Aber es soll noch schlimmer werden. Viel schlimmer.
In nur wenigen Tagen, im gleichen Monat Mai.
Bis zum frühen Morgen habe ich mit Mama im Wohnzimmer gehockt. Wir haben geredet. Wie es weitergehen soll. Ob Julians Vater auch etwas gegen mich unternehmen würde?
Aber dann geht es zuerst gegen meine Mutter. Als wir nach nur zwei Stunden Schlaf und einem kurzen Frühstück gerade beide gleichzeitig die Wohnung verlassen wollen – Mama zum Krankenhaus, ich zur Schule –, hält ein Polizeiwagen vor unserer Haustür. Zwei Beamte steigen aus und versperren uns den Weg.
Mich beachten sie kaum, sondern sprechen Mama an: „Sind Sie Frau Kutala?“
„Ja, wieso?“, entgegnet sie, äußerlich ruhig und selbstbewusst. Sie ist an ihrer Uniform als Krankenschwester erkennbar.
Der Ältere der beiden, der einen dicken Bauch vor sich herschiebt, holt einen Bogen aus einer Mappe und hält ihn Mutter unter die Nase: „Gegen Sie liegt eine Anzeige vor: Wegen Beherbergung einer kriminellen Vereinigung!“
Mama gibt sich aber nicht so einfach geschlagen. „Das kann gar nicht sein!“ Ihre Stimme ist weiter ruhig.
„Ist aber so!“, beharrt der dicke Polizist. Dem Jüngeren scheint alles eher peinlich zu sein. Er schiebt mit seinem Schuh eine Zigarettenkippe zur Seite und gibt sich unbeteiligt.
„Von wem ist die Anzeige?“, fragt nun Mama in einem Ton, als würde sie das Verhör führen.
„Vom Pastor Ihrer Gemeinde – einem ehrenwerten Mitglied der Nachbarschaft“, rechtfertigt sich der Beamte.
Mama schüttelt verächtlich den Kopf. „Ach der …“ Sie schaut kurz zu mir und fragt dann sachlich: „Und jetzt?“
Der Dicke ist erleichtert, dass Mama sich nun endlich kooperativ zeigt. Er zückt einen Kugelschreiber und erklärt: „Sie müssen hier den Empfang der Anzeige bestätigen und innerhalb von vierundzwanzig Stunden auf unser Revier kommen. Wenn Sie sich weigern, müssen wir Sie jetzt mitnehmen.“
„Ich werde Sie morgen besuchen“, erklärt Mama, als hätte sie gerade eine Einladung zum Kaffeetrinken angenommen. Woher nimmt sie nur ihre Ruhe?
Dann unterschreibt sie und lässt die beiden ohne ein weiteres Wort stehen. Zu mir sagt sie: „Der Mann ist für mich endgültig kein Pastor mehr.“
An der nächsten Straßenkreuzung trennen wir uns. Ich gehe aber nicht direkt weiter zur Schule, sondern biege kurz darauf ab in eine andere Richtung. Auch wenn ich nun zu spät zum Unterricht kommen werde, muss ich einfach bei Julian vorbeigehen. Vielleicht kann ich ihn sprechen, falls sein Vater schon zur Arbeit ist, oder zumindest sehen? Als ich beim Gartentor ankomme, steht die Garage offen. Das Auto des Vaters ist weg.
Aber wo mag Julian sein? Einfach zu läuten oder seinen Namen zu rufen, traue ich mich nicht. Ich packe ein paar kleine Steinchen vom Weg und werfe zwei hintereinander an die Fensterscheibe seines Zimmers im ersten Stock. Keine Reaktion. Ich warte ein paar Minuten und überlege.
Da habe ich Glück und sehe, wie das Küchenmädchen in den Hof kommt, um irgendeinen Abfall in die Mülltonne zu entleeren. Um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten, stoße ich einen kurzen Pfiff aus. Als sie mich sieht und erkennt, lege ich einen Zeigefinger auf den Mund, damit sie bloß nicht meinen Namen ruft.
Neugierig kommt sie näher. Erst als sie vor mir am Zaun steht, frage ich sie leise: „Weißt du, wo Julian ist? Ich will ihn zur Schule abholen.“
Offensichtlich hat sie keine Ahnung, was sich hier gestern Abend abgespielt hat. Ernst, aber nicht unfreundlich erklärt sie mir: „Der junge Herr hatte einen Unfall mit dem Fahrrad … er ist im Krankenhaus mit einem Armbruch und mehreren Schnittwunden.“
Armbruch, Schnittwunden. Wie furchtbar muss sein Vater zugeschlagen haben.
„Danke“, sage ich leise zu dem Mädchen in meinem Alter, das hier schon wie eine Erwachsene von frühmorgens bis abends schuften muss.
Ich nehme mir vor, Julian so bald wie möglich im Krankenhaus zu besuchen. Natürlich vorsichtig. Seinen Eltern darf ich dort sicher nicht begegnen.
Am Abend sitzen wir in unserer Küche und beraten mit Pepe und Anne, denen ich gleich nach der Schule von allem erzählt habe, wie sich Mutter am nächsten Tag auf dem Polizeirevier verhalten soll. Alles zugeben und Reue zeigen? Oder widersprechen und die Sache öffentlich machen? In jedem Fall senden wir eine Nachricht an Frank von SMUG, der auch juristischen Rat auf ihrer Website anbietet.
Nur eine halbe Stunde später kommt seine Antwort: „Sollen wir einen Anwalt schicken? Bitte keine Schuld zugeben. Haltet uns auf dem Laufenden.“
„Ich gehe da erst mal allein hin“, meint Mama. „Sonst wird das gleich eine Riesensache. Vielleicht gelingt es mir, alles zu leugnen oder zumindest abzuschwächen. Ich würde auch gern wissen, wer Pastor Patrick von unseren Treffen erzählt hat.“
Als wir über Julian sprechen, bietet Anne an, ihn am nächsten Tag im Krankenhaus zu besuchen: „Ich kann ja sagen, dass ich in der Schule von seinem Fahrrad-Unfall gehört habe und ihm einfach ein paar Hausaufgaben bringen will.“
Als Anne und Pepe schon fast aufbrechen wollen, klingt erneut der Message-Signalton auf meinem Smartphone. Noch mal Frank?
Es ist eine Nachricht, auf die ich seit Monaten warte. Kaum kann ich meinen Augen glauben. Ich lese sie erst selbst zwei Mal, bevor ich rufe: „Eine Nachricht von Isaac. Er muss es sein, auch wenn kein Foto dabei ist und ohne seinen richtigen Namen.“
Pepe, Anne und Mama springen auf und schauen mir über die Schulter. Jetzt lese ich die wenigen Worte laut für uns alle vor, durcheinander auf Luganda und Englisch: Simanye what to do. Sirina sente. Mwattu – help. Black Panther. Das kann nur Isaac sein, der schwarze Panther!
Er schreibt: Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe kein Geld. Bitte hilf! Schwarzer Panther.
Sofort klicke ich auf Antwort und tippe aufgeregt: Wo bist du? Kann ich dich treffen?
Ich sende die Nachricht auf Facebook und dann auch via WhatsApp. Das gelbe Symbol zeigt an, dass er es empfangen hat. Aber warum antwortet Isaac nicht sofort?
„Es gibt zumindest wieder Hoffnung“, tröstet mich Pepe.
Zumindest das, denke ich. Und bete innerlich, dass er sich bald wieder melden möge … und ich ihm irgendwie helfen kann.
Wir sprechen ab, uns spätestens am nächsten Abend hier wieder zu treffen, sobald Mama vom Polizeirevier und Anne aus dem Krankenhaus zurück sind.
Mein Smartphone habe ich zur Sicherheit eingeschaltet neben mein Kopfkissen gelegt. Ob ich etwas geahnt habe? Nein, ich habe nichts geahnt. Ich tat es einfach nur, um eine mögliche nächste Nachricht von Isaac nicht zu verpassen. Oder auch, um sofort antworten zu können, falls er selbst dran wäre.
Ich kann höchstens zwei Stunden geschlafen haben, als das Telefon schon lange nach Mitternacht gerade zwei Mal läutet. Es ist aber nicht Isaac, sondern Pepe. Den ich erst tief atmen höre, bevor er zu reden beginnt: „Hast du die Spätnachrichten schon gesehen, David?“
Warum redet er drumherum? „Was ist los?“, schreie ich ihn an.
„Isaac …“, stammelt Pepe.
Endlich redet er weiter. „Isaac… Seine Leiche wurde am späten Abend in einem Gebüsch in der Nähe vom Miami Beach gefunden … erstochen, gefoltert.“
„Mein Gott …“, stammle nun auch ich. „Pepe, ich rufe später wieder an.“
Dann wecke ich Mama. Im Wohnzimmer schalten wir den Fernseher an und setzen uns direkt davor auf den Teppich. Nachts werden die letzten Nachrichten vom Vorabend meist stündlich wiederholt. Wir sind gerade rechtzeitig da für die nächste Sendung. Erst der internationale Teil und Politik in Uganda. Dann Lokalnachrichten.
Plötzlich ein Schülerfoto von Isaac, als er noch keinen Bart oder Afro hatte.
Die Sprecherin liest von einem Blatt: „Am Abend wurde in der Hauptstadt Kampala in der Nähe des Miami Beach die Leiche des siebzehnjährigen Isaac P. gefunden. Nach Angaben der Polizei in einem Gebiet, dass für männliche Prostitution bekannt ist. Isaac P. starb an den Folgen mehrerer Messerstiche. Sein Körper wies darüber hinaus auch Spuren von Folter und Vergewaltigung auf. Mögliche Zeugen sind aufgerufen, sich bei jeder Polizei-Dienststelle im Land zu melden.“
Während der Fernsehansage halten Mama und ich uns gegenseitig fest. Beide haben wir Tränen in den Augen. Wieder und wieder flüstere ich seinen Namen: „Isaac … Isaac … Isaac …“
Über Facebook informiere ich alle anderen Mitglieder unserer kleinen Gruppe noch in der Nacht. Eine Nachricht geht auch an Frank von SMUG. Alle sind geschockt.
Josiah, der Isaac seit der ersten Grundschulklasse kennt, postet: „Diese Schweine, die ihn nicht nur ermordeten, sondern zuvor auch noch quälten … Schweine, Schweine, Schweine.“
Als Zweite reagiert Betty: „Niemals hätte Isaac mit Sex Geld verdient … wie gemein, ihn in diese Nähe zu rücken!“
„Das war ein Auftragskiller seines fanatischen Vaters!“, schreibt Paul, der noch neu in unserer Gruppe ist.
Und Anne: „Armer David … ich weiß, was für gute Freunde ihr wart.“
Irgendwann schalte ich mein Smartphone ab und lade es auf. Ich öffne mein Zimmerfenster und lege mich mit dem Bauch aufs Bett. Tränen laufen auf mein Kissen. Ich liege da, denke an Isaac und Julian und bin so traurig wie noch nie im Leben zuvor.
Irgendwann kommt das Licht des frühen Morgens. Wenig später beginnen die ersten Vögel zu zwitschern. Als wäre es ein ganz normaler Tag.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, was an diesem Vormittag in der Schule geschah. Immer wieder sehe ich zu der altertümlichen Uhr an der Wand des Klassenzimmers und warte ungeduldig, dass wieder eine Stunde vergeht.
Direkt nach Schulschluss laufe ich zur Bushaltestelle. Anne hat mir eine Nachricht geschickt, dass sie schon bei Julian gewesen sei und in einem Café in der Nähe des Krankenhauses auf mich warten würde.
Ich finde es ohne Probleme, obwohl hier auf der Hauptstraße ein unheimliches Gewimmel von Fußgängern, Radfahrern, Motorrädern, Autos und Bussen herrscht. Anne hat drinnen einen kleinen Tisch nur für uns beide finden können. Auch sie sieht übernächtigt aus und hat offensichtlich wenig geschlafen.
„Konntest du mit ihm reden, Anne?“ Ich will keine Zeit vergeuden.
Sie nickt. „Ich kam ohne Probleme zu ihm durch, obwohl noch keine offizielle Besuchszeit war. Am Anfang war seine Mutter am Bett, und wir konnten nicht offen reden. Aber dann rief ein Arzt sie zu einem Gespräch heraus, und ich hatte ein paar Minuten nur mit Julian.“
„Und?“ Anne spannt mich auf die Folter.
„Julian sieht schlimm aus. Der rechte Arm zwei Mal gebrochen. An der Stirn und Schulter hat er drei lange, tiefe Schnittwunden, die alle genäht werden mussten. Das linke Auge ist so geschwollen, dass noch niemand Genaues sagen kann. Nicht mal der Arzt glaubt an einen Fahrradunfall, meint Julian.“
„Wann kommt er raus aus dem Krankenhaus?“ Hoffentlich kann ich ihn auch bald wiedersehen.
„Ist noch unklar“, meint Anne.
Aber dann hat sie noch zwei Nachrichten von Julian nur für mich: „Das Unglück ist nur passiert, weil das Auto seines Vaters kaputtgegangen war und er mit einem Taxi eher heimkam, das ihn an der Straßenecke abgesetzt hatte. Darum habt ihr ihn nicht kommen hören.“
„Das erklärt die Entdeckung, Anne“, entgegne ich. „Aber nicht die Brutalität von Julians Vater!“
„Stimmt“, sagte Anne. „Und das ist die zweite Nachricht von Julian an dich: Bitte sei auf der Hut! Sein Vater will ihn zu einer Tante weit weg aufs Land schicken. Und dann will er dich anzeigen. Sein Sohn ist nicht schwul – das käme alles von dir!“
„Na klar, was denn sonst“, sage ich bitter. Am schlimmsten an der Nachricht ist, dass ich Julian so oder so vermutlich lange nicht wiedersehen werde.
Anne bezahlt für uns beide. Dann trennen wir uns. Sie muss eine Kollegin in ihrem neuen Job im Pflegeheim vertreten und wird abends nicht zu unserem Treffen kommen können.
„Bitte schick mir eine SMS, wie’s bei deiner Mutter war“, ruft sie noch, bevor sie sich in einen übervollen Kleinbus drängt.
Als ich heimkomme, ist Mama zu meiner Überraschung schon da. Ich sehe ihr an, dass es nicht gut gelaufen ist auf dem Polizeirevier.
„Nach einer halben Stunde war ich wieder draußen, David“, beginnt sie ihren Bericht. „An meiner Aussage waren die gar nicht interessiert.“ Sie streicht sich nervös über die Augen. „Es gibt angeblich mehrere Zeugen, die belegen, dass ich mit dir andere junge unschuldige Menschen für das homosexuelle Leben rekrutiere. Drei Nachbarn, natürlich Pastor Patrick und zwei junge Leute, die an einem Abend bei uns waren und sich nur mit aller Kraft unserer Verführung entziehen konnten.“
„Wahnsinn, Mama!“ falle ich ihr ins Wort. „Das können nur welche von den Neuen gewesen sein, die an dem Abend gekommen waren, als wir die Ankündigung für die erste Gay-Pride-Parade feierten.“
„Genau“, meint Mama. „Sie sagten auch aus, dass wir versucht hätten, sie unter Alkohol zu setzen.“
„Pepes Sekt!“, rufe ich.
„Eine Flasche für über zehn Leute“, ergänzt Mama. Zum ersten Mal müssen wir beide lachen.
Dann ist Mama aber wieder ernst. „Ich muss aufpassen, dass ich nicht auch meine Arbeit im Krankenhaus verliere. Deshalb habe ich vorhin erst mal nur alles abgestritten. Ich werde auch Franks Angebot für einen Anwalt annehmen.“
Es ist das zweite Mal, dass ich ernsthaft daran denke, wegzugehen. Richtig weit weg. Nicht nur aus Kampala. Sondern vielleicht sogar aus Uganda. Natürlich mit Mutter.
„Du bist verrückt“, sagt Mama, als ich es vorsichtig anspreche. „Ich habe hier meine Arbeit. Ich gehe niemals weg.“ Nach einer Pause fügt sie leise hinzu: „Ich mache mir viel mehr Sorgen um dich, mein Junge.“
Das abendliche Treffen sagen wir ab. „Es geht einfach nicht“, meint Mama. „Ich bin sicher, dass wir beobachtet werden.“
Auf Facebook teile ich nur den vertrautesten Mitgliedern unserer Gruppe mit: „J. noch im KH. Heute kein Treffen. Wir werden beobachtet – aber geben nicht auf. Kisoboka – es ist möglich. D.“
Den Rest des Abends suche ich im Chat bei Planet Romeo nach anderen Freedom Fighters. In Uganda. Und überall auf der Welt.