Kabale und Hamburg, im Juni

Obwohl der Bus unterwegs eine Motorpanne kurz hinter Mbarara hat und gut zwei Stunden nicht weiterkommt, sind wir dann doch am frühen Nachmittag am Busbahnhof von Kabale.

Einige Touristen steigen hier um, denn dies ist die direkte Route zum bekannten nationalen Mgahinga Naturpark an der Grenze zu Kongo und Ruanda, wo noch freilebende Gorillas beobachtet werden können. Ich war selbst noch nie dort. Aber es muss beeindruckend sein, da es dort auch noch ein großes Gebiet mit aktiven Vulkanen gibt. Meine Grundschullehrerin in Kabale hatte uns einmal Fotos davon gezeigt, die ich nie vergessen habe.

Tatsächlich finde ich leicht meinen Weg zu unserem früheren Wohnhaus am Stadtrand, das wir von Mama Obuja gemietet hatten, die in einem bescheidenen Nachbarhaus lebt. Schon von Weitem sehe ich sie auf einer Bank im Garten unter einem großen Apfelbaum sitzen. Ihr Haar ist inzwischen grau geworden. Doch erkennt sie mich sofort, als ich ihr vom Gartentor zuwinke.

Nsanyuse okukulaba – willkommen, David!“, ruft sie mit einer heiseren Stimme. „Du bist ein Mann geworden!“, fügt sie hinzu und lacht dabei. Sie hat tatsächlich keinen einzigen Zahn mehr.

Ich gehe auf sie zu und begrüße sie ebenfalls mit der ihr zustehenden Achtung: „Gyebale ko, nnyabo – ich grüße Sie, gute Frau!“

Nach der formalen Begrüßung erhebt sie sich und winkt mich zu sich. Dann nimmt sie mich wie eine Großmutter in die Arme und sagt leise in mein Ohr: „Armer Junge. Nsonyiwa – es tut mir so leid. Jeder kann nur der Mensch sein, zu dem Gott sie oder ihn machte …“

Ich weiß, dass sie mich niemals verraten wird. Wenig später zeigt sie mir das kleine Gästezimmer, das gleich neben dem Stall ist. Noch immer hat sie zwei Kühe dort, deren Stampfen und Schnauben mich an eine glückliche Kindheit hier erinnert. Sogar frisches Brot und selbstgemachten Käse hat sie für mich bereitgestellt. Und einen Krug mit kühlem frischem Wasser vom Brunnen.

Eine neue WhatsApp-Nummer von Mama ist noch nicht auf ihrem Handy angekommen. Aber immerhin: Es gibt einen stabilen Internetempfang hier.

Meine erste Nachricht geht an Betty: „Webaale – danke für alles, Betty! Bitte lass meine Mutter wissen, dass ich bei meiner ersten Station gut angekommen bin. Nur das. D.“

Dann logge ich mich bei Planet Romeo ein und klicke bei Work for Love – es gelingt beim ersten Mal.

Kabale Hallo David: Bitte verzeih mein Schweigen gestern. Ich dachte so sehr an dich. Aber es ging nicht. Ich musste mich verstecken.

Hamburg Hallo FF4: Wir haben uns echt Sorgen gemacht. Gut, von dir zu lesen. Wo bist du jetzt?

Kabale Hallo David: Ich musste abhauen aus Kampala. Echt in letzter Minute, bevor mich die Polizei abholen wollte. Die Nacht verbrachte ich bei einer Freundin. Heute früh bin ich mit dem Bus gut 400 Kilometer in eine kleine Stadt gefahren, nicht weit von der Grenze zu Ruanda. Da bin ich jetzt.

Hamburg Hallo FF4: Bist du da sicher?

Kambale Hallo David: Einigermaßen. Kaum jemand kennt mich hier. Ich wohne hier bei einer lieben alten Frau, die mich schon als Kind kannte.

Hamburg Hallo FF4: Wie lange willst du da bleiben?

Kabale Hallo David: Um aus Uganda wegzukommen und in ein Nachbarland reingelassen zu werden, brauche ich einen Pass. Auf den warte ich hier.

Hamburg Hallo FF4: Einen echten oder einen gefälschten? Ist das teuer? Wer hilft dir?

Kabale Hallo David: Meine Mutter. Hat sie mir zum Abschied gesagt. Ich hoffe, die Polizei lässt sie in Ruhe. Gedroht haben sie ihr schon.

Hamburg Hallo FF4: Womit denn?

Kabale Hallo David: Dass sie ihre Arbeit als Krankenschwester verliert. Oder noch schlimmer: Dass sie eine Gefängnisstrafe bekommt, weil sie ihren kriminellen Sohn und seine Freunde unterstützt.

Hamburg Hallo FF4: Echt wahr?

Kabale Hallo David: Echt wahr! Ich will auch was fragen. Kann ich?

Hamburg Ja klar – was denn?

Kabale Hallo David: Wenn ich es schaffe, hier rauszukommen – was brauche ich, um bei euch in Deutschland reinzukommen? Vielleicht erst mal nur zu Besuch?

Hamburg Hallo FF4: Das wird nicht leicht. Aber wir versuchen es von unserer Seite. Vielleicht hilft es, wenn du schon mal eine feste Anschrift bei mir und meiner Schwester hast.

Kabale Hallo David: Das wäre klasse. Ich muss wissen, wohin ich von hier weiterkann. Wenn ich erst mal einen Pass habe. Egal, ob echt oder gefälscht.

Hamburg Hallo FF4: Ich versuche, mehr herauszubekommen – und melde mich wieder, ja?

Kabale Hallo David: Du meldest dich echt wieder, ja?

Hamburg Hallo FF4: Versprochen. Ehrenwort, nennen wir das hier.

Kabale Hallo David: Danke heißt bei uns Weebale. Ganz viel Weebale, David.

Hamburg Hallo FF4: Okay, Mann. Muss jetzt leider Schluss machen. Bin noch auf Arbeit, und unser Aufseher nervt schon. Pass auf dich auf, Freedom Fighter!

Kabale Hallo David: Du auch und bitte grüße deine Schwester Michelle und deinen Freund Martin … bis morgen, ja?

Hamburg Pause – Pause – Pause – Abbruch.

Hamburg

Dass unser Abteilungsleiter im Supermarkt sauer ist, weil ich über eine Viertelstunde auf dem Klo war, macht mir gar nichts. Jetzt in meinen Schulferien mache ich Urlaubsvertretung für andere, da soll er mal froh sein. Dass Abdul nachfragt, wie es dem „schwulen Jungen aus Kampala“ geht, freut mich dagegen sehr. Offensichtlich ist es ihm nicht egal.

Gut ist auch, dass wir am selben Mittwochabend ein informelles Treffen der Safe Space Gruppe haben und ich so Leila, Hassan und Mustafa einiges fragen kann. Michelle hat sich entschlossen, ebenfalls mitzukommen, und Frau Gonzales gefragt, ob sie auf Marco aufpassen würde. Macht sie, die Gute.

Bevor wir gehen, hat Michelle für den Kleinen einen Extrabecher seiner Lieblings-Babynahrung Karotte mit Huhn vorbereitet. Frau Gonzales habe ich eine Flasche Eierlikör mitgebracht, den sie besonders gern mag und der diese Woche im Angebot bei uns ist.

Als wir im mhc eintreffen, sind auch Martin und Chris schon da. Ich berichte Michelle und Martin, dass der Junge aus Uganda sich ihre Namen gemerkt und ihnen Grüße bestellt hat. Beide sind hin und weg. „Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen!“, ruft Martin und holt Getränke für uns alle.

Ab dann aber bekommen wir nur noch von Problemen zu hören, nachdem wir Leila, Hassan und Mustafa berichtet haben, was wir bis jetzt wissen.

Zuerst Leila: „Also, Uganda ist schon mal gar nicht als Asylland anerkannt. Er müsste deshalb erst individuell nachweisen, dass er verfolgt ist und sein Leben bedroht.“

„Das kann er doch wohl!“, sagt Chris. Deutliche Empörung ist in seiner Stimme zu hören.

„Na ja, er müsste dann auch nachweisen, dass er schwul ist und deswegen schon verfolgt wurde“, äußert sich nun auch Hassan eher nachdenklich. „Da haben wir es selbst bei Said schwer bei unseren Anträgen hier – und der ist immerhin schon achtzehn und wurde medizinisch nachweisbar gefoltert.“

Martin fragt nach: „Wie soll man denn nachweisen, dass man schwul oder lesbisch ist? Dass ist ja nicht jedem anzusehen …“ Und mit einem Grinsen fügt er hinzu: „Wie bei mir.“ Chris grinst zurück. Zwischen den beiden hat es wirklich gut gefunkt.

Dann bringt Michelle unser stärkstes Argument ein, jedenfalls wie wir bis zu diesem Moment dachten: „Immerhin kann er doch schon mal bei uns wohnen und muss nicht in so ein blödes Flüchtlingsheim! So macht er auch niemand Kosten.“

„Muss er doch“, erklärt Leila ruhig. Offensichtlich hatte sie schon mit mehr Ahnungslosen wie uns zu tun.

Geduldig fährt sie fort. „Alle Asylbewerber müssen die ersten Monate in ein sogenanntes Erstaufnahmelager. In der Zeit dürfen sie auch nicht arbeiten. Da soll alles sorgfältig geprüft werden: Ob ihre Geschichte überhaupt stimmt und sie nicht vielleicht Terroristen sind. Und ob ihre Papiere korrekt sind. Und …“

„O Gott!“, melde ich mich zum ersten Mal zu Wort. „Bei unserem Freund aus Uganda stimmen sicher die Papiere nicht. Der Junge wartet jetzt an der Grenze zu Ruanda auf einen gefälschten Pass, um überhaupt rauszukommen. Außerdem ist er erst sechzehn …“

Leila übersetzt trocken in deutsche Amtssprache: „Also ein unbegleiteter jugendlicher Flüchtling?“

„Ja“, antworte ich verzagt. „So was.“

Es ist Michelle, die irgendwann wütend nachbohrt: „Ja, sollen wir ihn denn da einfach hängen lassen?“

Zum ersten Mal zeigt Leila wieder ein Lächeln. „Natürlich nicht, Michelle. Aber ihr solltet alle Gesetze kennen, damit ihr wisst, worauf ihr euch da einlasst.“

Jetzt lenkt auch Michelle ein, immerhin ist Leila ihre netteste Kollegin auf der Arbeit. „Hast ja recht, Leila“, meint sie versöhnlich. „Aber es ist doch wirklich ungerecht, nicht?“

„Ja“, sagt Leila. „Das ist es.“

Den Rest des Abends berichten Hassan und Mustafa noch, dass auch sie Said nur mit einem gefälschten Pass aus dem Iran herausbekommen werden. „Wir haben inzwischen sogar Kontakt zu seiner Mutter“, erzählt Hassan.

Seit mehreren Wochen kümmern sich die beiden in jeder freien Minute um Said. Und wir haben gerade erst begonnen.

Es ist schon spät, als wir aufbrechen. Unter der Woche schließt das mhc meist um Mitternacht. Wir sind die letzten Gäste, die aus dem Keller ins Café hochkommen. Barmann Michael nickt uns freundlich zu. „Na, wie viele Leben habt ihr heute Abend wieder gerettet?“

Mustafa schaut ihn ernst an. „Blödmann!“ Aber dann lachen beide.

Als Michelle und ich heimkommen, läuft der Fernseher noch. Aber sowohl Marco als auch Frau Gonzales sind auf dem Sofa im Wohnzimmer nebeneinander eingeschlafen. Marcos Becher mit Babynahrung ist noch voll, die Flasche Eierlikör halbleer. Michelle trägt ihren Kleinen ins Bett, ohne dass er wach wird. Dass geht bei Frau Gonzales leider nicht.

Vorsichtig berühre ich sie an der Schulter, um sie aufzuwecken. „Hola“, ruft sie erschrocken und aus weiter Ferne kommend. Dann scheint sie sich doch zu erinnern, wo sie ist, sieht auch die halbleere Flasche auf dem Tisch und murmelt etwas wie: „Excusa, excusa …“

„Macht doch nichts, Frau Gonzales“, sage ich beruhigend und meine es auch so. Was sollten wir ohne sie anfangen.

Es ist zu spät, jetzt noch auf Planet Romeo zu gehen.

Bis morgen werde ich mir gut überlegen müssen, wie ich dem Freedom Fighter Mut machen kann, ohne ihm etwas vorzumachen. Keine leichte Sache.