LITTLE LIES
Fleetwood Mac
K ein Lebensweg führt geradeaus. Auch meiner nicht. Selbst dann, wenn ich in Gefahr war, vom Wege abzukommen, habe ich nicht immer gegengesteuert. Ich bin eben offroad weitergerumpelt und habe mich im holprigen Gelände durchaus wohlgefühlt. Über Stock und Stein, durch Dornenhecken und Schlammpfützen hat die Reise manchmal mehr Spaß gemacht als auf glatter Piste. Mehr als einmal habe ich dabei den Pfad der Tugend verlassen. Und dann bin ich an der letzten Ausfahrt auch noch von der Autobahn abgebogen und habe das Abenteuer gesucht, statt die ausgebaute Strecke bis zum Ziel durchzufahren. »Ziel« ist dabei ein Euphemismus, »Ende« klingt neutraler und »Tod« wäre die ungeschminkte Wahrheit. Der habe ich mit sechsundzwanzig noch mannhaft ins Auge geblickt. Bei der Formel »Bis dass der Tod euch scheidet …« habe ich nicht gezuckt und bin ihm dann doch von der Schaufel gesprungen. Dabei war ich doch schon mit sechzehn einem Club der »Aufrechten« beigetreten. Das war was Katholisches, und ich suchte in diesem Alter noch den direkten Weg zur Heiligsprechung.
Heldenhaft gelobte ich alles Mögliche. Unter anderem, nicht zu rauchen und immer die Wahrheit zu sagen. Das mit dem Rauchen hat noch am besten geklappt, und trotzdem wurde ich 1985 irgendwie zum »Pfeifenraucher des Jahres« gewählt. Man sieht, dass da zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei mir doch eine Lücke klafft.
Ziemlich früh hatte ich festgestellt, dass ich eine völlig andere Vorstellung von dem hatte, was für mich gut war, als meine Eltern. Für meinen Vater war die Wahrheit noch das wichtigste aller Güter. Von mir belogen zu werden, war für ihn eine Erfahrung, die ihn offenbar besonders schmerzte, denn nur wenn er mich beim Lügen erwischte, gab es Kloppe. Er war von Natur aus ein gütiger Mensch, hatte aber wohl den Beruf eines Rechtsanwalts auch deswegen ergriffen, weil ihm Gerechtigkeit besonders am Herzen lag. Diese ist vor Gericht, und das war sein wesentlicher Arbeitsplatz, nur herzustellen, wenn alle Beteiligten die Wahrheit sagen. Vielleicht hat es ihn deshalb so geschmerzt, mich beim Lügen zu erwischen.
An einige Fälle kann ich mich noch sehr gut erinnern. Um mich reinzuwaschen, habe ich bedenkenlos andere in peinliche Situationen gebracht. Meine Klassenlehrerin der ersten Gymnasialklasse, eine gewisse »Fräulein Ferling«, die das R stark rollte und eine pedantische Vergesslichkeitsliste führte, war eines der ersten Opfer. Schuld war ihre dämliche Strichliste. Zwei Striche durfte man sich leisten, beim dritten gab es einen Verweis und Ärger zu Hause. Ich vergaß dauernd was, Bücher, Hefte, Hausaufgaben. Obwohl in jeder Erdkundestunde eine riesige Landkarte vor der Klasse aufgehängt wurde, mussten wir immer den tonnenschweren grünen Harms-Weltatlas in die Schule mitschleifen. Ich hatte ihn nicht dabei, merkte das aber schon, als ich in der Frühmesse vor dem Unterricht als Messdiener antreten musste. Gemeinsam mit Hugo Marquardt, der in meine Klasse ging und neben mir saß. Der hatte seinen natürlich dabei. Ich betete um ein Wunder, das nicht geschah, was ich als Aufforderung des lieben Gottes verstand, mir selber etwas einfallen zu lassen. Während Hugo seinen Ministrantenkittel abstreifte, manipulierte ich seinen Atlas in meinen Schulranzen. In der Geographiestunde zauberte ich ihn daraus hervor und sah eiskalt dabei zu, wie mein Sitznachbar in seiner Tasche wühlte. Hugo war weißblond und neigte dazu, in Stressmomenten einen roten Kopf zu bekommen. Als er einer Tomate bereits stark ähnelte, bemerkte ich überrascht: »Mensch, Hugo, das ist ja deiner!«
Fräulein Ferling war von der Komplexität der Lage überfordert. Ich hatte einen Atlas dabei und Hugo seinen nicht vergessen. Er lag ja auf der Bank, wenn auch auf meiner Seite. Zwei schuldlose Kinder. Beide blond, einer mit rotem Kopf, der andere mit betrübter Miene. Keiner bekam einen Strich.
Etwa einen Monat später war er aber nicht mehr zu verhindern, ich hatte wieder was vergessen, Hugo war keine Option mehr, der dritte Streich fällte mich. Bei drei Verweisen gab es einen Arrest, und ich hatte auch dieses Soll erfüllt. Mein Vater war entrüstet. Der verschärfte Tadel war vom Direktor unterschrieben. Der hieß Rosenbauer und war Mandant meines Vaters. Ich entlarvte die pädagogische Ungerechtigkeit, der ich zum Opfer gefallen war, mit einer abenteuerlichen Geschichte. Die war von Anfang bis Ende gelogen und ging so: Ich war bestraft worden, weil ich vergessen hatte, meinen Füllfederhalter aufzutanken. Fräulein Ferling hatte ihn aber mit der Spitze nach oben gehalten, hätte sie ihn umgedreht, wäre genügend Tinte durch das grüne Sichtfenster sichtbar gewesen (es war ein Pelikan-Füller, ich weiß es noch genau). Das Ding muss verstopft gewesen sein oder die Feder verbogen, was oder wer immer schuld war – ich war es nicht .
Mein Vater ging verschnupft zu Herrn Rosenbauer, und der ging noch verschnupfter zu Fräulein Ferling. Die muss wohl damals erst Referendarin oder so was gewesen sein und bekam entsprechend den Kopf gewaschen. Zumindest war er fast so rot wie der von Hugo Marquardt, als sie mich zur Rede stellte.
Ich suche den Tatort jedes Mal auf, wenn ich meiner alten Schule einen Besuch abstatte. Damals hatte man von dort noch einen wunderbaren Ausblick, jetzt sieht man den scheußlichen Anbau mit dem neuen Chemiesaal. Das schlechte Gewissen legte sich erst, als ich hörte, dass die alte Dame, die später einen Kollegen geheiratet hatte, den wir Ochsen-Sepp nannten, immer noch stolz darauf ist, vor einem halben Jahrhundert meine Lehrerin gewesen zu sein. Der Anschiss hat sie also weder das Leben noch die Karriere gekostet, und meine Lüge hat mir Ärger und meinem Vater Kummer erspart.
Diese Erkenntnis hat mich auch nach dessen frühem Tod oft bewogen, die Tatsachen kreativ zu bearbeiten. Dass ich ein notorischer Lügner war, würde ich weit von mir weisen. Ich sah mich nicht als Fälscher, sondern setzte geradezu künstlerisch den Weichzeichner ein, wonach das Bild wesentlich hübscher aussah als vorher.
Im Gegensatz zu meinem eher ausgeglichenen und ruhigen Erzeuger ging meine Mutter bei jeder Kleinigkeit an die Decke. Das spitzte sich zu, als sie Witwe wurde, und war nicht nur ärgerlich für uns Kinder, sondern auch ungesund für sie. Ich versuchte also, ihr und mir unangenehme Erfahrungen zu ersparen, indem ich bei allem, was ich sagte, ihren ohnehin zu hohen Blutdruck nicht aus dem Auge verlor. Vielleicht war ich etwas zu entgegenkommend, denn im Rückblick führte ich eine Art Doppelleben .
Ich ging klaglos früh nach oben ins Bett und rutschte dann an der Dachrinne wieder runter, um mir im Kino Horrorfilme anzugucken. Mit einer bestimmten blauen Hose, die einen geknöpften Latz anstelle eines Hosenschlitzes hatte und sehr tief auf der Hüfte saß, ließ sie mich nie aus dem Haus. Ich deponierte das verbotene Beinkleid also bereits am Nachmittag auf dem Gepäckträger meines Fahrrades, das immer unten vor dem Haus stand. In Kulmbach wurden damals weder Fahrräder noch Hosen geklaut, und es wunderte sich auch niemand, wenn ich in Unterwäsche vor dem Gartentor stand und die Hosen wechselte. Bei starkem Regen kam ich in modische Bedrängnis. Auch moralisch war ich in einer Zwickmühle, ich hätte uns beiden das Dilemma so gerne erspart, und es wäre so einfach gewesen.
Meine Mutter hätte die ganze Lügerei verhindern können, wenn sie gesagt hätte: »Viel Spaß im Horrorfilm, tolle Latzhose übrigens.«
Diese Logik hatte ich mit fünfzehn. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden war, als ich meinen Söhnen erklärte, dass Videospiele den Charakter auch dann verderben, wenn man Zombies niedermetzelt, und dass ein hängender Hosenarsch etwas für Gangster oder Rapper sei, aber nicht für meine Kinder. Keiner meiner Söhne hat es für nötig gefunden, gewalttätige Videospiele vor mir zu verstecken oder unziemliche Kleidungsstücke im Kofferraum zu deponieren. Mit dem Fahrrad fuhr sowieso keiner der beiden in die Disco.
Meine väterliche Milde ist auch nicht pädagogischer Weitsicht entwachsen, sondern einer Mischung aus Hilflosigkeit und Wurstigkeit. Ich habe trotz dieser Laissez-faire-Methode mit beiden Söhnen Glück gehabt. Es war nie zu ihrem Schaden, uns die Wahrheit gesagt zu haben, auch wenn wir oft lieber was anderes gehört hätten. Von strenger Erziehung kann dabei keine Rede sein. Aus meinem besorgten »Mutti, reg dich nicht auf« ist ein cooles »Papa, chill!« geworden. Geändert hat sich im Verhältnis zwischen Kindern und Eltern ansonsten wenig: Wir fordern nach wie vor die »Wahrheit« von unserem Nachwuchs, aber der weiß ganz gut, was wir hören wollen. Wenn wir das bekommen, bohren wir selten weiter. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
Auch in der Beziehung zwischen Mann und Frau ist die Frage nach der Ehrlichkeit nicht unerheblich. Mein Eheversprechen liegt nach über vierzig Jahren im Nebel der Vergangenheit. Von guten und schlechten Tagen war die Rede, kann ich mich erinnern, und die haben wir in der Tat gehabt. Immer die Wahrheit zu sagen hätte die Sache wahrscheinlich sehr viel komplizierter gemacht. Hätte ihr allerdings vielleicht auch gutgetan. Eine gesunde Konfrontation ist in einer Partnerschaft sicher besser als dauerndes Wohlgefühl, das an manchen Stellen nur gespielt ist.
Ich muss mir das im Nachhinein selbst vorwerfen. Ich war es beruflich gewohnt, gute Laune herzustellen, und wollte diese privat an keiner Stelle gefährden. Also habe ich mich in Unverbindlichkeiten geflüchtet, wo ich die Auseinandersetzung hätte suchen müssen. Vieles war mir »nicht wichtig genug«, mich darüber aufzuregen, vieles glaubte ich, »auf mich nehmen« zu müssen, und auf einiges glaubte ich »verzichten« zu können. Hätte ich es mal lieber angesprochen und damit ausgesprochen. Stattdessen bin ich der Wahrheit aus dem Weg gegangen.
Hier muss ich das philosophische Glatteis zwischen absoluter und relativer Wahrheit betreten. Ganz sicher gibt es verschiedene Blickwinkel auf dieselbe Angelegenheit, und noch sicherer ist es, dass Frauen und Männer ein und dasselbe Thema unterschiedlich sehen. Wie damals bei Mutti war mir auch später noch der häusliche Friede wichtiger, als recht zu behalten. Und wenn ich wusste, dass ich im Unrecht war, dann habe ich gleich die Klappe gehalten. Was mir damals eine clevere Überlebensstrategie zu sein schien, hat sich am Ende als toxisch für die Beziehung herausgestellt.
Ob Männer vom Mars sind und Frauen von der Venus, ist mir dabei ziemlich egal. Wir sind auf demselben Planeten gelandet und müssen es, manche auf sehr engem Raum, miteinander aushalten. Wie oft habe ich von Paaren gehört, sie hätten sich »zusammengerauft«. Das bedeutet, dass man sich in stillem Einvernehmen darauf geeinigt hat, bei Themen, die nicht friedlich zu klären sind, keinen Krieg mehr anzuzetteln. Ist das ein Gewinn für eine Beziehung oder Resignation?
Ich weiß es nicht. Ich bewundere Männer, die wie Sisyphos in der Lage sind, die Last immer wieder zu schultern, wenn sie ihnen erneut vor die Füße gefallen ist. Schlau ist das nicht. Aber anstrengend. Es ist ja keine Binse, dass man um die Wahrheit ringen muss. Aber ist ein Ringkampf eine angenehme Assoziation für eine Partnerschaft?
Wenn meine Frau und ich uns alles gesagt hätten, was uns in den über vierzig Jahren, in denen wir zusammen waren, durch den Kopf gegangen ist, wären wir schon länger kein Paar mehr gewesen. Frauen sind ohnehin in dieser Beziehung furchtloser und sagen Dinge, die wahr sind, auch wenn’s grad gar nicht passt.
Es passt sowieso ganz selten. Ein Freund von mir dachte ausgerechnet an Heiligabend, die Stunde der Wahrheit sei gekommen. Seine Partnerin hatte ihm gerade versichert, ihre Liebe würde alle Stürme überstehen. Es fiel wohl auch der berühmte Satz von der »Ehrlichkeit« als Basis jeder Beziehung. »Ich werde dich immer lieben, aber lüg jetzt nicht … Hast du mich schon mal betrogen?« Im Schimmer der Christbaumkerzen machte mein Freund alles falsch. »Schön, dass du fragst …« hat er wahrscheinlich nicht gesagt, aber er gestand, wohlgemerkt mit der festen Zusage des Freispruchs, was er lieber für sich behalten hätte. Nicht nur Weihnachten war im Eimer, sondern die ganze Beziehung. Ich wollte nicht mit meinen Lateinkenntnissen protzen, als ich ihm später zu bedenken gab: »Si tacuisses …«
Hätte er geschwiegen, wäre er nicht nur ein Philosoph geblieben, sondern auch noch mit der Frau zusammen. Na klar drängt sich hier die Frage auf, warum er sie betrogen hat, wenn er sie so liebte. Aber in diesem Kapitel geht es um die Wahrheit und nicht um die Treue. In dem Zusammenhang empfehle ich dem Leser Shakespeares Romeo und Julia . Die waren sich immer treu und am Ende für immer tot. So geht’s natürlich auch, und so wird man zum ewigen Hohelied der Tugend.
Das habe ich nicht hinbekommen.
Aber jetzt mal im Ernst. Die Wahrheit ist ein hohes Gut, da sind wir uns einig. Wer ihr ins Auge blickt, hat allerdings nicht immer eine schöne Aussicht. Jesus, der beste aller Menschen, hat von sich gesagt: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!« Dagegen bin ich ein Wurm im Erdenstaub, und das gehört sich auch so. Es ist sicher die einfachere Entscheidung, sich durchs Leben zu mogeln, und das habe ich getan. Aber selbst der Aufrechte findet sich am Ende des Weges vor der einen oder anderen »Lebenslüge«. Nur der Heilige besteht jede Versuchung, und ich bin weder einer gewesen, noch habe ich in meinem Leben einen getroffen .
Insgeheim bewundert habe ich immer die, die »kein Blatt vor den Mund« genommen haben, die »ohne Rücksicht auf Verluste« gesagt haben, was sie denken, und denen die Meinung anderer völlig egal war. Verglichen mit ihnen war ich ein Feigling. Solange ich vom Zuspruch der Menge abhängig war, habe ich sorgfältig darauf geachtet, ihr nicht zu widersprechen. Der Beifall der Mehrheit war für mich beruflich eine wichtige Währung. Dienstlich war ich ja zumindest immer mal wieder der Notlüge verpflichtet. Ich hatte bei einem überraschenden Liveauftritt die späte Gina Lollobrigida zuerst für einen Transvestiten gehalten. Hätte ich ihr das sagen sollen, als ich erkannte, dass es die echte war?
Ich habe mich oft mit Nettigkeiten durchgeflunkert. Ich habe Lobreden auf Menschen gehalten, die ich nicht so toll fand, wie sich das anhörte. Ich habe für Dinge geworben, die meinem Kontostand mehr brachten als den Leuten, die sie kauften. Das war Teil meines Geschäftsmodells, ist aber kein sehr empfehlenswerter Leitfaden für Charakterbildung. Privat habe ich mich eher still verdrückt, als zur großen Abrechnung anzutreten. Dazu gab es auch keinen Anlass, und an dieser Stelle ist sicher nicht der richtige Platz dafür. Zur Umkehr ist es zu spät, und es ist auch nicht so, dass mich das Grauen packt, wenn ich in den Spiegel blicke.
Die ganz große Wahrheit hat sich sicher niemand von mir erwartet. Mein Beruf ist dem des Zauberers nicht ganz unähnlich. Wenn er so geschickt mogelt, dass es keiner merkt, bekommt er den Beifall, den er sich wünscht. Wer, wie ich, immer gute Laune verbreiten möchte, der muss auch mal schummeln. Um ein paar kleine Unwahrheiten hier und da bin ich nicht herumgekommen. Kein großer Betrug, nur »Little Lies«.