Die Safe Space Gruppe im mhc ist einfach gut.
Hassan hat inzwischen Mustafa aus Teheran kennengelernt. Mustafa ist Ingenieur und schon Anfang dreißig. In Teheran hat er eine junge Frau und eine kleine Tochter. Im Ausland, zuerst in England, dann Deutschland, hatte er sein Coming-out. „Es war damals eine Zwangsheirat – für uns beide“, berichtet Mustafa. „Sie sechzehn, ich neunzehn. Jeden Monat sende ich den beiden Geld. Meine Frau versteht mich. Aber ich gehe nicht zurück“, erklärt er entschlossen.
Gemeinsam ist es Hassan und Mustafa gelungen, einen verschlüsselten Kontakt zu Said in Teheran aufzubauen. Said ist erst achtzehn wie ich … sein älterer Bruder hatte ihn bei der Polizei angezeigt.
Auf der Wache musste Said sich ausziehen. Dann wurde er erst angeschrien und beschimpft. Als er seinen etwas jüngeren Liebhaber nicht verraten wollte, wurde er mit einer Flasche vergewaltigt, bis er blutete und selbst nur noch schrie. „Aber er hat den anderen Jungen nicht verraten!“, fügt Mustafa hinzu. „Wir wissen inzwischen, dass der aus derselben Schule stammt, nur eine Klasse unter Said.“
„Und wo ist Said jetzt?“, frage ich nach.
„Am Stadtrand von Teheran … in einem Keller, wohin ihm seine Mutter alle zwei Tage Nahrung und Wasser bringt“, weiß Hassan.
„Und jetzt?“ Was für eine schlimme, ausweglose Situation.
Aber Mustafa und Hassan haben einen Plan. „Wir versuchen ihm derzeit falsche Papiere zu besorgen über einen unverdächtigen Mitarbeiter einer ausländischen Firma.“ Dann schauen mich beide an, und Hassan sagt leise: „Aber kein Wort zu niemandem darüber, David!“
„Logo“, nickte ich nur ernst. Ich bin beeindruckt, was sie schon alles bedacht haben.
An diesem Abend höre ich das erste Mal etwas über Uganda. Eine junge Anwältin aus Südafrika berichtet in einem Vortrag im mhc von ihrem Engagement für Menschenrechte in mehreren afrikanischen Ländern. Am Ende lässt sie eine Unterschriftenliste von Amnesty International gegen die Todesstrafe für Homosexuelle in Uganda herumgehen, die dort erst noch eingeführt werden soll. Die meisten unterschreiben, auch ich.
„Als ob sich jemand von der Regierung in Uganda beeindrucken lässt, wenn hier in Hamburg ein paar Leute etwas unterschreiben“, brummt Hassan. Am Ende setzen aber auch er und Mustafa ihre Unterschrift auf die Liste. Allein schon, um die sympathische Anwältin nicht zu enttäuschen.
Mein neuer Profilname im Chat bei Planet Romeo ist jetzt Work for Love. Martin hat mich erst verspottet und gemeint: „Mann, David, das klingt, als wärst du ein Sexarbeiter.“
„Egal – wenn jemand die Rubrik verwechselt, selbst schuld“, antworte ich. „Liebe fällt nicht vom Himmel … und in manchen Teilen der Welt kommt man dafür in den Knast.“ Ich hole Luft, denn mein Vortrag ist noch nicht zu Ende. „Darum will ich für Liebe arbeiten, für das einfache Recht auf Liebe für jeden. Als erste Message habe ich auf Englisch gepostet, dass ich die Rechte sexueller Minderheiten in Afrika unterstütze.“
Martin schaut mich mit offenem Mund an.
Es klingt vielleicht wirklich ’ne Nummer zu wichtig. Darum füge ich grinsend hinzu: „Okay, Martin, falls mich doch jemand wegen Sex anklickt, schicke ich es durch zu dir.“
„Versprochen?“, lacht jetzt auch mein bester Freund.
Genau an diesem Abend stoße ich das erste Mal auf einen jungen Typen aus Kampala, Uganda. Kein Foto, nichts zu sich selbst. Nur die eine Frage auf Englisch: „Wer hilft mir, hier wegzukommen?“ Sein Profilname ist Freedom Fighter 4.
Der Tag, an dem sich für mich alles ändert, ist, als Mama das zweite Mal vom Polizeirevier kommt. Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich sie so aufgewühlt erlebt: Verstört, bebend, unsicher. Alles Eigenschaften, die sonst überhaupt nicht zu meiner Mutter passen.
„Was haben sie dir angetan, Mama?“, rufe ich erschrocken, nachdem sie die Wohnungstür zugezogen und alle drei Schlösser von innen verriegelt hat.
„Das Schlimmste“, schluchzt sie, obwohl sie gleichzeitig alles tut, um ein Weinen zu unterdrücken.
O Gott – haben sie Mama gedemütigt, geschlagen oder gar sexuell erniedrigt? Sie sieht das Entsetzen in meinem Gesicht.
Jetzt zieht sie mich zu sich, hält mich an beiden Schultern fest und schaut mir in die Augen: „Sie haben mir gedroht, dass sie dich verhaften wollen. Dieser schreckliche Vater von Julian will sich an dir rächen und angeblich seinen Namen säubern, indem er dich hochgehen lässt.“
Mama wischt sich übers Gesicht. „Ich bin nur ein Mosaikstein dabei … die Treffen in der Sunshine Bar und dann bei uns, die Namen von Anne, Betty, Josiah, John und Pepe, deine Unterschrift für Gay Pride … diese Unmenschen wissen alles von dir und uns.“
Angeblich würden sie nur warten, bis Julian aus dem Krankenhaus sei und weit weg bei seiner Tante auf dem Land. Und dann zuschlagen und uns alle verhaften. Dass ich einer der Jüngsten in unserer Gruppe war und noch nicht mal achtzehn, würde mir nur wenig nutzen.
Julians Vater will Rache … und wenn Mama alles richtig verstanden hat: Zuerst an mir! Als einflussreicher Geschäftsmann ist er gewohnt, seinen Willen durchzusetzen, und duldet wenig Widerspruch.
An diesem Abend muss ich neue Ideen bekommen. Einfach warten, bis es knallt, geht nicht. Eine ganze Weile spiele ich zögerlich an meinem Smartphone herum.
Ich traue mich nicht, Frank von SMUG zu fragen, wie ich für eine Weile aus Uganda wegkommen könnte, denn ich weiß nicht, wie weit auch er unter Beobachtung steht. Aber ich poste an zwei Organisationen in England und den USA, die sich für sexuelle Minderheiten einsetzen, ob sie mir raten können, wie ich aus Uganda abhauen könnte, zumindest für eine Weile.
Im Chat bei Planet Romeo stoße ich zufällig auf jemanden aus Deutschland, der bei seinem Profil angegeben hat, dass er sich für Leute wie mich in Afrika einsetzen möchte. Ich klicke weiter – Profilname: Work for Love. Achtzehn Jahre. Lebt in Hamburg. Wo ist das denn?
Da kommt auch schon eine erste WhatsApp-Nachricht von ihm rein. Unglaublich.
Hamburg Hallo Freedom Fighter 4: Warum 4? Warum willst du weg aus Uganda?
Kampala Hallo Work for Love: Ich bin 4, weil 1–3 schon vergeben waren. Ich muss hier weg. Weil ich sonst eingesperrt werde. Und meine Mutter ihre Arbeit verliert.
Hamburg Hallo FF4: Warum sollst du eingesperrt werden? Wie alt bist du?
Kampala Hallo WfL: Weil ich mit einem Freund beim Sex erwischt wurde. Von seinem Vater. Ich bin 16.
Hamburg Hallo FF4: Helfen dir deine Eltern nicht?
Kampala Hallo WfL: Meine Eltern sind geschieden. Meine Mutter ist 100 pro auf meiner Seite. Aber sie hat auch schon eine Anzeige am Hals. Weil wir uns als Gruppe bei uns daheim getroffen haben. Derzeit können wir uns nirgends treffen. Nur verschlüsselte Nachrichten via WhatsApp.
Hamburg Hallo FF4: Ist dein Leben bedroht, Freedom Fighter? Kannst du mir deinen Vornamen verraten? Oder ein Foto senden?
Kampala Hallo WfL: Mein Leben bedroht. Ja!!! Mein erster Lover wurde ermordet. Name und Foto? Nein, sorry. Geht echt nicht. Zu unsicher. Erst wenn ich hier weg bin. Wie heißt du?
Hamburg Hallo FF4: O Mann, das ist ja furchtbar. Hier ist ein Foto von mir aus unserem Freibad vom letzten Sommer. Ich heiße David.
Kampala Hallo WfL: Echt David?
Hamburg Hallo FF4: Ja, David. Glaubst du mir nicht?
Kampala Hallo David: Sorry, Mann. Ich kenne nur auch jemand, der David heißt. Erkläre ich dir später mal. Dein Foto ist toll. Sexy, Mann.
Hamburg Hallo FF4: Spinner! Nicht sexy. Ich bin viel zu dünn. Hat mein Freund Martin aufgenommen.
Kampala Hallo David: Ist Martin dein Lover?
Hamburg Hallo FF4: No, Martin ist mein bester Freund, aber wir haben nichts zusammen. Martin ist eher wie eine gute Freundin. Manche nennen ihn auch Martina. Weißt du, was ich meine? Ich bin solo. Und du?
Kampala Hallo David: Ich auch. Ich meine – ich bin auch solo. Wie denken deine Eltern über dein Schwulsein?
Hamburg Hallo FF4: Meine Eltern? Ein einziges Drama. Ich bin abgehauen – und lebe jetzt mit meiner älteren Schwester Michelle und ihrem kleinen Sohn Marco. Hast du Geschwister?
Kampala Hallo David: Sorry wegen deiner Eltern. Ich habe keine Geschwister. Hat Michelle keinen Mann?
Hamburg Hallo FF4: Der Vater von Marco ist verschwunden, als Michelle noch schwanger mit ihm war. Aber Armin zahlt zumindest.
Kampala Hallo David: Wie heißt der? Amin? Das war der schlimmste Diktator bei uns. Idi Amin. Hast du schon mal von dem gehört?
Hamburg Pause – Pause – Pause
Hallo FF4: Habe eben Idi Amin gegoogelt. Horror. Ein Massenmörder. Nein, der Vater von Marco heißt ARMIN – mit R! Ist euer Präsident in Uganda jetzt auch ein Diktator?
Kampala Hallo David: Ein halber Diktator. Nicht so schlimm wie Idi Amin. Aber ein Homohasser. Wo ist Hamburg?
Hamburg Hallo FF4: Im Norden von Deutschland. Großer Hafen.
Kampala Hallo David: Hafen klingt gut. Ich komme als blinder Passagier, ja?
Hamburg Hallo FF4: Ja, komm mal. Bevor du da eingesperrt wirst. Kannst bei mir und meiner Schwester wohnen!!!
Kampala Hallo David: Ehrlich?
Hamburg Hallo FF4: Ehrlich!
Kampala Hallo David: Wow. Ich komme!!! Muss jetzt nur Schluss machen. Mist, kein Data mehr. Können wir morgen weiter posten?
Hamburg Hallo FF4: Klaro. Morgen Abend gleiche Zeit. Okay?
Kampala Signal – no data.
Die letzte halbe Stunde habe ich alles um mich herum vergessen. Mama hat irgendwas aus der Küche gerufen, aber ich habe es nicht verstanden. Und nicht mal zurückgefragt.
Jetzt laufe ich durch die Wohnung und rufe nach ihr: „Mama, Wahnsinn … es gibt einen Jungen in Hamburg, Deutschland. Der heißt David wie ich. Und bei dem und seiner Schwester kann ich wohnen. Erst mal. Ich muss nur irgendwie dahin kommen.“
Ich erzähle meine Geschichte beim Gehen – und finde Mama schließlich in ihrem Schlafzimmer. Sie hat sich schon hingelegt. Erschöpft von diesem schlimmen Tag. Aber ihre Nachttischlampe ist noch an.
„Was ist los, David?“, fragt sie müde. Sie hat kein Wort begriffen.
Erneut spule ich aufgeregt alles ab, was ich via Planet Romeo gerade erlebt habe. Sie richtet sich im Bett auf und hört aufmerksam zu.
„Aber woher weißt du, dass das kein Fake ist?“, gibt sie zu bedenken.
„Einfach mein Gefühl“, entgegne ich. „Das war alles spontan, nicht geplant. Und es begann total zufällig. Zu Beginn wussten wir nichts voneinander.“
„Was aber, wenn jemand anders eure Nachrichten liest?“ Sie bleibt besorgt.
„Geht eigentlich nicht“, versuche ich, sie zu beruhigen. „Das war ein geschlossener Chat – nur zwischen ihm und mir. Und er kennt bisher nicht mal meinen Namen. Zur Sicherheit werde ich gleich alles löschen.“
„Wo lebt dieser andere David?“, fragt sie noch mal nach.
„In Hamburg!“, rufe ich, obwohl ich bisher auch fast nichts von dieser Stadt weiß. Außer dem Hafen.
Das erste Mal lächelt sie: „Ein Hamburger also …“
Auch ich lächle jetzt: „Er scheint nett zu sein – und sieht gut aus, Mama!“
Ich beuge mich zu ihr hinunter, wie sie es früher tat, als ich klein war, und gebe ihr einen Gute-Nacht-Kuss.
Dann ziehe ich meinen alten Schulatlas aus dem Bücherschrank. Googeln geht nicht, weil ich morgen früh erst Data nachkaufen muss.
Hamburg, Hamburg, Hamburg. Endlich finde ich die Stadt auf einer Karte von Europa.
Dann schlage ich die Weltkarte auf und ziehe eine Linie zwischen Kampala und Hamburg. O Mann, die Luftlinie allein beträgt etwa sechstausenddreihundert Kilometer.
Über eine andere Tabelle kann ich den direkten Landweg über Kairo und Istanbul berechnen: Ohne Umwege neuntausendfünfhundert Kilometer, steht da. So weit. Und Umwege gibt es immer.
Bevor auch ich das Licht in meinem Zimmer ausschalte, lösche ich all unsere Nachrichten. Nur das Foto von David lasse ich stehen.
Damit ich glauben kann, dass es ihn wirklich gibt. Irgendwo in Hamburg.
No data lautet die letzte Nachricht aus Kampala. Hauptstadt von Uganda. Irgendwo in Ostafrika.
Als Erstes rufe ich Martin an und erzähle ihm vom besten Chat meines Lebens. Gerade eben.
„Er ist erst sechzehn“, berichte ich ihm. „Und soll eingesperrt werden, wenn wir ihm nicht helfen, da so bald wie möglich wegzukommen.“
Auch Martin ist Feuer und Flamme. „Ich bin dabei, David! Endlich können wir etwas Sinnvolles tun in dieser verrückten Welt!“
Michelle ist deutlich vorsichtiger: „Weißt du, was du dem Jungen da für Hoffnungen gemacht hast? Klar kann der hier bei uns immer ein Bett bekommen. Aber was, wenn er unterwegs von Kampala nach Hamburg krank wird, verunglückt, ihm das Geld ausgeht oder er überfallen wird?“
Auch ich erschrecke bei der Aufzählung möglicher Gefahren auf der langen Flucht von Ostafrika nach Norddeutschland. Hat er überhaupt schon einen richtigen Pass mit sechzehn? Und wie viel Geld kostet so eine Tour – mit dem Bus, Flugzeug oder Schiff? Jung wie er ist, hat er sicher noch nicht mal einen Führerschein.
In dem Augenblick geht das Telefon. Martin ist wieder dran: „Habe eben gegoogelt – die kürzeste Strecke nach Hamburg im Auto von Kampala ist Richtung Ägypten in Nordafrika und dann an der Ostseite des Mittelmeers hoch bis in die Türkei und dauert über hundert Tage. Das sind mehr als drei Monate.“
So lange. Ganz allein. Mit sechzehn. Das kann nicht gutgehen. Erste Zweifel.
Die dürfen jetzt bloß nicht überwältigend werden. Sonst geben wir auf, bevor wir überhaupt begonnen haben.
Martin, Michelle und ich notieren uns Punkte, die ich ihn morgen Abend fragen soll: Wie viel Geld hat seine Mutter, um ihn loszuschicken? Wie kommt er überhaupt erst mal raus aus Uganda? Was könnte die erste Station sein – und wie von da weiter?
Am Mittwoch bei unserem Treffen der Safe Space Gruppe werden wir außerdem Leila, Hassan und Mustafa um Rat fragen.
Das hört sich schon besser an. In jedem Fall sollen er und seine Mutter über jeden Schritt allein und ohne Druck entscheiden können … schon gar nicht sich zu viele Hoffnungen machen wegen naiver Zusagen ohne irgendwelche Garantien von uns aus dem fernen Hamburg.
Am nächsten Abend bin ich pünktlich startklar an meinem Laptop. Der Fragezettel liegt neben mir. Martin, Chris und Michelle sitzen neben mir und warten gespannt. Das Einloggen auf der Chat-Seite von Planet Romeo geht ohne Probleme.
Aber Freedom Fighter 4 antwortet nicht. Ich versuche es immer wieder in der folgenden Stunde. Keine Antwort. Was mag nur los sein?
„Hoffentlich haben sie ihn nicht schon gepackt!“, murmelt Michelle leise.
Martin versucht eine schlichte technische Erklärung: „Vielleicht ist einfach nur der Strom ausgefallen oder das Internet funktioniert mal nicht.“
Wir wissen es nicht. Den Rest der Nacht lasse ich den Laptop neben meinem Bett an und schalte das Signal für hereinkommende Berichte auf laut. Bis zum nächsten Morgen höre ich nichts von Freedom Fighter 4.
Dann endlich – ausgerechnet am späten Nachmittag im Supermarkt beim Regale-voll-Stapeln – kommt ein vibrierendes Signal auf meinem Smartphone. Jemand will mit mir chatten auf Planet Romeo.
Auch Abdul weiß inzwischen von dem Jungen aus Kampala. Er übernimmt die schweren Bananenkisten und verwickelt unseren Abteilungsleiter in irgendein Gespräch. Denn eigentlich dürfen wir keine Handygespräche während der Arbeitszeit führen. Auf Abdul kann man sich einfach verlassen.
Ich verdrücke mich aufs Mitarbeiter-Klo und hoffe nur, dass das Internet hier stark genug ist. Und dass es nun wirklich der junge Freedom Fighter aus Uganda ist …