Kampala, im Juni

Am nächsten Morgen will ich noch vor der Schule neue Data für mein Smartphone in einem kleinen Laden bei uns um die Ecke kaufen. Mama ruft mich zurück, als ich schon fast aus der Tür bin.

„Schau mal, David“, sagt sie leise und schiebt die Küchengardine unauffällig einen kleinen Spalt zur Seite. „Irgendwas stimmt hier nicht.“

Dabei weist sie auf einen jungen Mann beim Eingang zum Parkplatz, der aufgeregt in sein Handy redet und währenddessen eindeutig unsere Wohnungstür im Blick behält.

„Der stand da schon, als ich vor einer halben Stunde meinen ersten Tee kochte“, meint sie besorgt. Was geht hier vor? Sollte es jetzt schon so weit sein, dass sie mich abholen wollen?

Unsere Sorge klärt sich innerhalb der nächsten Minute – leider zu unserem Nachteil: Ein Polizeiwagen fährt mit quietschenden Bremsen vor, vier Beamte in Uniform steigen aus und bekommen offenkundig Anweisungen von dem jungen Typen in Zivil.

Mama erfasst den Ernst der Situation schneller als ich und ruft mir panisch zu: „Yanguwa, David – lass alles stehen und liegen! Spring aus deinem Fenster zum Hinterhof. Ruf mich später auf der Arbeit an, sobald du kannst. Yanguwa, yanguwa – nun mach schon!“

Aus dem Augenwinkel sehe ich gerade noch durch die Küchengardine, wie zwei der Männer auf unsere Wohnungstür zugehen. Die anderen beiden laufen in Richtung unseres Hofes, vermutlich, um alle Fluchtwege zu versperren. Aber da bin ich schon aus dem Fenster gesprungen und renne durch den Hinterausgang unseres Apartmentblocks in Richtung Unabhängigkeitspark.

Ich renne und renne, bis ich völlig außer Atem bin und bereits das Ende des Prince Charles Drive erreicht habe. Unauffällig stelle ich mich hinter einen Zeitungskiosk, als würde ich die Vorderseiten der neuesten Ausgaben studieren. Dabei schaue ich vielmehr in die Hauptstraße hinter mich, ob mir doch irgendjemand gefolgt ist. Aber alles wirkt normal. Niemand scheint mich zu beachten. Das war knapp!

Aber was ist nur mit Mutter geschehen? Haben die Kerle sie etwa mitgenommen, wütend, dass ich ihnen entkommen bin?

Eine Zeitlang laufe ich ziellos durch verschiedene kleine Seitenstraßen. In der Eile habe ich vorhin zu Hause selbst das Smartphone in meiner Schultasche zurückgelassen, denn ich wollte ja erst noch Data kaufen. Wohin von hier?

Erst will ich zu Mamas Kinderkrankenhaus in die Windsor Crescent Street, das ist leicht zu Fuß zu erreichen. Aber je näher ich komme, desto mehr Zweifel habe ich: Vielleicht hat die Polizei Mama mitgenommen und sie ist gar nicht in der Klinik? Oder die warten gerade da auf mich, weil sie zu Recht vermuten, dass ich mit Mama Kontakt aufnehmen will.

Als ich mich noch ratlos umschaue, fällt mir ein, dass Betty ebenfalls nicht weit von der Klinik wohnt und sogar ein eigenes Zimmer in einem kleinen Studentenwohnheim hier hat mieten können, denn ihre Familie kommt aus dem fernen Westen Ugandas, nicht weit von der Grenze zum Kongo. Als Betty ankam, um ihr Jura-Studium zu beginnen, hieß sie noch Barry und war offiziell ein Junge.

„In meinem Herzen war ich schon immer ein Mädchen“, sagte sie zu uns, nachdem sie das erste Mal mit zu unseren Treffen in die Sunshine Bar gekommen war. Seit sie Enthaarungscreme nimmt und sich schminkt, denken die meisten wirklich, dass sie schon immer eine Frau ist, auch wenn ihre Stimme vielleicht etwas tiefer klingt. Und Betty hat vor nichts Angst!

Als ihre Eltern ihr keine monatliche Unterstützung mehr schickten, nachdem sie angeblich die ganze Familie „lächerlich gemacht“ habe, hat sie begonnen, neben ihrem Studium in einem Lokal zu kellnern. Und wann immer irgendwelche Jungs meinen, sich ohne ihre Zustimmung an sie ranmachen zu können, wehrt sie sich mit gezielten Faustschlägen. Das ist Betty.

Als ich in dem Wohnheim ankomme, sagt ihre Nachbarin, dass sie schon zur Uni sei, aber normalerweise am frühen Nachmittag zurückkäme. Ich solle mich nur nicht vom Hausmeister erwischen lassen, da Besuch von Jungen hier im Stockwerk der Studentinnen nicht erlaubt sei.

Also gehe ich zwei Etagen hinunter in den Wohnbereich der Studenten und hocke mich da in einen Aufenthaltsraum, wo ein Fernseher läuft und einige sich etwas zum Essen bereiten. Anscheinend falle ich hier nicht weiter auf. Die Zeit vergeht unendlich langsam. Aber ich halte es hier für sicherer, als stundenlang durch die Straßen zu laufen und dabei vielleicht noch einem Polizisten in die Hände zu fallen. Ich weiß nicht mal, ob eventuell sogar nach mir gefahndet wird mit einem Foto. Julians einflußreichem Vater mit all seinen Kontakten ist alles zuzutrauen.

Am frühen Nachmittag teilt einer von den Jungen, die hier wohnen, seine Suppe und ein Stück Brot mit mir. „Bist du noch neu hier?“, fragt er freundlich.

„Ja“, antworte ich, „gerade angekommen. Mein Zimmer wird erst heute Abend frei.“

Er nickt: „War bei mir auch so!“

Nur wenig später klopft Betty auf das Glasfenster in der Tür zum Aufenthaltsraum. Zutritt ist Mädchen verwehrt. Aber ich bin längst aufgesprungen und habe die Tür aufgerissen. „Bin ich froh, dass du da bist, Betty!“

Sie lacht: „Seit wann stehst du auf Mädchen, David?“

Aber dann sieht sie mein ernstes Gesicht und schlägt vor, dass wir ins Erdgeschoss gehen, wo es eine Cafeteria gibt, die für alle da ist. Dort setzen wir uns an einen kleinen Tisch im hinteren Teil, wo uns niemand zuhören kann. Dann berichte ich ihr alles, was heute früh geschehen ist.

Betty hört aufmerksam zu. Dann meint sie: „Julians Vater ist echt alles zuzutrauen. Du musst sicher für eine Weile verschwinden. Ich denke nicht, dass er uns alle aufs Korn nimmt. Aber dir gibt er jetzt die Schuld am Schwulsein seines Sohnes … auch wenn dies für den armen Julian nichts leichter macht.“

„Ich wünschte, Julian und ich könnten gemeinsam fliehen“, stimme ich ihr zu.

Jetzt ist aber erst mal meine größte Sorge, was Mama passiert ist und wo ich die nächste Nacht verbringe. Für beides hat Betty einen Vorschlag: „Lass uns zuerst deine Mutter von meinem Handy aus anrufen. Und übernachten kannst du natürlich bei mir!“

„Aber das ist doch verboten, Betty!“, wende ich ein. Keinesfalls soll sie wegen mir Ärger bekommen.

Sie schaut verschmitzt: „Was meinst du, wie die anderen Mädchen ihre Jungs hier hineinbekommen? Es gibt einen Zugang über den Lieferanteneingang und einen Treppenaufgang für den Brandfall. Außerdem muss ich ab 20 Uhr im Lokal arbeiten – du hast also sogar eine sturmfreie Bude!“

Als wir Mama auf ihrem Handy anrufen, antwortet sie nicht. Auch als wir es erneut im Abstand jeder Stunde versuchen, geht sie nicht ran. Und ich hinterlasse auch lieber keine Nachricht. Dann schleust mich Betty über die Notfalltreppe in ihr Zimmer, ohne dass uns jemand zusammen sieht. Sie organisiert außerdem noch Brot und Obst für mich, bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit macht.

Sogar ihr Handy lässt sie bei mir. „Das brauchst du jetzt dringender als ich!“

Leider hat sie kein Smartphone, und ich komme weder auf WhatsApp noch zu Planet Romeo. Hoffentlich denkt jener David in Hamburg nicht, dass ich nur ein Angeber war. Genau jetzt, um kurz nach 20 Uhr, hatten wir uns für heute Abend verabredet.

Es ist schon lange dunkel draußen, als endlich jemand von Mamas Handy antwortet. Ist es wirklich ihre Stimme? Ja, kein Zweifel. Sie redet nur so, als wäre ich ein Fremder: „Bitte wählen Sie diese Nummer …“ Dann wiederholt sie eine siebenstellige Nummer in Kampala zwei Mal und legt auf.

Sofort wähle ich diese neue Nummer. Jetzt spricht sie, wie ich es von ihr kenne: „Mein lieber Junge, ich weiß nicht, ob meine andere Nummer abgehört wird. Bei jedem Anruf von Bekannten und Kollegen tagsüber habe ich verschiedene neue Nummern genannt, die alle nicht funktionieren. Nur dir habe ich die korrekte genannt, die zu einer neuen SIM-Karte führt, die ich erst eben in dein Smartphone getan habe. Es wird nicht für immer funktionieren, aber vielleicht für ein paar Stunden, bis …“, sie holt tief Atem, „… bis du in Sicherheit bist!“

„Was haben die Kerle heute früh mit dir gemacht, Mama?“, will ich nun doch erst wissen.

„Sie wollten vor allem erfahren, wo du bist … aber das weiß ich ja selbst nicht. Zum Glück. Bitte sag auch jetzt nichts dazu am Telefon! Dann versuchten sie noch, mir mit allen möglichen Drohungen Angst zu machen. Aber solange sie dich nicht haben, können sie mir mit gar nichts Angst machen!“

Bevor ich viel weiterfragen kann, gibt sie mir nur eine einzige Anweisung: „Mein lieber Junge … kennst du jemand Zuverlässigen, der etwas für dich abholen kann? Es muss nur noch heute Nacht sein und vor morgen früh um sechs.“

Ich denke an Betty und sage nur: „Ja, Mama!“

„Hör gut zu, David: Bitte sende mir eine SMS, wann und wo ich dieser Person in Kampala etwas schicken kann. Ich selbst werde nicht wegkommen, da wieder jemand hier auf der Straße alles im Blick hat. Komm du auch keinesfalls hier vorbei. Alles verstanden?“

Ich bin so beeindruckt von Mama, dass ich nur nicke, was sie natürlich nicht sehen kann.

„David?“, fragt sie besorgt nach.

„Ja, Mama, alles klar … ich schicke dir eine SMS später.“

„Gut, David …“ – und nach einer Pause: „Vergiss niemals: Nkwagala!“

„Ich dich auch“, antworte ich noch. Aber da hat sie die Verbindung schon unterbrochen.

Erst gegen zwei Uhr nachts kommt Betty müde von ihrem Kellner-Job. Als ich ihr von Mamas Plan berichte, sagt sie nur: „Los, nun schick schon die SMS – deine Mutter wird sich längst Sorgen machen.“

Als Treffpunkt geben wir ein KFC-Restaurant in der Nähe der Kinderklinik an, das Tag und Nacht geöffnet hat. Betty wird dort in einer halben Stunde sein können. Nur eine Minute später haben wir eine SMS zurück von Mama: „Yee – ja. Joanna.“ Ich bin sicher, dass sie einverstanden ist und Joanna, ihre liebste Kollegin in der Klinik, schicken wird. James Bond ist nichts gegen Mama!

Nervös warte ich in Bettys Zimmer, bis sie zurück ist. Endlich ist sie wieder da, völlig außer Atem. Aber alles scheint nach Plan gelaufen zu sein. Mama hat einen kleinen Rucksack für mich gepackt, darin frische Wäsche, etwas Obst und mein Smartphone. Als ich es einschalte, sehe ich: Voll geladen und mit mehr Data, als ich je zuvor hatte.

Zuletzt gibt mir Betty einen Briefumschlag. Darin ein handgeschriebener Brief von Mama, mehrere Geldscheine und eine Busfahrkarte. Auf der Karte steht ausgedruckt: Kampala – Kabale, ab 6.00 Uhr, Jaguar Busbahnhof.

Das Bargeld ist mehr als ein halber Monatslohn von Mama.

Zuletzt lese ich Mamas Brief:

Mein lieber David,

es ist so schwer für mich, dich aus Uganda weggehen zu lassen. Aber dein Leben ist das Wichtigste – und du hast das meiste davon noch vor dir.

Vergiss nie: Wir haben einander im Herzen!

Nun sei stark, wie auch ich es zu sein versuche.

Nimm den ersten Bus morgen früh nach Kabale. Wir haben da doch früher gewohnt und unsere alte Nachbarin, Mama Obuja, wird dich aufnehmen. Du weißt noch, wie du vom Busbahnhof dorthin kommst, ja?

In Kabale wirst du ein paar Tage bleiben müssen. Denn ich bin noch nicht sicher, wie lange es dauert, bis ich für dich einen falschen Pass bekommen kann. Damit du Uganda verlassen kannst. Aber ich habe eine Idee.

Ich habe einiges gelernt in meinem Leben, damals, als fast meine ganze Familie von jenem furchtbaren Diktator ermordet wurde. Damals war ich ein Kind. Heute bist du mein Kind, und niemand darf dir etwas zuleide tun. Ich werde wie eine Löwin für dich kämpfen. Und einmal werden wir uns wiedersehen.

Wenn du diesen Brief gelesen hast, musst du ihn sofort vernichten.

In Kabale werde ich Mama Obuja eine WhatsApp-Nummer zukommen lassen … vermutlich eine neue unter anderem Namen, sodass wir – hoffentlich – in Kontakt bleiben können. Ich werde dich nicht auf deinem Smartphone anrufen, weil dies deinen Aufenthaltsort anderen verraten könnte.

Nkwagala – immer. Deine Mama

Ich schäme mich nicht vor Betty, als sie sieht, wie mir Tränen übers Gesicht laufen, während ich den Brief über einem Aschenbecher verbrenne. Sie bleibt sogar mit mir wach, bis ich um halb fünf zum Busbahnhof aufbrechen muss. Bis dahin reden wir einfach über unsere Leben, wie wir merkten, dass wir anders sind als die meisten anderen, und hören Musik. Kein Zurück mehr. Ich kann nicht ändern, wie ich bin. Erst unten beim Lieferanteneingang nehmen wir richtig Abschied.

Tambula bulungi – gute Reise, David!“, sagt Betty leise und umarmt mich fest.

Ich bekomme kein Wort heraus und erwidere nur ihre Umarmung.

Niemand beachtet mich am Bahnhof. Der Bus ist fast voll und fährt mit nur einer halben Stunde Verspätung ab. Meinen kleinen Rucksack habe ich unter meinen Sitz geschoben, aber mit einem Schnürsenkel an meinem Bein so festgebunden, dass ihn niemand stehlen kann, falls ich unterwegs einschlafen sollte.

Obwohl ich einen Fensterplatz habe, mag ich gar nicht hinausschauen, solange wir noch in der Stadt sind.