SPILL THE WINE
Eric Burdon & War
A schermittwoch in New York. Im Kalender stehen die New York Philharmonics mit einem Wagner-Konzert. Der erste Akt der Walküre , konzertant aufgeführt, anschließend Dinner mit dem Chairman des Orchesters, mit dem Thea und ich befreundet waren. Ich hatte beschlossen, bis Ostern keinen Alkohol zu trinken. Im Spiegel dieser Woche war diese Fastenübung als sinnvolle Gesundheitsmaßnahme für jedermann promotet worden, und ich wollte mich in etwas üben, das ich überhaupt nicht kann: Verzicht. Das war mein erster Tag, was bis zum späten Nachmittag folgenlos blieb.
Meine Frau neigte dazu, Aktionen, die nur mich betrafen, sofort zu vergessen. Vor gemeinsamen Unternehmungen wie dieser servierte ich sonst gern mit großer Geste ein Glas Champagner. Das unterblieb jetzt, wurde aber nicht bemerkt.
Wie üblich fand man meinen Namen auf der Gästeliste des Lincoln Centers nicht. Man fand nicht mal eine Gästeliste. Aber der Gastgeber erschien im richtigen Moment und bat zu »Drinks auf die Empore«. Heute gab es nicht den üblichen eichigen Chardonnay aus Kalifornien, den ich nicht mag, sondern einen trockenen, italienischen Weißwein, der mir geschmeckt hätte. Egal. Heroisch bestellte ich ein »sparkling water«. Keiner nahm Notiz von meinem Verzicht, niemand verneigte sich vor meiner Charakterfestigkeit.
Der Chairman hat eine Extraloge, das Orchester hat vier Harfen. Wagner halt. Das Konzert begann mit eigenartigen Brummlauten, ähnlich brummig fühlte ich mich.
»Was ist denn das?«, fragte meine Frau.
»Die Ouvertüre der Walküre «, maulte ich zurück.
»Echt? Komisch!«
Ich setzte umständlich die Lesebrille auf und blätterte unter dem Sitz im Programm. Nix Wagner, nix Walküre! Das Stück hieß Dark Waves und war von einem John Luther Adams, der drei Jahre nach mir geboren wurde. Ein ziemliches Geschrumme, das auch die vier Harfen nicht retten konnten. Zum Glück hat der Komponist das Werk entsprechend kurz gehalten. Meine Frau hatte den Unterschied zwischen Wagner und Adams natürlich inzwischen bemerkt, ich bekannte meine Fehlinformation und verkündete: »Aber jetzt!«
Beim letzten Mal klang das besser. Kann es sein, dass man vor einer Wagner-Oper doch ein bis zwei Glas Wein braucht, um in den Groove zu kommen? Siegmund liebt seine Schwester Sieglinde trotz ihrer dicken Oberarme, und ich versuchte von der Empore aus herauszufinden, ob es sich bei den Schmetterlingen, die sich auf Sieglindes Ringerkreuz niedergelassen haben, um Tattoos oder Stofftiere handelt. Dabei mussten mir die Augen zugefallen sein, jedenfalls spürte ich irgendwann den Ellenbogen meiner Frau in den Rippen. Ich habe ihn noch mehrfach gespürt, bis sich Sieglinde und Siegmund ganz ihrer Geschwisterliebe hingaben.
Für das anschließende Dinner war ich zu schwach, aber das Restaurant war »in« und das Essen exzellent. Ich hatte zwar keinen Hunger, aber allein die Tatsache, dass ich essen durfte, beglückte mich. Der Gastgeber bestellte ein Glas Wein, das ihm nicht schmeckte, und ließ es zurückgehen. Ich hätte es genommen, aber zählte stattdessen die Luftblasen in meinem sparkling water.
Zwei Tage später fuhr ich mit der Subway in die Wohnung meines Sohnes in Brooklyn. Er hatte seit mehreren Wochen einen Tisch, aber konnte sich nicht entscheiden, welche Stühle er dazu will. Bis er welche hat, müssen alle Gäste stehen. Er zeigte mir online die Stühle, die ihm gefallen. Preisgünstig und schick. Aber sein Kumpel, der im gleichen Haus wohnt, hatte schon die gleichen. Mir wäre das egal. Ihm nicht. In der polnischen Kneipe nebenan gab es Sauerkraut mit Wurst und ungefähr fünfundzwanzig Biersorten. Ich bestellte Sauerkraut und Wasser. Das Sauerkraut war kalt, das Wasser warm, die Wurst fett. Ich war schon wieder schlecht gelaunt. Vielleicht habe ich meiner Frohnatur in den letzten Jahren doch ab und zu mit ein paar Promille auf die Sprünge geholfen.
Auf dem Flug von New York nach Los Angeles. Meine Frau saß neben mir. Der Flugbegleiter stellte jedem ein Glas Schampus hin. Thea wollte mir gerade zuprosten, da fiel es ihr ein.
»Ach so, du darfst ja nicht.«
»Ich darf schon, aber ich will nicht.«
Ist lügen besser als schwach zu werden? Ich tauschte meinen Sekt gegen ihren Eisbecher. Meine Laune stieg. Ich habe gelesen, man nimmt ab, wenn man längere Zeit auf Alkohol verzichtet. Sind vierzig Tage eine »längere Zeit« und darf man sich für jedes Glas Wein, auf das man verzichtet, mit einem Eisbecher belohnen? Ich wollte das bis morgen klären.
Der Flug dauerte noch zwei Stunden und dreiundvierzig Minuten. Die Außentemperatur betrug minus 54 Grad Celsius. Auf der Speisekarte stand ein Matua Sauvignon Blanc, Marlborough, Neuseeland. Nektarinenaroma mit Anklängen von Pfirsich und Grapefruit. Der wär’s gewesen.
Wenn einem mehrmals am Tag bewusst wird, dass man gerade keinen Alkohol trinkt, ist das schon »craving«? Craving ist laut Google »starkes Verlangen, Alkohol zu trinken«. Wir haben in Deutschland ein anderes Verhältnis zum Alkohol. Wenn ich in Amerika beim Arzt diese nervigen Zettel ausfülle, die einem die Sprechstundenhilfe auf einem Klemmbrett reicht, erschrecke ich immer über die Frage: »more than one glass of wine per day?« Wer, um Himmels willen, trinkt nur ein Glas Wein, wenn er mal die Flasche aufgemacht hat?
Ich war wieder in Malibu und hatte schon am Morgen überlegt, wie ich der Versuchung des in Kalifornien beliebten »sundowners« entgehen konnte. »Tequila Sunrise«, das klingt gut und schmeckt noch besser. Routinierte Abstinenzler haben mir geraten, mir morgens eine Kanne Tee zu brühen. Aber der Satz »Ich brühe mir schnell eine Kanne Tee« wird mir nie im Leben über die Lippen kommen. Noch schlimmer ist nur: »Schatz, brühst du mir eine Kanne Tee?«
Ich schaffte es aber auch nicht, drei Liter Wasser am Tag zu trinken, und holte mir Kokoswasser aus dem Supermarkt. Die Reihe mit den Spirituosen ist in den USA länger als jede deutsche Kegelbahn. Ich neige dazu, Lücken in der Hausbar sofort aufzufüllen. Das ist ein Tick von mir. Ich sortiere in meiner Bibliothek Buchrücken nach Farben und kaufe Whiskysorten, die ich nie trinke, nur weil die Flaschen so schön aussehen und die Etiketten so interessant. Obwohl ich bereits einige Lücken im Schnapsregal entdeckt hatte, besorgte ich keinen Nachschub mehr. Wozu auch. Bis Ostern war es noch lange hin, und der Kreuzweg beginnt erst am Gründonnerstag .
Hier stand mein fester Entschluss, vierzig Tage auf Alkohol zu verzichten, und auf der Gegenseite kugelten ein paar Flaschen rum, von denen ich in den nächsten Wochen keine anfassen, geschweige denn öffnen wollte. Wille gegen Promille. Ich will meinen Dämonen persönlich den Kopf abschlagen, im Einzelkampf.
Trotz meines robusten Selbstbewusstseins gibt es Tage, an denen ich mich für überflüssig halte. Ich war so froh, dass ich noch nie in den Krallen einer Sucht gelandet bin, dass ich im Überschwang meiner neuen Enthaltsamkeit den kühnen Plan ins Auge fasste, nie wieder Alkohol zu trinken. Ich habe gelesen, dass man am Morgen frischer ist, wenn man am Abend zuvor keinen Alkohol trinkt. Mein Hirn weiß das, mein Körper hat es nur noch nicht mitgekriegt. Ich habe kürzlich auch gelesen, dass Alkohol schon in kleinen Mengen schädlich ist. Dauernd gibt es neue Erkenntnisse, neue Erhebungen und neue Verhaltensmaßregeln. Manche schiebe ich einfach zur Seite, weil sie mich nerven, manche passen mir ins Konzept. Die letzten Gesundheitsnews aus dem Netz: Auch ältere Menschen sollen ihre Muskeln stärken. »Workout für Hochbetagte« wurde da gefordert. Was für ein furchtbares Wort. Ich las einfach »Hochbegabte« und fühlte mich angesprochen, denn ich mache alles richtig. Joe, mein Personal Trainer, kam jeden Werktag und trank auch bis Ostern keinen Alkohol. Joe heißt mit Nachnamen Massielo, sein Vater sprach noch Italienisch. Ihm ist diese DNA sehr wichtig, und er ist ein Feinschmecker. Er weiß, dass es »Espresso« heißen muss, und ärgert sich, wenn bei Starbucks jeder zweite Ami »Expresso« bestellt. Er sagt »Pino-grid-gio« und nicht »Peeno Gridjo« und hatte bereits die Flasche Rotwein ausgesucht, mit der er am Ostersonntag sein Dinner eröffnen würde: »A nice bottle of Nebbiolo. «
Joe war trotz Alkoholverzichts mindestens so gut gelaunt wie sonst, das sollte mir Ansporn sein. Und schon am nächsten Morgen glaubte ich, im Spiegel erste Erfolge zu sehen. Wie die meisten Menschen sehe ich morgens immer ziemlich zerknautscht aus. Manchmal hängt mir der Absacker vom Abend vorher in kleinen Beuteln unter den Augen. Hier schien in den letzten Tagen eine leichte Ent-Faltung stattgefunden zu haben. Mein ganzer Körper straffte sich. Ich entwickelte mich zum Partymuffel und konnte einen gewissen Hochmut gegenüber denen, die sich abends zum Cocktail verabredeten, nicht verbergen. Lud mich jemand zum Dinner ein, dann benutzte ich meinen Jetlag als Ausrede, ging abends früh ins Bett und stand morgens eine Stunde früher im Bad als sonst. Der Lichtschalter dort hatte einen Dimmer. Bei Schummerlicht stand da immer noch ein stattlicher Mann vor dem Spiegel.
Schob ich den Regler nach oben, stand ich irgendwann ziemlich belämmert im Lichte der Wahrheit. Nach knapp drei Wochen ohne Alkohol machte ich den Scheinwerfertest. Meine Gesichtshaut erschien mir glatter, die Zone um meine Augen beutelfrei, und ich verneigte mich vor meinem Stehvermögen.
Dreieinhalb alkoholfreie Wochen kamen zwar noch, aber ich war mir jetzt sicher, dass ich das schaffen würde. Abgenommen hatte ich allerdings bisher nicht, und dass ich die Dinge plötzlich klarer sehe, musste ich mir einreden. Inzwischen hatte ich tatsächlich bestimmte Teerituale entwickelt und war so weit aus der Gefahrenzone, dass ich mich mit einem anderen Entzug beschäftigen konnte, der mir wesentlich leichter fiel.
Ich hatte mich nicht nur vom Alkohol verabschiedet, sondern auch vom Twittern. Und das lag an meinem ersten Shitstorm. Eigentlich war es ein Stürmchen, das ich gar nicht bemerkt hätte, wenn man mich nicht mit der Nase darauf gestoßen hätte. Ich war es ja gewohnt, am Samstagabend im Fernsehen die Klappe weiter aufzureißen als andere. Damals lief das so, dass einen dann am Sonntag ein paar Journalisten anriefen und man schon wusste, dass sich für den Montag was zusammenbraute. Mal hatte ich mich unflätig über irgendjemanden geäußert, der dann verkünden durfte, dass er von mir »enttäuscht« sei. Mal hatte ich größere Teile der Bevölkerung gegen mich aufgebracht, wie die Hundebesitzer (zu denen ich damals gehörte) oder die Rentner (zu denen ich damals noch nicht gehörte). Ich war dann immer ein paar Tage öffentlich das Karnickel, und dann legte sich das wieder.
Seit es das Internet gibt, hat die öffentliche Erregung andere Gefäße gefunden und eine neue Reichweite. Ich hatte das Ergebnis eines DNA-Tests getwittert, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich neben ein paar afrikanischen Zellen in meinem Erbgut zu »52 Prozent Osteuropäer« bin. Endlich war ich als Mitglied einer Minderheit ausgewiesen, der man laufend negative Klischees andichtet. Endlich durfte ich als ausgewiesener Angehöriger einer immer wieder verpönten ethnischen Gruppe (wir erinnern uns: Mutter aus Oppeln, Vater aus Kaff bei Namslau) Witze über mich selbst machen. Fröhlich twitterte ich: »Hab meine DNA aufschlüsseln lassen. Afrika war ja klar. Aber über 50 Prozent Osteuropäer! Deswegen hab ich als Kind so geklaut!«
Damit hatte ich aber nicht nur 48 Prozent aller rechtschaffenen Westeuropäer gegen mich aufgebracht, auch von meinen osteuropäischen Verwandten nahm mich keiner in Schutz. Was hat man mir nicht alles vorgeworfen! Rassismus, Rückschrittlichkeit, Ausländerfeindlichkeit, Geschmacklosigkeit – den Rest hab ich verdrängt oder nie erfahren.
Öffentlich auf die Mütze zu kriegen war ich gewohnt. Dass aber in den sozialen Medien Trolle hocken, die bösartig alles missverstehen, was missverständlich gesagt ist, die, wie die Gegenpartei im Bundestag, unisono und reflexhaft aufjaulen, war eine völlig neue Erfahrung für mich. Warum Twitter Deutschland den Tweet schließlich auf Druck der Beschwerden offline stellte und zwei Tage später wieder freigab, habe ich nicht begriffen. Ich hatte, vielleicht war das überheblich, immer denselben Spruch für mich in Anspruch genommen, mit dem Angela Merkel einst im Wahlkampf unterwegs war: »Sie kennen mich.« Mindestens dreimal am Tag sagt mir einer: »Ich bin mit dir aufgewachsen.« Also ging ich davon aus, dass nun wirklich jeder weiß, wie ich ticke. Ich habe beruflich und privat viel geredet. Dabei kam wenig heraus, das man sich merken müsste, und einiges Merkwürdige. Ich wollte immer als lustig und nicht als klug wahrgenommen werden. Nie habe ich darauf geachtet, wo mich politisch denkende Menschen in ihrem Spektrum eventuell einordnen würden. Mal habe ich Positionen vertreten, die ich heute als links einordnen würde, mal war ich der spießige Bayernkatholik, aber irgendwie habe ich mich immer als Teil der Mitte gefühlt. Da wird man von beiden Seiten gewärmt, da holt man sich die größte Quote.
Zum Fackelträger einer neuen Idee wird man dabei nicht, für einen Rebellen wurde ich nie gehalten. Zu Recht, denn dazu fehlt mir das Zeug. Im Irrglauben, nicht »politisch« zu sein, habe ich für mich in Anspruch genommen, niemals darauf achten zu müssen, ob ich immer »politically correct« bin. Unter der Tarnkappe dieses »Sie kennen mich« hatte ich mich sicher gefühlt. Jeder musste doch wissen, wie ich mit Menschen umgehe. Das hatte ich doch öffentlich ein paar Jahrzehnte bewiesen. All diese Kriterien wie Rasse, Farbe, sozialer Stand, Alter und was einem sonst noch einfällt, um Menschen einzusortieren, waren für mich völlig unerheblich und sind es immer noch. Ich schaffe es auch gar nicht, Vorurteile oder zumindest Vorbehalte gegen irgendjemanden aufzubauen, ich habe eher die Unart, Fremde, egal wo, egal wen, zu umarmen. Wo dieser Mensch herkommt, wie der aussieht, an was der glaubt, ist mir völlig egal. Das mag sich unglaubwürdig anhören, aber nur mit dieser Grundeinstellung kann man werden, was ich geworden bin. Man muss mir erst beweisen, dass man ein Arschloch ist, bevor ich meine Umarmung lockere, und ich bin dann jedes Mal ein bisschen enttäuscht.
Man mag das als naiv, als weltfremd oder als wurstig bezeichnen. Dann ist das halt so. Aber so bin ich. Oder sagen wir mal, so war ich. Und Twitter war ein neues Spielzeug, mit dem ich jeden umarmen konnte, der mir auf meinem Account in die Arme lief. Hereinspaziert, jeder ist willkommen. Ich hatte ja getwittert, weil es mir Spaß machte. Aber Alkohol und twittern haben eine Gemeinsamkeit, die ich erst bemerkte, als ich beides aus meinem Leben verbannt hatte: Man denkt, es muss sein.
Da baut sich ein eigenartiger Druck auf, dem man irgendwie nachgeben will. Wie oft habe ich auf dieses Twitter-Vögelchen geschaut und überlegt, was ich denn heute wieder in die Welt setzen soll. Die freundlichen Follower werden plötzlich zu einer Größe, der man etwas zu schulden glaubt. Vor allem wenn man es, wie ich, in einem »alten« Medium hinter sich hat und plötzlich zu einer »Kultfigur« in einem » neuen« und coolen Medium aufgebaut wird. Ich hatte, ziemlich unbefangen, allerlei Unfug auf meinem Twitter-Account getrieben und mein Publikum auf eine bisher unbekannte Weise an mich herangelassen. Ich stellte unsere Weihnachtskrippe ebenso ins Netz wie den umgefallenen Christbaum, fotografierte meinen Sohn hinter einer Nebelwolke, die aus seiner Vape-Pfeife kam, und schrieb dazu: »Schön wenn man seine Söhne wieder sieht.« Man sah ihn zwar nicht, aber ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt alle Paparazzi beschimpft, die meine Familie auch nur von hinten abzulichten versuchten. Plötzlich ergab ich mich selbst dieser Versuchung. Die Medien bemerkten das schnell, meine Tweets wurden zitiert, und der Spiegel stellte in dem bereits erwähnten Artikel über mein Getwitter fest, dass ich mich in der neuen Wirklichkeit des Netzzeitalters zurechtgefunden hatte und diese in einem neuen Medium virtuos bespielte.
Das schmeichelte mir, aber ich fühlte mich gleichzeitig unter einem gewissen Lieferzwang. Zu Beginn meiner Twitter-Karriere erfreute ich meine Follower noch, wenn ich die Kaffeetasse auf meinem Frühstückstisch fotografierte. Inzwischen posaunte ich dort schon die Geburt meines Enkels in die Welt. Es hatte zwar was Triumphales, damit der Yellow Press ein Thema wegzunehmen, aber es wunderte mich, dass ich zum Selbstvermarkter geworden war. Ich darf gar nicht daran denken, was passiert wäre, wenn ich bei der Trennung von meiner Frau noch auf Twitter unterwegs gewesen wäre. Ich hätte auf das Gesäusel und die unzutreffenden Vermutungen der Yellow Press mit wütendem Gebell reagiert und mich dabei um Kopf und Kragen getwittert. Donald Trump macht vor, wie schnell so was geht. Ich hatte mich aber rechtzeitig aus diesem Stimmengewirr verabschiedet. Vielleicht lag die neue Sensibilität auch an der geistigen Klarheit, die sich auf den Verzicht von Alkohol zurückführen ließ.
Ohne den zu leben machte mir mittlerweile überhaupt nichts mehr aus. Im Flugzeug bestelle ich mir grünen Tee mit einem Eiswürfel, und abends gönnte ich mir ab und zu ein alkoholfreies Bier. Ich hatte in den amerikanischen Medien gelesen, dass die deutschen Athleten während der Winterolympiade nur deswegen so viele Medaillen abräumten, weil sie dieses promillefreie Gebräu zu sich nahmen. Ich fühlte mich also auch noch als Patriot, während ich im Supermarkt in Malibu das ziemlich fade Gesöff zur Kasse schleppte. So wie Alkoholiker ihren Konsum vor ihrer Umwelt zu verbergen suchen, machte ich meinen Verzicht kaum zum allgemeinen Thema. Das ist für mich untypisch, denn alles, was ich für eigene Großtaten halte, stelle ich gerne ins Licht der Öffentlichkeit. Im Falle meines Alkoholverzichts bemerkte ich eine eigenartige Zurückhaltung. Es war mir nicht angenehm, eine solche Lappalie mit anderen zu diskutieren. Kein Kellner wunderte sich, wenn ich Wasser statt Wein bestellte, meine Frau bemerkte nicht, dass aus der Bierflasche alkoholfreier Gerstensaft perlte, und nur in seltenen Fällen kam ich in Erklärungsnot.
In Gesellschaft fehlte mir der Alkohol also kaum oder überhaupt nicht. Da ich aber viel unterwegs bin, bin ich auch oft allein. In Hotels sind die Minibars immer eine Gefahr. Meistens aber wegen der Schokoriegel und Erdnüsse, die dort zu später Stunde lauern. In der Zeit meiner Abstinenz wurde plötzlich der kleine Bocksbeutel mit Frankenwein zur Verlockung. Vielleicht ist es auch die Nachdenklichkeit, die mich ab und zu befällt, wenn ich abends allein in meinem Hotelzimmer sitze. Ich habe das kürzlich bemerkt, als ich zu später Stunde in meiner Suite die Beine auf einen Glastisch legte und auf den Preis für mein Lebenswerk starrte, den man mir gerade in festlicher Atmosphäre verliehen hatte. Irgendwann hatte ich genug von den Selfies, zumal ich bei vielen jungen Schauspielerinnen und bärtigen TV-Stars, die sich mit mir auf ihren Smartphones ablichteten, keine Ahnung hatte, ob sie mir oder ich ihnen schon mal begegnet war.
Als ich ins Hotel zurückkam, feierte dort ein Reiseveranstalter sein Betriebsfest, und ich hätte locker noch den einen oder anderen Gratisurlaub buchen können, aber verdrückte mich zügig in den Lift. Einen solchen Abend nüchtern abzuschließen ist nicht ganz einfach. Da steht eine gläserne Pyramide vor dir, die eigentlich ausdrücken soll, dass du alles richtig gemacht hast, und trotzdem würdest du jetzt gerne mit ein paar Glas Wein deine Gedanken etwas verschwimmen lassen. Da war die Minibar immer eine willkommene Alternative, die jetzt aber nicht zur Debatte stand.
Ich habe trotz solcher Momente des Schwächelns mit meiner Abstinenz durchgehalten, und es ist durchaus eine kleine Pointe, dass es ausgerechnet der Alkohol war, der mir Twitter auf Dauer verekelt hat. Ich hatte natürlich meinen Fastenplan auf dem Nachrichtendienst entsprechend promotet und mich gleichzeitig mäkelig vom Dschungelcamp distanziert, dessen aktuelle Staffel gerade auf dem Programm stand. Mit dem Hinweis, ich könne in meinem fortgeschrittenen Alter den Verlust weiterer Gehirnzellen nicht riskieren, hatte ich mich von der Realityserie und vom Alkohol gleichzeitig verabschiedet. Von beidem geht ja auch eine unbestrittene Suchtgefahr aus.
Kurz vor dem Aschermittwoch kamen mir dann aber Bedenken, ob ich dem Fastenversprechen gewachsen sein würde, und ich versuchte, bei meinen Twitter-Fans für den Fall, dass ich es dann doch nicht schaffen würde, vorsorglich etwas zurückzurudern. Zur gleichen Zeit brach Martin Schulz, der unglückliche Kanzlerkandidat der SPD, sein Versprechen, niemals in ein Kabinett unter Merkel einzutreten, indem er sich um das Amt des Außenministers bemühte. Der Mann hatte nach der Bundestagswahl die Mütze so voll bekommen, dass er es auch noch überleben würde, wenn ich mich hinter seinem Rücken verstecken würde. Also twitterte ich, dass der Schulz ja ein gutes Beispiel dafür sei, wie schwer es werden kann, gegebene Versprechen auch zu halten. Ich dachte dabei, wie meistens, nur an mich. Das allwissende Netz stellte aber sofort eine Verbindung her zwischen meinem Alkoholverzicht und den Alkoholproblemen, die Martin Schulz in seiner Jugend hatte. Ich hatte davon überhaupt nichts gewusst und war tief betroffen, als man mir in einem zweiten Shitstorm diesen unsensiblen Bezug um die Ohren haute. Zu so etwas hätte ich mich, nüchtern oder im Suff, nie hinreißen lassen.
Aber eines war mir klar geworden: Ein Alkoholexzess ist nach einem anständigen Kater vergessen, ein Shitstorm klebt dir am Schuh wie Hundekacke. Dass ich meine jugendliche Kleptomanie mit meiner osteuropäischen DNA entschuldigen wollte, wirft man mir auch heute noch gelegentlich vor. Als ich also vor der Entscheidung stand, welcher Sucht ich mich nach durchstandener Abstinenz wieder zuwenden wollte – saufen oder twittern –, war die Antwort für mich sofort klar. PROST allerseits!