SON OF A PREACHER MAN
Dusty Springfield
W
er sich in den Oldie-Charts auskennt, der weiß, dass die Titelzeile dieses Kapitels Dusty Springfields Liebeserklärung an den Sohn eines Predigers ist. Ich denke mir ein Fragezeichen dazu, seit die pummelige Kassiererin in unserem Edeka-Laden von mir genau das wissen wollte und sich mit Verschwörerblick aus ihrer Kassenbox stemmte, in der sie kaum Platz hatte. Sie zog mich diskret zu sich ins Lager. Es ging wohl nicht nur um ihre eigene Neugier, sondern auch um die ihrer Kundinnen: »Sooch amol … dei Mudder un der Pfarrer …«
Mehr musste ich gar nicht hören, um rote Ohren zu bekommen. Der Pfarrer, damit konnte nur Onkel Hans gemeint sein, der zwar kein Pfarrer war, aber immerhin ein katholischer Priester und damit dem Zölibat verpflichtet. Uns aber auch, denn er war der beste Freund meines Vaters gewesen und hatte nach dessen Tod nicht nur die Aufgaben des Testamentsvollstreckers übernommen, sondern war gleichzeitig zur Vaterfigur für uns geworden und zur Klagemauer für meine Mutter.
Onkel Hans war oft bei uns und tat mir jedes Mal furchtbar leid, wenn meine Mutter den Frust, den sie mit uns hatte, wortreich bei ihm ablud. Wir wohnten in der Nähe der Kirche,
und manch fromme Kulmbacherin musste Onkel Hans wohl nach Mai- oder Rosenkranzandachten dabei beobachtet haben, wie er an unserer Haustür klingelte. Sicher nicht, um mit meiner verwitweten Mutter zu kuscheln, sondern sich, jedes Mal aufs Neue erschüttert, eine Auflistung dessen anzuhören, was ich mir zu Hause geleistet und in der Schule stattdessen nicht geleistet hatte.
Ich kann das bezeugen, denn ich war nicht nur immer dabei, sondern auch meistens das einzige Thema. Meine Schwester war noch klein, und die Untaten meines Bruders drangen nur selten aus dem Benediktiner-Internat im Kloster Scheyern nach Kulmbach durch. Meine Verfehlungen wurden zu einer wöchentlichen Hitparade zusammengefasst, mit der Onkel Hans beschallt wurde, sobald er freitagabends bei uns eintraf. Er war, so wie ich heute, ein hochgewachsener Mann und hatte, so wie ich heute, kaputte Bandscheiben. Deswegen lauschte er der Klagelitanei meiner Mutter immer im Stehen, wobei er seinen rechten Ellenbogen auf einen Schrank ablegte, der allen anderen bis zum Kopf reichte. Mit der linken Hand stützte er sein schmerzendes Rückgrat. Mich überkam dabei jedes Mal das Gefühl, die Qualen von Onkel Hans seien die Strafe Gottes für meine Untaten. Jede Fünf in Mathe, jede Lüge, jeder Verweis schoss ihm einen Wirbel weg. Ich weiß heute genau, wo es ihm damals wehtat.
Meine Mutter neigte zu spontanen, unbedachten Kundgebungen ihres Unwillens, und eine gedankenlose Ohrfeige für mich war eine ziemlich normale Angelegenheit, die ich gleichmütig wegsteckte. Onkel Hans war aber von Natur aus ein sanftmütiger Mensch und noch dazu beruflich der Nächstenliebe verpflichtet. Sein leidender Blick ging mir sehr viel nachdrücklicher zu Herzen als die aufgeregten Spontanausbrüche
meiner Mutter. Das gequälte, von leichten Zuckungen begleitete Aufbäumen des Körpers kennt jeder, dem der Rücken Probleme macht. Man kann es auch dazu nutzen, seiner Umwelt ein schlechtes Gewissen einzureden. Das unmittelbare Signal: An dem Kreuz, das du mir aufbürdest, trage ich schwer. Mit diesem Eindruck und dem Versprechen, mich zu bessern, verließ ich den lästigen Freitagstermin, wohlwissend, dass ich eine Woche später wieder antreten müsste.
Schon wegen dieser regelmäßigen Tortur waren die Besuche von Onkel Hans bei uns keine Zeit für Minnegesänge, sondern für Klagelieder, da lag die Kassiererin bei Edeka nachweislich falsch.
Ein Moment, in dem ich nicht zugegen war, war allerdings der meiner Zeugung. Ich gehe fest und unerschütterlich davon aus, dass mein Vater und meine Mutter, so wie sie in meiner Geburtsurkunde stehen, dabei unter sich waren. Aber was weiß man denn? Und was will man wissen? Zu detektivischen Nachforschungen besteht kein Anlass, und im Supermarkt wird immer viel getratscht.
Trotzdem. Mir war die Sache höchst unangenehm, und auf die Reaktion meiner Mutter war ich gespannt genug, um ihr den bösen Verdacht nicht zu verschweigen. Ihre Reaktion war blankes Entsetzen: »Wenn das die Runde macht, häng ich mich auf!«
Ich fand das angemessen und ausreichend. Damit war die Sache für mich und den Kulmbacher Boulevard wohl erledigt. Alle Beteiligten sind lange tot, und ich betrachte amüsiert alte Fotos, auf denen ich neben Onkel Hans stehe. Wir haben beide blaue Augen, sind über eins neunzig, blass, schlank und blond. Wenn ich ein Foto meines Vaters beim Taubenfüttern danebenhalte: eher olivfarbene Haut, gedrungen, mit
erkennbarem Bauchansatz, die Haare schwarz, die Augen braun. Supernasen haben wir alle drei, und mit einiger Fantasie kann man bei meinem Sohn Roman das eher rundliche Kinn meines Vaters wiederentdecken.
Es müssen nicht die Gene sein, es kann auch am Beispiel liegen, das ich mir an Onkel Hans genommen habe. Wir waren nicht mal blutsverwandt, sondern es liegt im Dunkel der Familiengeschichte, wann mein Vater und er Freunde wurden. Als ich 1950 zur Welt kam, war Onkel Hans wohl noch »in russischer Gefangenschaft«. Vielleicht gerade noch, vielleicht gerade nicht mehr. Egal. In meiner Erinnerung war er immer vorhanden. In dem kleinen Silvesterfilm von 1954 spielt er bereits mit, und schon vorher war er immer Teil meines Lebens.
Ich muss drei Jahre alt gewesen sein, als ich den Glauben an den Nikolaus verlor. Schuld daran waren Onkel Hans und mein guter Geruchssinn. Katholisch, wie wir waren, kam zu uns am 6. Dezember nicht der Weihnachtsmann im roten Mantel, sondern der würdige Bischof mit hoher Mitra und güldenem Rauchmantel. Ich war voller Ehrfurcht während seines Besuches, roch allerdings anschließend frech an einem grauen Mantel, der an der Garderobe hing. Danach war ich mir sicher und verkündete: »Der Onkel Hans ist der Nikolaus.«
Als Fünfjähriger musste ich für ein paar Wochen zur Kur nach Bad Reichenhall, um das Asthma auszukurieren, das sich in meiner Hühnerbrust eingenistet hatte. Die wurde mir bei nebligem Wetter oder bestimmten Anstrengungen immer etwas eng, und ich stieß dann seltsame Pfeiftöne aus. Dazu begann ich zu hüsteln und erkennbar um Luft zu ringen. Das gesunde Klima der Voralpen und das Personal in »Doktor Brauns Kinderklinik« sollten Abhilfe schaffen. Ich litt furchtbar an
Heimweh, mir schien die Reise dorthin eine Ewigkeit zu dauern. Besuche waren verboten. Inwieweit sie den Heilungsverlauf behindert hätten, ist mir bis heute ein Rätsel. Wir mussten die Frauen, die sich um uns kümmerten, als »Tanten« anreden, und eine von ihnen sagte immer »Meinezeit«, wenn sie sich über uns ärgerte. Das muss aber auch eine traurige Truppe von schmalbrüstigen Knaben gewesen sein, die da jeden Morgen zur Atemschule antrat!
An Mädchen kann ich mich nicht erinnern, vielleicht waren sie auch schmalbrüstig, und ich habe sie deswegen nicht zur Kenntnis genommen. Im Schneidersitz und in der damals üblichen Turnausrüstung, schwarze kurze Hose und weißes Unterhemd, saßen wir da in Reih und Glied und ließen mit einem Schschschschsch … ganz langsam die Luft aus unseren zu klein geratenen Lungen entweichen. Am Nachmittag ging es Hand in Hand zur Saline, wo wir heilsame Schwaden tief in uns einsogen.
Abends weinte ich still in meine Kissen. Daran konnten auch die gut gemeinten Durchhaltebriefe meiner Eltern wenig ändern. Bis ich ein Geschenk in meinen Händen hielt, das an der Pforte für mich abgegeben worden war: ein kleines, gewölbtes Kuhhorn mit einem Mundstück, auf dem man tuten konnte. Eingeritzt waren darauf »Grüße aus Bad Reichenhall«. Ich stürzte an den Zaun der Spielwiese, und auf der anderen Straßenseite stand Onkel Hans und hob seine Hand zum Gruß. Ich heulte wie ein kleines Kind, was ich wohl auch noch war, aber fühlte mich von da an weder allein noch verlassen. Und es war mir egal, dass die Tante jedes Mal »Meinezeit« sagte, wenn des Knaben Wunderhorn ertönte.
Zehn Jahre später, als mein Vater starb, habe ich diesen Verlust deswegen nicht so schmerzlich verspürt, weil Onkel Hans
an seine Stelle trat. Er war immer da, wenn ich ihn brauchte. Dass seine Schwestern bei uns im Haus lebten, machte die Sache etwas leichter und etwas schwieriger. Die drei alten Jungfern hatten wenig Verständnis dafür, dass ihr Bruder sich die Sorgen meiner verwitweten Mutter anhörte, anstatt sich um die seiner Schwestern zu kümmern. Dafür hätte ich heute Verständnis, wüsste aber immer noch nicht, welche Kümmernisse sie beschwert haben sollten. Die eine war Studienrätin, die zweite hatte in der Anwaltskanzlei meines Vaters gearbeitet und bekam eine »gutte Rente«, die dritte hatte zeit ihres Lebens dafür gesorgt, dass die beiden anderen nicht verhungerten. Das war Tante Grete, deren Tag immer mit der Ansage »Minke, Tiedl, Morgenbrot!« begann. Vielleicht hatte Onkel Hans auch wenig Lust auf das Triple-M-Geschwader Margarete, Maria und Mathilde, auf jeden Fall war er öfter bei uns als in der anderen Hälfte des Doppelhauses, das sie mitfinanziert hatten. Es gab da einen gewissen Hang zur Eifersucht.
Onkel Hans hatte sein Zimmer im Souterrain und freute sich jedes Mal, wenn wir ihn dort besuchten. Wir kletterten dann immer direkt durchs Kellerfenster. Von Bienenschwärmen wurden wir dabei nie verfolgt, aber die schmallippigen Tanten montierten ihrem Bruder eines Tages ein völlig unnötiges Fliegengitter vor die Nase. Danach polterte ich wieder durchs Treppenhaus zur Nachhilfe. Als katholischer Geistlicher hatte Onkel Hans Latein und Griechisch gelernt und deklinierte und konjugierte mit mir alles, was die Grammatik hergab. In Mathematik kannte er sich nicht aus, dort scheiterte ich dann auch. Bei seiner Nachhilfe setzte er wiederum die kaputte Bandscheibe als pädagogisches Druckmittel ein und ächzte immer schwer, wenn ich eine Vokabel
nicht wusste. Das funktionierte bei mir damals genauso wenig wie heute meine entsprechenden Versuche bei meinen eigenen Kindern. Die kommen mir auch noch mit frechen Ratschlägen: »Geh mal zum Arzt.«
Trotzdem wollte ich Onkel Hans immer eine Freude machen und hängte mich deswegen im humanistischen Bereich mehr rein, als ich es sonst getan hätte. Das hat mir schulisch den Arsch gerettet, aber für mein Seelenheil hat es wenig gebracht. Dafür waren eher die Beispiele christlicher Nächstenliebe verantwortlich, die ich diesem Mann nie vergessen werde.
Nach dem Abitur verdiente ich mir Geld mit dem Ausfahren von Limonade. Es gab in unserer Nähe einen Getränkeversand, der »Lehnig« hieß. Die kleinen roten Lastwagen mit dem weißen Namenszug ratterten ständig durch unsere Gegend. Ich hatte bereits den Führerschein und von Freunden gehört, dass man dort als Aushilfsfahrer gutes Geld verdienen konnte. In den Ansprüchen, die diese Tätigkeit an mich stellte, hatte ich mich aber gründlich verschätzt. Im Morgengrauen musste man Dutzende schwerer Kisten selbst verladen und wurde dabei von Männern angeschnauzt, denen die »Studentla«, zu denen ich noch gar nicht gehörte, von Haus aus ein Gräuel waren. In ihren Augen waren sie schwach (was in meinem Falle stimmte) und dumm. Woher sollte man auch wissen, dass mit »zwaa Drochn Grepper« zwei Kisten Grapefruitsaft gemeint waren?
Mein Lieferbereich war das Fichtelgebirge am Zonenrand. Eine trostlose Ecke, in welcher der Herbst noch grauer ist als in anderen Gegenden. Von den schwarzen Schieferdächern glänzt es feucht, die Nebel lichten sich am Morgen spät und wabern am Abend früh. Mit meinem Kleinlaster war ich in
den engen Straßen ständig überfordert, und in jedem Bauernhof bellte mich ein gemeiner Köter an. Man wusste nie genau, wie lang die Kette war, an der er hing. Ich tat mir selbst zu leid, als dass ich einen Gedanken an diese armen Hunde verschwendet hätte, die auch kein Mitgefühl zeigten, sondern die Zähne fletschten, wenn ich meine Limonadenkisten vom Laster wuchtete und in die finsteren Keller schleppte. In den dunklen Gewölben hatte ich Angst vor Ratten, und in den niedrigen Bauernküchen stieß ich mir den Schädel an. Außerdem roch es an beiden Orten streng. Ich hatte mich mit dem Job wohl etwas verhoben und heulte mich bei Onkel Hans aus. Der tröstete mich, und nicht nur das: Er raffte sich zu einem Akt christlicher Nächstenliebe auf, der mich verblüffte. »Ich komme mit«, sagte er. Einen Tag wollte er mich auf meiner Tour begleiten.
Dass ich das Angebot annahm, zeigt mir heute, wie verzweifelt ich damals gewesen sein muss. Da holperte der arme Mann an meiner Seite mit seinem kaputten Rücken in einem Lieferwagen über das Kopfsteinpflaster von Wunsiedel und Gefrees. Von Navis war noch keine Rede, und ich suchte mir die Kunden auf einer Landkarte zusammen, die an diesem Tag auf Onkel Hansens Knien lag. Aber wie damals in Bad Reichenhall nahm seine selbstlose Geste allen Stress von mir. Ich wusste, ich war nicht allein mit meinem Kummer, und es gab jemanden, der bereit war, mir das zu beweisen.
Dass ich bis heute nicht vom Glauben abgefallen bin, liegt vielleicht auch daran, dass sich Onkel Hans niemals von mir verabschiedet hat, ohne mir mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn zu zeichnen und zu murmeln: »Und vergiss mir den Herrgott nicht.
«
Ich hatte nie Grund, anzunehmen, dass mich der vergessen hat, also habe ich ihn – und Onkel Hans – auch nie vergessen. Ich bin davon überzeugt, dass Onkel Hans inzwischen in dem Himmel ist, von dem er immer gepredigt hat, und dass er dort ein gutes Wort für mich einlegt. Aber nicht deswegen ist er mein Vorbild, sondern weil er einen Lebensweg hingelegt hat, dessen Geradlinigkeit mich fasziniert. Ich hatte mir ja, wie das für katholische Knaben meiner Generation nicht abwegig war, den Priesterberuf bereits ausgemalt. Die Abwesenheit von Frauen erschien mir, zumindest vor der Pubertät, auch im Hinblick auf meine strenge Mutter kein besonderes Opfer zu sein. Onkel Hans war diesen Weg gegangen, und das Zölibat hat ihn nicht davor bewahrt, sich die Sorgen gleich mehrerer Frauen anhören zu müssen. Sein ganzes Leben wurde bestimmt von den Nöten anderer Menschen, und er war bereits über achtzig, als er sich einer Krebsdiagnose stellen musste. Auch diese Prüfung ertrug er mit einer Gottergebenheit, die ich schon fast als stoisch empfand.
Er lag bereits im Sterben, als ich ihn ein letztes Mal besucht habe, und obwohl ich auf die fünfzig zuging, erkannte er in mir sein »Jungele«. Das Kreuz, das er mir auf die Stirn zeichnete, war schon sehr zittrig, aber vom »Herrgott« dem er bereits ganz nahe war, hat er immer noch gemurmelt.
Ich kann ihm nur wünschen, dass er sein Leben nicht umsonst ganz auf ihn ausgerichtet hat. Trotzdem wäre es kein verlorenes gewesen, denn vieles von ihm lebt in mir weiter. Deshalb bin ich doch irgendwie »The Son of a Preacher Man«.