Vorstellung, also wurde der kleine Hans umgehend getauft. Der entsprechende Eintrag findet sich für den 2.
Dezember 1902 im Kaulwitzer Kirchenbuch. Ich habe eine Kopie, der polnische Pfarrer mit dem Blinddarm hat mittlerweile geliefert.
Auch ich wurde nicht gefragt, sondern mit Kerze, dem bereits erwähnten Taufkleid und Tante Tilla als Taufpatin ein paar Tage nach meiner Geburt in der Taufkapelle meiner Geburtsklinik in Bamberg zum Kind Gottes, in dessen väterliche Arme ich mich noch heute gelegentlich flüchte. Im Tagesgeschäft mache ich Gott nicht immer Freude. Es gibt sogar Momente, in denen ich ernsthaft bezweifle, dass es ihn gibt. Trotzdem war ich irgendwie froh, als mein Sohn Roman und seine Frau sich für Sebastians Taufe entschieden hatten. Melissa ist Amerikanerin und irgendwie auch katholisch. Zumindest ist es der Mann, den ihre Mutter geheiratet hat, nachdem sie sich von ihrem ersten hat scheiden lassen, der, glaube ich, Presbyterianer war. Sagen wir mal, sie ist im weitesten Sinne katholisch. Denn von dem Presbyterianer ist Melissas Mutter ja eh getrennt, und damit ist sie schon aus der Nummer raus. Scheidung bedeutet ja, wenn es nach Rom ginge, immer noch den Ausschluss von den Sakramenten. Ob eine geschiedene Mutter auch die jung verheiratete Tochter gleich mit ins ewige Verderben reißen muss, ist eine Ermessensfrage. Ich sehe es so, wie ein gütiger Gott es sehen würde, und mein Sohn ist auf jeden Fall nachweisbar und ordnungsgemäß getauft.
Um alles in die richtige Bahn zu lenken, war ich auf dem Pfarramt meiner Heimatgemeinde und habe die Taufe vorbereitet. Es gibt dort zwei Kirchen, zu meiner Zeit waren es auch noch zwei Pfarreien. Das eine Gotteshaus ist in den Sechzigerjahren erbaut worden und verbreitet die Feierlichkeit einer Kaufhausfassade. Das andere ist »Unserer Lieben
Frau« geweiht und hat noch viel Goldbronze im Hauptaltar. Dort habe ich als kleiner Junge ministriert und im Glockenturm unter Spinnweben nach einem verborgenen Schatz gesucht, der bis heute nicht gefunden wurde. Mit Rücksicht auf die amerikanische Verwandtschaft habe ich mich für die Goldbronze entschieden. Der Pfarrer war zu dem festgesetzten Termin im Urlaub, und zuständig wäre eigentlich der indische Kaplan gewesen. Ich habe rumgedruckst und in aller Demut gefragt, ob das nicht zu international ist, wenn ein Priester aus Indien in gebrochenem Deutsch das amerikanische Kind meines deutschen Sohnes in Oberfranken tauft. Daraufhin hat sich der andere Kaplan bereit erklärt, seinen Urlaub zu verschieben. Der deutsche Kaplan kommt aus Erlangen, sein Latein ist besser als sein Englisch, und ich habe als Übersetzer fungiert. Also erst vom Frängischn ins Deutsche und dann ins Englische. Der junge Geistliche hat mir nämlich versichert: »Ich mach so a Daufe immer gern a weng logger. Hot der Sebastian denn scho a Brüderla?«
Damit waren wir bereits wieder auf theologischem Glatteis. Mein jüngerer Sohn ist bereits geschieden. Obwohl ich ihm damals erklärt hatte, dass es keine gute Idee wäre, mit zwanzig Vater und Ehemann zu werden, wusste er das natürlich besser. Drei Hotdogs auf einmal waren auch keine gute Idee, und er hat sie gekriegt. Tristan hat entschieden, dass sein Sohn, der inzwischen sieben Jahre alt ist, später selbst entscheiden soll, welcher Religionsgemeinschaft er angehören möchte. Er sieht sich als Agnostiker, wir hatten kürzlich eine lautstarke Diskussion darüber, was den Agnostiker vom Atheisten unterscheidet. Ich sah meine Mutter in ihrem Grabe rotieren, und wie es sich für einen Katholiken gehört, lasten seitdem schwere Schuldgefühle auf meinen Schultern.
In einem Moment innigen Verständnisses zwischen mir und Tristan versuchte ich deshalb, eine kuschelige Doppeltaufe beider Enkel ins Gespräch zu bringen.
Keine Chance.
Wenigstens hat er nichts dagegen, dass ich den großen Enkel mit zur Taufe des Kleinen nehme. Ich muss ihn bloß so am Taufstein positionieren, dass er nicht durch einen unglücklichen Zufall von einem Spritzer Weihwasser getroffen wird.
Den Erlanger Kaplan habe ich dann einfach gefragt, ob man auch ein Heidenkind in einen Ministrantenkittel stecken könnte – und es geht! Offenbar gibt es kein kanonisches Recht, das dies verbietet. Vielleicht lässt sich der Heilige Geist unbemerkt auf beide Enkelkinder nieder. Wenn Jameson im Nachklang wie durch ein Wunder schneller und leserlicher in sein Schulheft kritzelt, lässt sich vielleicht auch mein ungläubiger Thomas, nein, Tristan, von Gottes Allmacht überzeugen.
Die Anreise der kalifornischen Verwandtschaft war selbst für mich als Vielflieger eine logistische Herausforderung. Dazu kam natürlich eine gewisse Sensibilität, welche Verwandten besser nicht aufeinandertreffen und wie man es anstellt, dass die es nicht bemerken, dass man vorsichtig um sie herum geplant hat.
Auch wenn ich in diesem Moment noch nicht ahnte, dass meine eigene Beziehung irgendwann wackeln würde, gab es in meiner Familie bereits Ansätze von Patchwork. Mein Sohn Tristan und meine Schwester waren von ihren Ehepartnern bereits geschieden. In den Gesprächen darüber war oft von »Ehrlichkeit« die Rede und vom Mut, »sich Dinge einzugestehen«. Ich fühlte mich zu diesem Zeitpunkt noch
herausgefordert zu widersprechen, weil ich eher dazu neigte, Risse in meinem Weltbild mit Honig zu verspachteln, bevor sie so groß wurden, dass die Gefahr bestand hineinzufallen.
Mein großer Sohn hat Teile meiner Harmoniesucht übernommen, der jüngere verzichtet dankend. Ich ärgere mich manchmal darüber, aber es beruhigt mich auch. Sie hampeln nicht rum, um mir zu gefallen, so wie ich es mit meinen Eltern gemacht habe, sie sind einfach, wie sie sind.
Wie jeder Vater frage ich ab und zu, ob ich in der Erziehung meiner Kinder alles richtig gemacht habe. Ich möchte den sehen, der mit voller Überzeugung sagen kann, es wäre ihm gelungen. Und überhaupt, was ist schon richtig?
Haben meine Eltern alles richtig gemacht? Und die Eltern meiner Eltern? Ich kann mich sehr gut an die Geschichten erinnern, die meine Eltern aus ihrer eigenen Kindheit erzählt haben. Die meines Vaters spielte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ab. Da gab es in der Schule unregelmäßig Kloppe und zu Hause regelmäßig. Er nannte seine Mutter Mamá. Französisch, mit Betonung auf dem zweiten a. Sein Vater hatte einen kleinen Bauernhof, seine Tante leitete das Postbüro, dessen einzige Angestellte sie war. Keine schillernde Szenerie. Der kleine Hans war eins von drei Kindern, das vierte war im Kindbett verstorben. Neben der Schule arbeitete er auf dem Bauernhof, pädagogischen Feinsinn muss man meinen Großeltern nicht unterstellen. Immerhin erlaubten sie meinem Vater auf eigenen Wunsch nach der Volksschule ein Selbststudium, und er schaffte tatsächlich das Abitur, das ich rund fünfzig Jahre später mit Ach und Krach bestand. Als mein Vater feststellte, dass ich mit dreizehn noch nicht wusste, wo auf der Landkarte Norden und Süden ist, hielt er mir einen längeren Vortrag, an den ich mich gut erinnern kann.
Er sprach von dem Unverständnis seiner Eltern für die akademische Karriere, die er anstrebte, von der bitteren Kälte, in der er seinen Schulweg zurücklegte, und immer wieder vom »eisernen Willen«, der wohl dieser Generation zusammen mit einem »unerschütterlichen Glauben« an irgendetwas eingehämmert worden war. Das alles konnte ich später als Nazi-Deutsch gemeinsam mit dem »gesunden Volksempfinden« in den Mülleimer der deutschen Geschichte treten. Dass ich damit auch jeder intellektuellen Herausforderung aus dem Weg ging, hat meine geistige Entwicklung sicher nicht gefördert.
Meine Mutter stand in ihrer Kindheit im Schatten ihrer musisch hochbegabten Schwester. Ihr flogen ebenso wenige schulische Bestleistungen zu wie später mir. Was mir immerhin ihr Verständnis sicherte. Letztlich musste aber ich den Preis dafür zahlen, dass die zwölfjährige Tante Hildegard mit einem Klavierkonzert im Rundfunk aufgetreten war. Was Mutti an musikalischem Talent fehlte, sollte ich gefälligst nachliefern. Natürlich dachte ich nicht daran. Tante Hildegard war mittlerweile als Nonne im Kloster gelandet, eine Konkurrenz mit ihrem Nachwuchs war nicht zu befürchten. Musikalisch war ich weder begabt noch von Ehrgeiz beseelt. Meine Mutter hatte die unangenehme Angewohnheit, sich neben mich ans Klavier zu setzen und mir eine zu kleistern, wenn ich mich verspielte. Und ich verspielte mich oft.
Immer wieder behauptete sie wahlweise, ich würde ihr später noch mal dankbar sein oder mich entsprechend darüber ärgern, dass ich kein Instrument beherrschte. Sowohl meine Dankbarkeit als auch mein Ärger hielten sich in Grenzen. Trotzdem habe ich meinen Söhnen Vorträge gehalten, die denen meiner Eltern nicht unähnlich waren. Ich mag dabei
nicht sehr überzeugend gewesen sein und tendiere prinzipiell eher zum Flehen als zum Befehlen.
Sagen wir es, wie es ist: Es fehlt mir an der nötigen Konsequenz. Wobei: Sitzen nicht alle Eltern in einem Boot, dessen Kurs schwer zu berechnen ist? Einige beruhigende Worte aus der Kita, ein paar Zensuren im oberen Bereich und man wähnt sich in ruhigen Gewässern mit dem wohligen Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Dann aber beißt der Nachwuchs im Kindergarten seine Spielgefährten oder verbreitet im Schulbus pornografisches Gedankengut – sofort bricht jede pädagogische Gewissheit zusammen.
Dieser Effekt wird offensichtlich von Generation zu Generation größer. Mittlerweile sind wir bei den Helikoptereltern angekommen, die ihre Kinder vor lauter Angst überhaupt nicht mehr aus den Augen lassen, und trotzdem sind die Schulklassen voller kleiner Monster. Ich bezweifle, dass zu Zeiten meines Vaters irgendein Kind Ritalin schluckte, und ich weiß, dass während meiner Schulzeit niemand sein Smartphone abgeben musste, weil er sich sonst die Antworten der Klassenarbeit zusammengoogeln würde. Wie plump. Wir haben uns auch nicht online darüber beklagt, dass das Matheabitur zu schwer gewesen wäre. Für mich war es eindeutig unlösbar, aber ich habe mein »ungenügend« mannhaft zur Kenntnis genommen, die Tränen meiner Mutter mitfühlend getrocknet und mit einer halbwegs vernünftigen Leistung in Deutsch gerade mal so ausgeglichen. Bis dahin hatte ich mich durchgemogelt.
Das Verschießen von Spickzetteln mit dem Schnipsgummi war eine anspruchsvolle Tätigkeit, die sowohl Feinmotorik als auch Präzision verlangte. Ist es albern, in diesem Zusammenhang von der »Gnade der frühen Geburt« zu sprechen?
Das Leben eines Bauernjungen, wie es mein Vater zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts führte, war sicher nicht romantisch. Er war zwölf Jahre alt, als der Erste Weltkrieg begann, und wurde mit siebenunddreißig in den Zweiten geschickt. Mit ihm tauschen zu wollen wäre mir nie eingefallen. Allerdings hätte ich meinen Söhnen gewünscht, in meiner Zeit aufzuwachsen. Bedankt hätten sie sich dafür gewiss nicht, und ich weiß, dass dies ein törichter Gedanke ist. Aber so töricht er ist, so schön ist er auch! Räuber und Gendarm! Beatles und James Bond!
Sentimentalitäten wie diese werden heute von der nachwachsenden Generation milde belächelt, und wir Babyboomer haben das ganze Rentensystem zum Straucheln gebracht. Man wäre uns ganz gerne los, während wir hilflos, aber auch ein bisschen wütend auf die Facebookgeneration blicken. Unsere Kinder schreiben keine Liebesbriefe mehr, sondern entfolgen und blocken ihre Partner online.
Es gibt genügend Zitate in Griechisch und Latein, die belegen, dass schon im Altertum die vorangegangene Generation skeptisch auf die nächste blickte, aber solche wahnsinnigen Entwicklungssprünge, wie wir sie kennen, hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben. Über Jahrhunderte hat man sich erst das Kerzenlicht weitergereicht und dann die Ölfunzel. Mein Vater war noch auf dem Pferdefuhrwerk unterwegs, ich habe mit meinem VW-Käfer schon die Umwelt verpestet, und mein Sohn macht mich wahnsinnig, wenn er sein Elektrofahrzeug auf Autopilot stellt und die Hände vom Steuer nimmt. Die Menschheit hat sich nie so schnell weiterentwickelt wie in den letzten beiden Generationen. Das Internet gibt es überhaupt erst seit dreißig Jahren, und die Entstehung des Smartphones habe ich in allen
Schritten verfolgt. Ich war einer der Ersten, der in seinem Auto ein Funktelefon mit sich führte, das man bei Bedarf auch mit sich schleppen konnte. Es hatte das Gewicht von mehreren Briketts. Dann kam diese mittelalterliche Keule, aus der man zu Gesprächsbeginn eine meterlange Antenne zog.
Mir scheint das alles nur ein paar Jahre her zu sein, und was ich zuerst als Segen empfand, ist in meinen Augen heute eher ein Fluch. Ich befürchte, meine Söhne würden eher mich im Restaurant vergessen als ihr Handy. Ich habe meinen Eltern noch Briefe aus dem Urlaub geschrieben, die ich mit einer bunten Borte verziert habe, meine Söhne verwöhnen mich ab und zu mit Emojis. Ein ausgestreckter Daumen ist schon ein dickes Lob, ein Herz ein seltener Gefühlsausbruch, und die lieben Grüße nach einer Zweizeilenbotschaft werden mit LG abgekürzt. Gerade hat sich so ein Onlinedackel, der sich mit dem Smartphone sicher besser auskennt als ich, in einer Quizshow, die ich moderiert habe, in meinen Augen orthographisch bis aufs Blut blamiert. Statt sofort im Boden zu versinken, fuhr er sich aber nur einmal locker mit den Fingern durch die Gelfrisur. Die Frage lautete: Was bedeutet »MfG« am Ende einer Mail? Seine Antwort: »Mit vielen Grüßen!« Da haben Sie’s. Die Jugend von heute.
Ich leide, wenn ich auf den Screens meiner Söhne platzende Köpfe sehe und das Geknatter von Maschinengewehren höre, obwohl mir Psychologen immer wieder versichern, dass es keine Charakterschäden hervorruft, wenn in Videospielen stundenlang auf Zombies, feindliche Söldner oder Aliens geballert wird. Ich denke dann an meine »Erbsenschusspistole« aus Plastik, mit der ich im gleichen Alter meinen Bruder attackiert habe, und frage mich, ob seine Macken damit zu tun haben. Eher nicht. Auch die Tatsache, dass wir
beide zu Zeiten des Kalten Krieges aufgewachsen sind, hat aus uns keine kalten Krieger gemacht. Ich glaube, dass jeder Mensch mit dem leben muss, was seine Zeit für ihn an Geschenken und Herausforderungen bereithält. Wir sind so geschaffen, dass wir damit umgehen können.
Mein Vater wurde zu Beginn, ich genau in der Mitte und meine Söhne gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts geboren, meine beiden Enkel bereits im neuen Jahrtausend. Sebastian, der bisher letzte, am 1. 1. 2018. Wenn die Wissenschaftler recht behalten, ist er bereits Teil einer Generation, deren Lebenserwartung hundert Jahre und mehr beträgt. Für ihn wird meine Welt genauso abenteuerlich aussehen wie für mich der Wilde Westen. Sein Leben wird in dem Maße von Algorithmen beeinflusst werden wie meines vom Katholizismus. Die künstliche Intelligenz wird Teil einer Zukunft sein, mit der ich vielleicht nichts mehr zu tun haben werde.
Ich kann mich nicht ganz entscheiden, ob ich froh darüber sein sollte oder neidisch. Das ist vielleicht auch ein Teil der Kunst, alt zu werden.