SHOW ME THE WAY
Peter Frampton
I mmer öfter schleicht sich bei mir das Gefühl ein, im falschen Film zu sitzen oder zumindest für einen Moment die Orientierung verloren zu haben. Ich trau mich dann aber nicht, jemanden nach dem Weg zu fragen oder ihn zu bitten, mir zumindest die Richtung zu weisen, in der es weitergeht, weil ich befürchte, sie aus eigener Kraft nicht mehr finden zu können. Dies nicht zugeben zu wollen, wenn es passiert, ist der gleiche Reflex, mit dem man, sobald man ein gewisses Alter erreicht hat, den schmerzenden Rücken leugnet oder die nachlassende Sehkraft. An den Jahren darf es nicht liegen, denn alt will man auch dann nicht sein, wenn man es ihrer Anzahl nach ist.
Verstört schon gar nicht. Also schiebt man die eigene Verwirrung auf den Realitätsverlust und das Unvermögen der nachwachsenden Generation. Ich habe unwirsche alte Leute immer dafür verurteilt, ihren Frust am eigenen Dahinsiechen an der Jugend auszulassen. Also versuche ich, meine Frustrationen zu zügeln und so gut wie möglich zu vertuschen. Das gelingt mir nicht immer.
Kürzlich bin ich als Gast in einer Talkshow kurz verzweifelt. Man hatte mich da hingeschickt, um für eine Sendung Reklame zu machen, an der mir sehr viel lag. Es ging um einen musikalischen Streifzug durch die Sechzigerjahre. Beim ZDF gibt es gerade noch genug Kundschaft, die sich an diese Zeit und ihre Helden erinnert. Die wollte ich damit erreichen. Ich saß als Botschafter für Love and Peace im Panel, musste aber noch warten, bis ich an der Reihe war. Zuerst kam der Regierende Bürgermeister von Berlin dran. Markus Lanz haute ihm gleich zum Auftakt die gesammelten Defizite der deutschen Hauptstadt um die Ohren. Erst die Horde rechtsradikaler Randalierer am Tag der Deutschen Einheit. Dann die arabischen Clans, die in Berlin ganze Straßenzüge für sich als Hoheitsgebiet reklamieren. Ein jugendlicher Vertreter dieser famosen Truppe machte sich im Bild über die deutsche Gerichtsbarkeit lustig, vor der er sich nicht im Geringsten fürchtete: »Det habt ihr jetzt von eurer Demokratie!« Der Regierende nahm noch nach Kräften seine Justiz in Schutz, da flog ihm schon ein Film über die örtliche Drogenszene um die Ohren: Giftspritzen auf Kinderspielplätzen, Drogenhandel auf dem Schulhof. Feixende Dealer und erbärmliche Kleinkriminelle. Dann die Bildungsmisere in der Hauptstadt und die unhaltbaren Zustände an Berliner Schulen.
Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nie Mitleid mit überforderten Politikern in Talkshows, selbst wenn sie neben mir saßen, aber nun spürte ich doch den Drang, dem Manne zu Hilfe zu kommen. Ich warf meine geplante Love-and-Peace-Parade über den Haufen und mich selbst vor den Berliner Lokalpolitiker. Dabei wurde ich für meine Verhältnisse relativ fuchsig. Man hat mir später unterstellt, ich hätte Markus Lanz »angegriffen«. Nichts lag mir ferner als das. Ich mag den Mann und wollte ihn vor dem Schlimmsten bewahren, was einem Moderator in der Tiefe der Nacht passieren kann: dem Quotenschwund. Deshalb raunzte ich: »Die eine Hälfte der Zuschauer hat jetzt ausgeschaltet, weil sie das Elend nicht mehr erträgt, und die andere Hälfte will morgen früh aus dem gleichen Grund nicht mehr aufwachen.« Markus Lanz, ganz der engagierte Journalist, widersprach dem besorgten Entertainer vehement, und ich machte sofort einen Kehrtschwenk und klopfte mir reumütig gegen die Brust. In meiner Selbstanklage ging ich so weit, mir selbst vorzuwerfen, »den Kompass« verloren zu haben und damit etwas orientierungslos in der neuen Welt der politischen Korrektheit, der Shitstorms und der gnadenlosen Social-Media-Wächter herumzustolpern. Half alles nix. Auch wenn ich später noch mit meinem Oldieprogramm um die Ecke kam und es mit Werbung für meine Gäste Donovan, Melanie und Peter Fonda versuchte, interessierte das, weit nach Mitternacht, niemanden mehr.
Am nächsten Morgen fand ich mich in den Schlagzeilen wieder. Ich sei mit meinem Kollegen Markus Lanz »aneinandergeraten« und hätte in seiner Sendung einen beleidigten Eindruck gemacht. Beleidigt war ich keineswegs, ein bisschen verzweifelt schon, vielleicht sehe ich dabei beleidigt aus.
Wo ich früher noch wilde Verteidigungsversuche unternommen habe, folge ich mittlerweile zähneknirschend dem Motto, das mir Social-Media-Experten ans Herz gelegt haben: »Never complain, never explain.« Ich habe den Satz aus journalistischem Pflichtgefühl gegoogelt und dabei bemerkt, dass ich mit dieser Haltung unbeabsichtigt dem britischen Politiker und Prime Minister Benjamin Disraeli gefolgt bin, der diese arrogante Maxime dem englischen Königshaus angeraten hat, das damit über die Jahrzehnte ganz gut gefahren ist. Mir half das wenig, denn schon am nächsten Tag erreichte mich die Nachfrage der Bild -Zeitung, ich hätte bei Markus Lanz den Verlust meines Kompasses beklagt. Das klang nun wieder so, als würde ich in präseniler Verwirrung jetzt die Himmelsrichtungen durcheinanderbringen – und das wollte ich nun auch wieder nicht auf mir sitzen lassen. Also suchte ich in drei Sätzen um Verständnis nach, was natürlich schiefging. Muss man denn immer gleich ein Buch schreiben?
Aber ich nutze diese Möglichkeit sehr gerne, um meine Verwirrung nicht nur zu beklagen, sondern ihrer auf diesem Wege vielleicht sogar Herr zu werden. Das Letzte, was ich möchte, ist nämlich, in die Reihe dieser mosernden alten Männer eingeordnet zu werden, die mit ihrer Weltsicht Schiffbruch erlitten haben und nun den Untergang der gesamten Zivilisation auf sich zukommen sehen. Ich möchte auch nicht als die unterhaltsamere Version des verkniffenen Herrn Sarrazin in die Geschichte eingehen, denn weder bin ich der Meinung, dass Deutschland sich abschafft, noch glaube ich, dass uns die »feindliche Übernahme« bevorsteht.
Aber ich bin besorgt. Klar weiß ich mich damit mit jeder älteren Generation gemein, die der nachwachsenden nichts mehr zutraut. Ich muss auch zugeben, dass ich gedanklich jenen folge, die befürchten, dass es zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit denen, die nach uns kommen, nicht so gut gehen wird wie uns. Das ist bitter, denn es betrifft meine Söhne und Enkel. Letzteren ist das noch egal, erstere scheinen sich deswegen keine großen Sorgen zu machen. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass ihre finanzielle Zukunft nicht hoffnungslos ist und dass beide meine unbekümmerte Sorglosigkeit geerbt haben. Immerhin habe ich das Waldsterben, den Rinderwahn und die Volkszählung überlebt. Ich habe meine Kinder nicht immerzu auf den desolaten Zustand der Welt hingewiesen, vielleicht habe ich da was falsch gemacht. Ich habe sie wohl ermahnt, nicht jeden Tag Pommes in sich reinzuschütten, und ihnen erklärt, dass Gummibären kein Hauptnahrungsmittel sind, was in meinem Fall ja schon eine sehr pädagogische Anstrengung erfordert hat. Aber wenn sich einer in der Familie Sorgen macht, was den Zustand unserer Welt betrifft, dann bin ich das.
Hier ein paar unzusammenhängende und empirisch nicht belegbare Gründe für meine Befürchtungen. Ich saß kürzlich in New York neben einem Mann, der sich als »Head of Psychology at Yale University« vorstellte. Ich habe das nicht überprüft, aber so stand es auf seiner Karte – und ich hatte auch nicht den Eindruck, an einen Hochstapler geraten zu sein. Der Mann glaubte zu wissen, dass es im Durchschnitt von jedem pubertierenden Mädchen hundertachtundzwanzig Selfies gibt, die besten von der Herstellerin selbst ins Netz gestellt. Glaube ich sofort. Ich bin überall auf der Welt immer wieder Zeuge, wie diese Kinder beim Erstellen von fotografischen Selbstporträts ihre Schnütchen ziehen, weil sie glauben, dabei besonders vorteilhaft auszusehen. Dem Psychologen zufolge werden diese Fotos dann von der Urheberin selbst so lange »bearbeitet«, bis sie der Idealvorstellung nahekommen, die diese von sich hat. Dieses Traumbild hat mit der Wirklichkeit immer weniger zu tun und richtet sich zusehends nach Idolen aus der Netzwelt, denen das Mädchen nacheifert. Dabei wird mit Photoshop und Schminke so lange gebastelt, bis das Original kaum noch mit der Fälschung mithalten kann. Diese Diskrepanz wird irgendwann zum Trauma dieser Jugendlichen, und die Netzexistenz tritt zusehends an die Stelle des wirklichen Lebens. Klingt nicht gut, ist aber nachvollziehbar.
Mit einem anderen Experten saß ich kürzlich beim Mittagessen. Er ist Neurowissenschaftler, und Wikipedia weiß von ihm, dass er sein Start-up für fünfzehn Milliarden an den Pharmakonzern Pfizer verkauft hat. Offensichtlich hat er ein neues Medikament entwickelt. Ich hab da genau hingeschaut, weil mir fünfzehn Millionen gereicht hätten, um ihn ernst zu nehmen, aber es waren wirklich »billions«, der Mann ist ebenfalls Amerikaner. Seit zwei Millionen Jahren, so dozierte der Wissenschaftler zwischen Thunfischcarpaccio und Trüffelnudeln, habe sich der Homo sapiens an den Umgang mit einer dreidimensionalen Welt gewöhnt. Seit ungefähr zwei Jahrzehnten wachsen unsere Kinder damit auf, die Welt weitgehend über einen zweidimensionalen Bildschirm wahrzunehmen. Da muss es doch zu einem Kurzschluss im Gehirn kommen! Seine kritische Einschätzung der Lage: Erstmals in der Geschichte der Menschheit übersteigen die technologischen Möglichkeiten die intellektuellen Kapazitäten des menschlichen Hirns. Wer bin ich, ihm zu widersprechen? Bei mir zumindest ist das so.
Ich habe mich gefragt, was ich jetzt machen soll. Alle Hoffnung fahren lassen? Stehe ich schon vor Dantes Hölleneingang? Oder wurde ich nur zum Opfer von Fake News?
Das waren zwei Herren, die ich nicht näher kannte. Mit einem saß ich beim Mittagessen, mit dem anderen beim Abendbrot. Bin ich den Verschwörungstheorien zweier Angsthasen auf den Leim gegangen, wie sie uns im Netz ständig um die Ohren fliegen? Oder soll ich diese Einschätzungen in der nächsten Talkshow, beim nächsten Gespräch mit einem besorgten Vater oder Opa genussvoll weiterverbreiten? Ich bin mir da sehr unsicher und schäme mich fast meiner Ängste. Zum einen bin ich einer dieser »alten weißen Männer«, die derzeit an allem Unheil in der Welt schuld sind, zum anderen kann man mir nicht einreden, dass dieses ungute Gefühl, das mich umtreibt, einer Altherrenneurose entspringt. Einer Lebenserfahrung gewiss, und die ist im Herbst umfangreicher geworden, als sie im Frühling war. Und ich versuche zu differenzieren und dazuzulernen, wo immer ich kann.
Vor einiger Zeit habe ich an einem TV-Format teilgenommen, das ich gerne im öffentlich-rechtlichen Programm gesehen hätte. Aber die Vertreter von ZDF und ARD müssen zu spät aufgestanden sein, als diese Idee auf einer der vielen internationalen Fernsehmessen im Angebot war. Es heißt Der Vertretungslehrer und ist sowohl simpel als auch spannend. Statt des gewohnten Lehrpersonals steht plötzlich eine Figur vor der Klasse, die aus einem völlig anderen Lebensbereich kommt. Aber einem, für den sich junge Leute interessieren. Der Boxweltmeister Wladimir Klitschko war da, hat aber gewiss keine Mathestunde abgehalten, und die coole Bloggerin, über die in ihrer Klasse sicher mehr Begeisterung zu spüren war als bei mir, hat um Platon sicher einen großen Bogen gemacht. Da musste ich wieder ran.
Es ging um die viel diskutierte »Jugend von heute«, und wir haben in einem Gymnasium in Bayreuth darüber diskutiert, wie Platons Tugenden heute aussehen müssten. Die oberfränkischen Kinder des neuen Jahrtausends waren kaum anders als wir zur Hälfte des vergangenen. Da saßen die gleichen Witzbolde, Klugscheißer und Schweigemönche wie in meiner Klasse vor ein paar Jahrzehnten. Zur Tugend der »Tapferkeit« mochten sich die wenigsten bekennen, der furchtlose Schwertkampf ist kaum noch gefragt. Wir waren uns aber schnell einig, dass man gerade in der Welt von heute kein Feigling sein darf und es zumindest einer gehörigen Portion Zivilcourage bedarf, um für Minderheiten eintreten zu können. Das wollten sie alle, und das wollten wir damals auch. Nur sind die Minderheiten heute leichter auszumachen. Die Welt verbessern wollten wir damals auch schon. Weit haben wir’s gebracht. Für Platons Tugend der »Mäßigung« konnten sich die oberfränkischen Teenager genauso wenig begeistern wie wir zu unserer Zeit, und von »Gerechtigkeit« ist die Welt von heute noch genauso weit entfernt wie in jedem Moment ihrer Geschichte. Da waren wir einer Meinung.
Eine zusätzliche Tugend, die sie bei mir und Platon wohl vermisst hatten, haben die Bayreuther Schüler dann doch noch eingefordert: die Flexibilität. Davon ließ ich mich überzeugen und schrieb es an die Tafel. Es war beruhigend festzustellen, dass Kreide beim Schreiben immer noch quietscht wie damals. Und als das Wort dann so da stand: … Flexibilität …, da hat der Pädagoge in mir eine Gedenkminute eingelegt. Denn das war immer meine Prämisse: Flexibel bleiben! Ich kam aus der Generation, deren Väter mit ihrem Gefasel von der »deutschen Eiche« – die jedem Sturm standhält – gescheitert waren. Das »Tausendjährige Reich« war zerbrochen, das Märchen von der tausendjährigen Eiche konnte uns keiner mehr erzählen. Sich trutzig, aber starr gegen den Sturm zu stemmen brachte gar nichts. Sich geschmeidig im Wind zu wiegen wie der Bambus erschien mir sinnvoller. Was gestern richtig war, musste heute nicht mehr unbedingt stimmen. Und dass die Alten versagt hatten, lag ja wohl nie klarer auf der Hand als im Deutschland der Fünfzigerjahre, in das ich hineingeboren wurde. In den Sechzigern schien uns der richtige Zeitpunkt für den Aufstand gekommen. Also mir nicht gerade, aber doch vielen anderen.
In der fränkischen Idylle war von der Revolution wenig zu spüren, und von dort nahm sie gewiss nicht ihren Ursprung. Aber den frischen Wind, der den Muff von tausend Jahren aus den Talaren wehen sollte, nahmen wir durchaus wahr. Und er wehte nicht nur aus den Universitätsstädten in die Provinz, sondern auch aus Übersee. Das bemerkte man sogar in Kulmbach. Die Bürgerrechtsbewegung in den USA forderte endlich das ein, was die Gründerväter bereits in ihrer Unabhängigkeitserklärung postuliert hatten: gleiches Recht für alle. Angela Davis, die Black Panthers und Martin Luther King gelangten auch ins Bewusstsein des eher verträumten Gymnasiasten, der lieber die Bravo las als die Mao-Bibel. Die Umwelt hatte ich bisher als Ausflugsziel für Knutschnachmittage wahrgenommen, plötzlich gab es erste Befürchtungen, sie sei gefährdet, aber der Frankenwald rauschte für mich dunkel wie eh und je, ich hatte nicht das Gefühl, mir um ihn Sorgen machen zu müssen. Dass die sexuelle Revolution nicht nur mit Pille und Miniröcken zu tun hatte, zwei Aspekte, die ich absolut unterstützte, ging mir erst sehr viel später auf. Die Emanzipation der Frau war für mich kein Thema, ich stand ohnehin unter dem Pantoffel meiner alleinerziehenden Mutter, die wohl nie einen Grund hatte oder keinen sah, dafür auf die Barrikaden zu gehen. Der Einsatz für Minderheiten erschien von mir nicht gefordert, denn ich sah in meiner Umgebung schlicht keine. Man hatte mir das Bewusstsein anerzogen, das drängendste Problem auf der Welt sei es, schwarze Heidenkinder in die Arme Gottes zu führen. Schwule und Lesben waren für mich interessante Außenseiter, den Begriff »Transgender« kannte ich nicht und hätte ihn im Bereich Raumpatrouille verortet. »Flüchtlinge« kamen im Allgemeinen aus Schlesien, meine Eltern gehörten dazu, oder aus der Ostzone. Und bei denen klappte es eher selten, Fluchtversuche aus der DDR, die immer in Gänsefüßchen gesetzt wurde, endeten meist tragisch .
Ich hatte die Weltsicht eines Einfaltspinsels, hielt mich aber trotzdem für flexibel. Natürlich wäre ich für die Rechte von Minderheiten eingetreten, sage ich mir heute. Aber in der Schule ging es darum, dass die Minderheit der Spartaner von der griechischen Mehrheit verprügelt wurde, und zu Hause waren wir die katholischen Flüchtlinge, umgeben von einer Übermacht protestantischer Sozis, die in fränkischem Dialekt vor sich hin polterten und von Natur aus zu einer ewigen Unzufriedenheit mit der Lage neigten. Also begriff ich mich selbst als Teil einer Minderheit.
Die einzigen Ausländer im Kulmbach meiner Kindheit hießen de Pellegrin und führten die Eisdiele »San Remo«. Kein nährreicher Mutterkuchen für einen Revolutionär. Ich sah über den Kirchturm der St.-Hedwigs-Kirche, neben der wir wohnten, nicht hinaus.
Es gab kein Smartphone und kein Internet, Ludwig Erhard hat nicht getwittert, Bundespräsident Heinrich Lübke erzählte Journalisten treuherzig, wie der Jetlag funktioniert, und wo Jan Böhmermann heute den türkischen Präsidenten einen »Ziegenficker« nennt, sang damals Peter Alexander treuherzig von der Zeit, in der »Böhmen noch bei Öst’reich war« und »halbert Wien in Prag, beim Katholikentag«.
Das hört sich an, als wäre ich kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg geboren. Aber meine Kindesjahre waren geprägt von den behäbigen Fünfzigern. Und die Revolution der Achtundsechziger hat Oberfranken gerade mal erreicht, aber kaum wachgerüttelt. In dieser Zeit habe ich meinen Kompass geeicht. Klar habe ich in der Zwischenzeit was dazugelernt, aber vielleicht hat sich gerade meine Generation in einer gewissen Überheblichkeit mehr als andere Generationen dagegen gewehrt, ihre Weltsicht immer wieder neu zu justieren. Woher kommt es, dass wir uns immer ein bisschen »nostalgisch« gebärden? Musikalisch hänge ich immer noch bei den Beatles, und wenn ich in meiner aktuellen Radioshow im Bayerischen Rundfunk apokryphe Songs auflege wie »All the Young Dudes« von Mott the Hoople, dann klopft mir sofort der eine oder andere Graukopf per Mail auf die Schulter: »Endlich!« oder: »Geht doch.«
Wir waren mit der Überheblichkeit groß geworden, mit den Sünden der Väter nichts zu tun gehabt zu haben. Wir waren Autoritäten gegenüber kritisch und hatten das Gefühl, alles infrage stellen zu müssen, ohne es dabei gleich einzureißen, und die »große weite Welt« eröffnete sich für uns in der Werbung für die Zigaretten von Peter Stuyvesant. Aber davor, Spießer zu werden, hat uns das offensichtlich nicht bewahrt. Den Vorwurf, dass sich alle Männer meiner Generation zwangsläufig zu Machos mit eingebautem leichtem Rechtsdrall entwickelten, weise ich allerdings empört von mir.
Kürzlich hat mich eine politische Talkshow zum Thema »Heimat« eingeladen. Ich habe kurz nachgedacht und dann sehr schnell abgesagt. Stellen Sie sich vor, ich hätte bei Anne Will folgende Gedanken zum Besten gegeben: In Kulmbach läuteten dauernd die Glocken. Engel des Herrn … Maiandacht … Rosenkranz. Frühmesse, Spätmesse, Vorabendmesse. Und in Kulmbach hat es irgendwie entweder nach Hopfen oder Malz oder nach beidem gerochen. Wir waren Deutschlands berühmteste Bierstadt. Das war für mich Heimat. Und mit zwanzig war ich dann in Marokko. Ich war begeistert, mich so weit aus Kulmbach fortbewegt zu haben, und war in der Welt angekommen. Da rief der Muezzin vom Minarett, und ich sah fasziniert, wie Menschen sich auf den Boden legten, um zu beten, das gab es in Kulmbach nicht, da konnten die Glocken lange läuten. Das nötigte mir allergrößten Respekt ab, Schande über uns fromme Katholiken. Und es roch in Marokko überall anders, aber nirgendwo nach Hopfen und Malz. Und im Restaurant habe ich Hummus gegessen und nicht nach Bratwürsten gesucht. Das war es, was mir spontan zum Thema Heimat einfiel. Stellen Sie sich vor, ich hätte in diesem Stil am Sonntagabend vor großem Publikum vor mich hingeplappert. So ist sie halt, die alte deutsche Eiche! Faselt was von Glockengeläut und Muezzin, hat aber nichts begriffen.
Den Shitstorm hätte ich wahrscheinlich auch als Bambus nicht überlebt. Und ich überlege immer noch, an welcher Stelle ich »ausländerfeindlich« oder »rassistisch« argumentiert hätte. Beide Geisteshaltungen gibt es bei mir nicht, sie stehen genauso wenig auf meinem Kompass wie Machogehabe oder frauenfeindliches Verhalten. Meine Mutter war eine so resolute Frau, dass ich nie in meinem Leben auf die Idee gekommen wäre, Schwäche und Frauen irgendwie in Verbindung zu bringen. Es haben mir genügend Mädchen und Frauen in bestimmten Situationen »nein« gesagt, als dass ich nicht wissen würde, was ein »nein« bedeutet. Auch ich habe den Unsinn irgendwann mal gehört, dass Frauen, die »nein« sagen, »vielleicht« meinen, und wenn sie »vielleicht« sagen, meinen sie »ja«. Hielt ich für idiotisch, aber ich habe das wahrscheinlich dem, der mir das weismachen wollte, nicht laut gesagt.
Wo ich auf die Barrikaden hätte gehen sollen, habe ich wohl oft feige gegrinst, den Vorwurf kann man mir machen, und nicht alles, was ich von mir gegeben habe, war aus heutiger Sicht korrekt. Mit männlichen Dumpfbacken konnte ich allerdings nie was anfangen. Ich habe nie anzügliche Witze in meinem Unterhaltungsrepertoire gehabt. Es war mir immer peinlich, sie mir anhören zu müssen, und selbst die wenigen lustigen habe ich sofort vergessen. Trotzdem hat man mich in meinen späten TV-Jahren zum Vater des Herrenwitzes stilisiert. Meine Hände habe ich auch nur auf die Knie meiner weiblichen Gäste gelegt, um sie an der vorschnellen Flucht zum wartenden Jet zu hindern. Das war vielleicht wirklich Fernsehen »von gestern« und ich der letzte in einer Riege von älteren Herren, an denen man das festmacht.
Ich sehe mich ja tatsächlich eher in einer Reihe mit Hans-Joachim Kulenkampff als mit vielem, was man mir heute im Fernsehen vorsetzt. Obwohl Kuli noch dreißig Millionen zugeschaut hatten und mir am Ende noch fünfzehn, hatten wir nicht ansatzweise die Selbstgewissheit, die ich bei einigen Protagonisten heute feststelle. In der 2019er-Ausgabe des Dschungelcamps bei RTL, einer eigenartigen Mischung aus Irrenhaus und Foltercamp, waren zwei faszinierende Männer unterwegs. Der eine wurde »Currywurstmann« genannt, der andere nannte sich selbst »Yotta«. Ich habe mich immer für einen selbstbewussten Menschen gehalten, aber an das Selbstwertgefühl dieser Herren reicht meines nicht heran. Der Wurstbrater sah sein wirres Gefasel immer bereits als Titelzeile der nächsten Bild -Ausgabe (wozu es dann aber dann doch nicht reichte), und der muskulöse Zwei-Meter-Mann »Yotta« mandelte sich zum Guru auf, der jeden Morgen seine Tageslosungen in den Dschungel brüllte. Darin ging es ihm immer gut, er war immer der Größte, und was er auch anpackte, würde ihm gelingen. Ähnliche Wünsche hatte mir der liebe Gott auch dann nicht erfüllt, wenn ich sie ordnungsgemäß in seinem Hause bei Weihrauch, Orgelklang und auf Knien abgeschickt hatte. Wo ich mir überlegt hatte, ob ich meinen Anspruch vielleicht etwas herunterschrauben sollte, wiederholte der Yotta-Mann seine Selbstanalyse jeden Tag und wurde sich seiner Sache immer sicherer, bis ihn die Zuschauer ebenso wie den selbstverliebten Currywurstmann gnadenlos aus der Show kegelten. Beide konnten das nur schwer begreifen.
Zur Dschungelkönigin wurde eine verstrahlte Blondine gekürt, deren Markenzeichen »der rote Lippenstift« ist und die sofort zu einem weiteren TV-Erfolg namens Let’s Dance weitergereicht wurde. Auf ihrem Karriereweg kam die junge Frau, sie heißt Evelyn, auch bei Günther Jauch und mir vorbei. Gemeinsam mit Barbara Schöneberger kämpfen wir uns bei RTL durch eine TV-Show, in der wir nicht wissen, was passiert. Die kleine Dschungelqueen agierte so zügig zwischen dämlich und niedlich, dass man gar nicht mehr wusste, ob man sie gerade knutschen oder abwatschen wollte. So schnell hat sich ein Geschäftsbereich verändert, den ich vor nicht allzu langer Zeit wenn schon nicht im Griff, so doch zumindest verstanden hatte.
Mir ist völlig klar, dass sich die Dinge schneller wandeln als früher, da muss ich nicht immer mitkommen. Aber ich tröste mich ein bisschen mit meiner ganz persönlichen Definition von Achsenverschiebung: Je mehr der Mainstream sich in Richtung Wahnsinn verschiebt, umso mehr rutsche ich, ohne mein Zutun, in die intellektuelle Ecke. Da wollte ich zwar nie hin, da gehöre ich vielleicht auch gar nicht hin, aber da finde ich mich plötzlich wieder und reibe mir erstaunt die Augen. Kann es wirklich sein, dass man mir im Bayerischen Fernsehen eine kleine Literatursendung anvertraut hat? Ich bin schon ein bisschen stolz darauf. Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen haben deswegen keine Sektkorken geknallt, und die Quoten des Dschungelcamps habe ich nicht erreicht, aber ich betrachte es als persönlichen Erfolg, dass Ferdinand von Schirach in der ersten Ausgabe dieser Sendung sein Buch Kaffee und Zigaretten vorgestellt hat. Das wäre zwar auch ohne einen Auftritt bei mir zum Bestseller geworden, aber der Autor hat mich ausdrücklich zum Weitermachen animiert. Zum »Influencer« in den sozialen Medien werde ich es nicht mehr bringen, aber es ist irgendwie beruhigend, dass ich am Ende meiner Fernsehkarriere wieder bei einem Vergnügen angekommen bin, das mir schon als Kind die beste Unterhaltung überhaupt zu sein schien, lange bevor das Fernsehen in mein Leben trat und lange bevor es zu meinem Lebensunterhalt wurde: beim Lesen.
»Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen«, hat Rilke mal geschrieben, aber der Mann war ein genialer Lyriker. Ich habe es nur zum Fernsehunterhalter gebracht. Deswegen finde ich es in Ordnung, dass es bei mir eher nach Kreisverkehr aussieht.
Ich will mich hier nun wahrlich nicht zum Musterknaben machen. Vielleicht habe ich ja gar nichts begriffen, und es ist nichts weiter als eine Schutzbehauptung, dass mir in letzter Zeit der Kompass abhandengekommen zu sein scheint. Womöglich bin ich mein ganzes Leben in die falsche Richtung marschiert und stehe jetzt in der falschen Ecke, ohne es wahrhaben zu wollen. So weit verunsichert bin ich, wie viele Männer meines Alters, durchaus. Auch ich neige mittlerweile dazu, meine Ausführungen in manchen Themenbereichen mit einem »… das wird man wohl noch sagen dürfen« zu garnieren. Ich habe es vielleicht gar nicht bemerkt, dass meine eingebildete »Flexibilität« in Wirklichkeit nichts anderes war als die Fähigkeit, mein Fähnchen jeweils nach dem Wind zu hängen und mich immer im Recht zu fühlen, ohne es jemals gewesen zu sein. Meine jugendliche Selbstherrlichkeit ist mir auf dem Weg der Reife vielleicht in Teilen abhandengekommen. Aber stehe ich nun wirklich auf der Seite derer, die ihre Vergangenheit zurückwollen, weil sie ihnen begreifbarer, übersichtlicher und unkomplizierter vorkam?
Ich hoffe das nicht, ich will das nicht, und ich glaube das nicht. Aber wie viele Männer meiner Generation muss ich mit dem Vorwurf leben, vieles zu spät verstanden und einiges falsch gemacht zu haben. Vielleicht bin ich das eine oder andere Mal vom Wege abgekommen und habe kurzfristig die Orientierung verloren. Aber ich bin dabei nie irgendwo gelandet, wo ich nicht hin wollte.