WHEN I’M SIXTY-FOUR
The Beatles
D
ass Paul McCartney mehr ist als eine erfolgreiche Ikone der Popgeschichte, sieht man daran, dass er sich bereits in seinen frühen Jahren Gedanken über das Alter gemacht hat. Mit vierundzwanzig war mir völlig egal, was ich vierzig Jahre später treiben würde, aber Paul hatte eine Vision.
Auf der Höhe der Beatlemania fragte er in einem Song auf dem berühmten Sgt. Pepper
-Album besorgt: »Will you still need me, will you still feed me, when I’m sixty-four?«
Gefüttert werden muss heute weder er noch ich, aber das vorgegebene Alter haben wir bereits überschritten. Und beide müssen wir wohl zugeben, dass wir noch gebraucht werden wollen. Paul ist ständig auf »Welttournee«, und sein letztes Album ist nicht nur großartig, sondern ganz sicher auch nicht sein letztes. Der Mann ist jetzt fünfundsiebzig. Also nix mit »Doing the garden, digging the weeds«, wie er es besingt. Auch ich beschäftige mich selten mit Gartenarbeit und hatte noch nie Spaß am Jäten von Unkraut. McCartney hat mittlerweile mehrere Landsitze, auf denen sicher mehrere Gärtner unterwegs sind. Ich kann mir zumindest einen Gärtner leisten, und der mäht den Rasen um eine Windmühle, die nicht mehr dort steht, wo sie mal stand. So war das alles nicht geplant
.
Paul sang mit vierundzwanzig davon, sich als Rentner ein »cottage in the Isle of Wight« leisten zu können, und ich ging davon aus, dass mir in diesem Alter der Bayerische Rundfunk eine ordentliche Rente überweisen würde. Es kam für uns beide anders, und wir haben keinen Grund, uns zu beschweren. Aber eine nachdenkliche Formulierung in dem heiteren Beatles-Song enthält für jeden von uns, Gartenarbeit oder nicht, zwei düstere Vokabeln. Auch wenn sie in diesem Zusammenhang anders gemeint sind, bin ich immer erschrocken, wenn ich sie gehört habe: »Wasting away …« Das klingt nach Abfall (waste), der so langsam vor sich hin fault. Keine schöne Perspektive für die eigene Zukunft.
Tatsächlich wird das Alter von manchen Menschen als langsames Siechtum wahrgenommen, eine Sicht, die ich mich weigere zu teilen. Dass es auch anders geht, beweist der Sänger der amerikanischen Erfolgsgruppe Aerosmith. Steven Tyler hat mal verkündet, dass »siebzig das neue fünfzig« ist, und nach dieser Rechnung bin ich ein später Vierziger und habe den besten Teil meines Lebens noch vor mir. Das Recht, sich in Bezug aufs Altern in die Tasche zu lügen, muss man wohl ausnutzen, um nicht trübsinnig zu werden. Ich tue das mit ganzer Kraft, muss aber zugeben, dass mir dabei immer wieder Knüppel zwischen die Beine geworfen werden. Das liegt zum einen an der Gesellschaft, zum anderen an weniger sensiblen Individuen. In der Werbung sieht man Weißhaarige nur dann, wenn es um Medikamente, falsche Zähne oder Impotenz geht. Im World Wide Web irren Menschen jenseits der sechzig durch digitale Welten, die sie überfordern und die sich in einen schwarzen Bildschirm auflösen, wenn sie zweimal die falsche Taste drücken. Außerdem sind sie schamlosen Betrügern ausgeliefert
.
Mir war gestern mein Smartphone eingefroren, nachdem ich meinem Enkel per Facetime zum Geburtstag gratuliert hatte. Das Ding klingelte auch nach dem Gespräch weiter und ließ sich einfach nicht mehr abschalten. Wenn ich draufschaute, zeigte der Bildschirm mein ratloses Gesicht. Ich hätte es bis zum nächsten Geburtstag weiterklingeln lassen können, aber war nach fünf Minuten schon genervt. Paul McCartney hätte seinen Gärtner gefragt, was er tun soll, ich rief meinen Sohn an.
»Obere Lautstärketaste und Taste auf der rechten Seite gleichzeitig drücken!«
»Das mach ich doch die ganze Zeit.«
»Dann weiß ich auch nicht, geh zum Apple Store.«
Vielen Dank! Anstatt eine Stunde im Auto zu sitzen, suchte ich erst mal online nach gutem Rat. Obwohl dort angeblich echte Menschen weiterhelfen, merkt sogar einer wie ich, dass das alles verbale Versatzstücke sind, die einem nur nützen, wenn das Problem ein typisches Geräteversagen ist. Meines war nicht typisch, also rief ich mehrere »Helplines« an, auf denen es kein Durchkommen gab, bis sich bei einer Nummer, die ich unter »Apple« im Netz fand, tatsächlich ein freundlicher Mensch mit indischem Akzent meldete. Schon mal gut, denn Inder kennen sich in der digitalen Welt besonders gut aus, irgendwann wird sie Indernet heißen.
Ich schilderte aufgeregt mein Problem und hielt das Smartphone an die Muschel, um den Mann davon zu überzeugen, dass dieser schnarrende Facetime-Wahlruf meine Nerven jetzt seit einer halben Stunde abtötete. Ein Wunder geschah. Der freundliche Mann erkannte einen Virus, warnte mich davor, andere Geräte damit zu infizieren, und stellte fest, dass ich mich noch in der Garantiephase befand. Man würde mir
morgen ein neues iPhone nach Hause liefern und dafür mein altes abholen. Ich durfte mir von zwei Zeitfenstern eines aussuchen. Allerdings müsste ich bis dahin ein Pfand in Form von AppleCards hinterlegen, die ich an jeder Tankstelle erhalten könnte. Im Gegenwert eines iPhones, also für dreihundert Dollar. In einer Stunde würde ihn sein Telefoncomputer verbindlich daran erinnern, mich zurückzurufen.
Meine Tankstelle verkaufte keine AppleCards, aber im Supermarkt bekam ich welche. Mit dem Schnarrton im Ohr und leicht verschwitzt gab ich dem hilfreichen Inder die Codes der drei Karten durch, worauf er aber ein »Problem« bekam. Offensichtlich versagte jetzt bei ihm die Technik, aber er würde mir für meine Mühen dreihundertfünfzig Dollar auf mein Kreditkartenkonto zurücküberweisen. Ich war also auf jeden Fall im Plus. Dafür müsste ich aber noch mal los und jetzt sechs Apple-Karten à fünfzig Dollar kaufen, die würden in der Bearbeitung definitiv keine Probleme machen. Ich zog tatsächlich wieder los und holte das Sechserset. Allerdings rief ich noch mal meinen Sohn an.
»Papa, die bescheißen dich, ich hab doch gesagt, geh zum Apple Store!«
Seufzend gehorchte ich. Dort drückte ein Teenager in einem blauen T-Shirt erst den oberen, dann den unteren Knopf auf der linken Seite des Smartphones und dann den auf der rechten. Er belehrte mich, dass man dies in schneller Reihenfolge tun müsse. Das Ding ging sofort aus, und als es wieder anging, war der Klingelton weg. Das Smartphone war repariert, ich war dreihundert Dollar los und verschenkte sechs AppleCards à fünfzig Dollar an den Gärtner.
Will man technisch mithalten, fühlt man sich spätestens ab sechzig verraten und verkauft. Bösartige Menschen schenken
einem dann diese Riesenfernbedienung mit ganz großer Schrift, auf die man alle seine elektronischen Geräte programmieren kann, was man aber auf keinen Fall hinbekommt. Ich habe inzwischen drei von diesen Dingern geschenkt bekommen. Wasting away?
Wann geht das los, ab wann müssen wir in Kauf nehmen, von unserer Umwelt als »alt« wahrgenommen zu werden? Sollen wir uns ergeben oder vor dieser Tatsache davonlaufen? Eine Frage, die auch ich mir stelle, und ich muss gestehen, dass ich schon damit ein Problem habe. Mit der Antwort sowieso. Lang genug habe ich mich an den Moralisten Joseph Joubert gehalten, der völlig zu Recht festgestellt hat: »Man ist meistens nur durch Nachdenken unglücklich.« Also habe ich es bleiben lassen und immer in dem Eindruck gelebt, glücklich zu sein.
Was im Wesentlichen davon kam, dass ich auch nachweislich mein ganzes Leben lang Glück gehabt habe. Selbst als mir das Haus abgebrannt ist, kam niemand zu Schaden. Ich sowieso nicht, denn ich war wieder mal ganz woanders. Offensichtlich bin ich nie da, wo’s gerade brennt. Soll ich nun unglücklich werden, nur weil ich so alt geworden bin? Ein Widerspruch in sich selbst. Also lassen Sie uns gemeinsam der Frage nachgehen, wie man auch als alter Hund mopsfidel bleiben kann.
Wir haben ja alle schon mal das Glück, in der heutigen Zeit zu leben, Smartphone-Ärger hin oder her. Wer heute alt ist, hat die beste Zeit erlebt, die in den vergangenen Jahrhunderten vergeben wurde. Die »Kriegsgeneration« ist weitgehend aus dem Rennen, wir kennen »die schlechte Zeit« nur aus den Geschichten unserer Eltern, und es tut uns gut, sie gehört zu haben. Wir haben unsere Kindheit »draußen«
verbracht und uns später Liebesbriefe aus Papier zugesteckt, statt uns per Mail zu ver»app«reden. Als es ernst wurde, gab es schon die Pille, aber noch kein Aids, und alle hatten das Gefühl des Aufbruchs. Wir sortieren die Jahrzehnte nach der Popmusik, die uns durch sie begleitete, und nicht nach den Kriegen, wie die Generation vor uns. Nachdenklichen Menschen fällt für die Achtziger der Mauerfall ein, ich denke an Duran Duran und Michael Jackson. Wir leben und ernähren uns anders. Meine Eltern verbrachten den Sonntag bei Gans und Blaukraut, ich mit Guns and Roses.
Vielleicht ist es dieser Unernst, mit dem ich ja auch noch beruflich erfolgreich war, der es verhindert hat, dass ich mich auf den »Ernst des Lebens« eingelassen habe. Soll ich jetzt Trübsal blasen, nur weil die Haare dünner werden und die Hüften dicker? Das will ich nicht, aber es fragt mich ja auch keiner. Da muss jeder selber durch. Eine wichtige Entscheidung ist es, sich im richtigen Umfeld zu bewegen. Wer sich im reifen Alter nur mit jungen Menschen umgibt, wird bald merken, dass er dabei schnell »alt« aussieht, obwohl wir insgesamt härter im Nehmen sind. Meine Generation hat geraucht wie blöde, heute setzen sie schon die Atemschutzmasken auf, wenn im Radio »Smoke on the Water« von Deep Purple läuft. Uns gehen die weinerlichen Knaben auf den Senkel, die sich durch die aktuellen Hitparaden jammern. Auf dem »Highway to Hell« wurde es für uns zwar irgendwann ungemütlich, aber wir hatten wenigstens eine Richtung. Tim Bendzko, einer der jungen Chart-Helden, eiert dagegen ganz schön rum. Er musste erst mal »die Welt retten« und stellte dann entgeistert fest: »Ich bin doch keine Maschine! / Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut / Und ich will leben bis zum letzten Atemzug.
«
Das sollte er schaffen.
Die Welt haben wir leider trotz unserer großen Klappe in den Sechzigern nicht gerettet. Aber irgendwie sah sie zu unserer Zeit besser aus. Oder bilden wir uns das nur ein, so wie sich jede Generation das einbildet? Und das Ende von allem wurde ja schon immer eingeläutet. Ich hatte mich fest auf das durch den »sauren Regen« verursachte »Waldsterben« eingerichtet und bin mit möglichst vielen Mädchen durch den dunklen Tann geschlendert, um noch was von ihm zu haben. Der deutsche Forst ist seither nach meiner Kenntnis nicht wesentlich kleiner geworden, aber dankbare Waldspaziergänge meiner Kinder sind mir nicht in Erinnerung. Dafür ist jetzt der Klimawandel die große Bedrohung der Zukunft, und ich habe wieder den Eindruck, dass ich das ernster nehme als mein Nachwuchs.
Sollte das die »Weisheit des Alters« sein, die sich da langsam einstellt? Wenn sie so heißen muss, dann pfeife ich darauf. Trotzdem kann ich der Wahrheit nicht ewig aus dem Weg gehen.
Mit seiner Behauptung, dass Siebzigjährige heute da sind, wo früher Fünfzigjährige waren, legt Steven Tyler die Wirklichkeit doch sehr zu seinen Gunsten aus. Wobei, ich fühle mich nicht ständig alt. Nur manchmal. Dann befällt mich ein Gefühl leiser Wehmut. Das ist meistens ein passiver Vorgang. Du spürst plötzlich, dass du aussortiert wirst, und möchtest doch gerne noch dazugehören. Du wirst durch Jüngere ersetzt. Es ist idiotisch, dies als gnadenlos zu empfinden. Ich weiß das, und trotzdem tut es weh. Ja, es tut weh. Und es tröstet auch nicht, dass diese Erfahrung jeder irgendwann machen muss. Auch ich habe Ältere verdrängt. Und zwar ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Auch ich habe
Vorgesetzte, die mir den Weg nach oben versperrt haben, als »alte Säcke« beschimpft.
Kürzlich beschwerte ich mich bei einem Journalisten, der Günther Jauch und mich die »alten Männer« des deutschen Fernsehens genannt hatte. Er wies mich entschieden darauf hin, dass er von uns als »großen alten Männern« gesprochen hatte. Das hilft wenig. Lieber jung und klein als alt und groß.
Nachdem das späte Alter ja nur durch frühen Tod zu verhindern ist, was ich auch für keine gute Lösung halte, sollten wir gemeinsam einen Plan fassen, wie man furchtlos und zufrieden mit diesem Thema umgeht. Dass ich selber noch keinen hatte, habe ich mittlerweile gemerkt. Ich dachte allerdings, ich sei schon durch. Nicht mehr weit zur goldenen Hochzeit, die Kinder aus dem Gröbsten raus, zwei Enkel und die Sonne Kaliforniens. Da muss man nicht mal bescheiden sein, um von »Glück« zu reden.
Ich bin zuerst auch ziemlich erschrocken, als ich bemerkte, dass ich ins Schleudern komme, und habe, wie ich das in der Fahrschule gelernt habe, sofort versucht, zurück in die Spur zu finden. Aber das Schwindelgefühl war plötzlich wieder etwas ganz Neues, und als mir klar wurde, dass ich nur die Wahl zwischen Bremsen und Gasgeben hatte, habe ich mich, vernünftig oder nicht, für Gasgeben entschieden. Man hat mir dazu gratuliert, man hat mich deswegen beschimpft. Keine Ahnung, ob ich alles richtig oder alles falsch gemacht habe. Die Zukunft wird es zeigen, und ich hoffe, ich habe noch eine.
Mit einer Frau alt zu werden, ist immer seltener der Normalfall und in seltenen Fällen das ungetrübte Glück. Man muss sich also erst einmal darauf einlassen, dass es dieses ohnehin nicht gibt. Zu früh darf man aber auch nicht zu dieser Erkenntnis gelangen, denn die Folge ist eine hektische
Glückssuche in allen Ecken des Lebens, auch den dunklen, nur um am Ende zur selben Erkenntnis zu kommen. Allerdings hat man sich, wenn man es so versucht, auf dem Weg dorthin mehr blaue Flecken geholt. Manche brauchen das und behaupten am Ende, wenigstens »gelebt« zu haben, andere finden in der Ruhe ihre Kraft und in der Routine ihr Glück.
Es gibt auch die, die ihr Leben lang auf der Suche nach etwas sind, was sie nie finden. Die kommen recht erschöpft im Alter an. Einige arme Teufel befinden sich ihr Leben lang in diesem Teufelskreis und kommen nie zu Ruhe. Zu dieser Sorte habe ich nie gehört.
Man kann natürlich auch bezweifeln, ob es der Sinn des Lebens ist, irgendwann »zur Ruhe« zu kommen. Der Chinese findet im Yin und Yang seinen inneren Ausgleich, der Buddhismus sucht den »mittleren Weg« zur Überwindung des leidhaften Daseins. Der bereits zitierte christliche Philosoph Augustinus formulierte im Hinblick auf die ewige Seligkeit: »Ruhelos ist mein Herz, bis es Ruhe findet in Dir.« Das eine ist der Versuch eines unaufgeregten Lebens, das andere ein schöner Erklärungsversuch, für den es allerdings keine Garantie gibt. Man wird da leider auch im Alter nicht schlauer.
Vielleicht bin ich auch noch nicht alt genug, um die innere Unruhe abzulegen, die mich immer noch umtreibt. Am Ende seiner Weisheit will man nie sein, und ich stelle deshalb mit einer gewissen Genugtuung fest, dass ich noch weit davon entfernt bin. Mit dem Blick nach hinten kann ich mir den Weg nach vorne auch nicht sicherer machen. Also taste ich mich weiter, wohlwissend, dass der Weg immer steiler und mühsamer wird. Auch Paul Mc Cartney hat keinen besseren Vorschlag. Mit vierundzwanzig wollte er es von der Frau, die
er in diesem Song liebte, gerne schriftlich und per Fragebogen. Er hat die Garantie nie bekommen. Keiner bekommt sie. Weder Sie noch ich noch ein Beatle:
Give me your answer
Fill in a form
Mine for evermore
Will you still need me
Will you still feed me
When I’m sixty-four?