Kigali, im August

Natürlich habe ich nicht einfach unseren Chat auf Planet Romeo abgebrochen. Plötzlich waren dann einfach doch meine Data aufgebraucht. Hätte ich David eher sagen müssen. Hoffentlich denkt er nicht, dass ich superempfindlich bin oder so was.

Noch mal gehe ich zu dem kleinen Laden an der Ecke, der zum Glück außer Obst, Brot, Getränken und Süßigkeiten auch alle Sorten von SIM-Karten und Data für verschiedene Netzwerke verkauft, vor allem MTN natürlich. Deren riesige Reklametafeln hatte ich schon vorher in der Stadt gesehen.

Zurück im Zimmer versuche ich sofort, wieder Kontakt zu David in Hamburg zu bekommen, aber irgendetwas ist jetzt blockiert, noch bevor ich mich überhaupt einloggen kann. Ich merke, wie müde ich bin, und will mich eigentlich nur für einen Moment aufs Bett legen.

Als ich wieder aufwache, ist es schon dunkel draußen. Mein Smartphone zeigt kurz nach 21 Uhr. Mama ist bestimmt längst zurück von der Arbeit. Tatsächlich nimmt sie meinen WhatsApp-Anruf sofort an.

„Bin ich froh, mein Junge, dass du in Sicherheit bist!“, ruft sie. Ich stelle mir vor, wie sie im Wohnzimmer auf unserem Sofa sitzt. Im Hintergrund höre ich Schauspielerstimmen aus dem Fernseher, dessen Lautsprecher sie jetzt leiser dreht.

„Kigali ist richtig gut, Mama!“, bestätige ich ihr meinen ersten Eindruck. „Können wir nicht einfach hier leben – zusammen?“

„Ach David, du bleibst ein Träumer. Für Kigali bekomme ich niemals eine Arbeitserlaubnis“, entgegnet sie. Dann lacht sie. „Wenn du es wirklich bis nach Europa schaffst, vielleicht sogar zu deinem Hamburger, dann holst du mich nach, ja?“

„Logo!“, rufe ich ausgelassen zurück. „Wer ist hier am Träumen? Du oder ich?“

Dann wird ihre Stimme wieder ernst. „Dein Vater hat mir mehr Einzelheiten zu seinem türkischen Kollegen in Lagos gegeben. Hast du was zum Schreiben?“

Ich ziehe einen Kuli aus der Seitentasche meines Rucksacks und streiche den braunen Briefumschlag vor mir glatt.

„Er heißt Dr. Deniz Aldemir und arbeitet im Uni-Krankenhaus von Lagos in der Ishaga Road. Hast du alles mitbekommen?“ Zur Sicherheit buchstabiert sie noch mal alles: „Dr. Aldemir. Ishaga Road.“

Zuletzt gibt sie mir auch noch seine private Handynummer.

„Warum soll er mir helfen, Mama? Ich kenne ihn doch gar nicht.“

„Vater sagt, er hat ihm mal in einer blöden Situation in Kampala geholfen. Und … und weil er auch so ist.“

„Wie ist?“

„Wie du, David. Und Julian und Isaac.“

„Hast du was von Julian gehört?“

„Nichts, gar nichts. Ich kann natürlich auch nicht mehr einfach seine Mutter anrufen.“

„Verstehe, Mama. Ich denke immer wieder an ihn.“

„Lass uns hoffen, dass seine Tante auf dem Land nicht so schlimm ist wie sein Vater.“

„Und auch nichts von Anne oder Pepe?“

„Anne will auch weg. Mit ihrer Freundin. Pepe nicht – er sagt, die Leute in Uganda sollen sehen, dass es euch gibt. Er ist so mutig …“

„Ja, das ist er. Was für ein toller Transmann.“

„David?“

„Ja, Mama?“

„Bitte geh morgen zum Büro der Fluggesellschaft von Ruanda. Es kann sein, dass die lange im Voraus ausgebucht sind.“

„Mache ich – gleich morgen früh. Morgen Abend melde ich mich wieder. Sula bulungi, Mama!“

„Schlaf du auch gut, mein Junge.“

Nach der langen Ruhepause am Nachmittag bin ich nun jedoch noch gar nicht müde. Ich ziehe mir das frisch gewaschene und schon getrocknete Hemd über, stecke mir ein paar der ruandischen Francs-Scheine in die Hosentasche und verstecke meinen Pass und die großen Geldscheine unter einem Bettpfosten. Dann schließe ich die Tür zwei Mal ab und verstaue den Schlüssel in meinem rechten Schuh.

Neugierig laufe ich die Treppe zur Halle hinunter. Inzwischen sitzen dort ein paar andere junge Gäste aller Hautfarben und unterhalten sich. Auf einem Flatscreen läuft ein Fußballspiel ohne Ton. Dann trete ich hinaus auf die Straße.

Was für eine fröhliche und lebendige Nachbarschaft ist dieser Stadtteil Remera – ich habe schlicht Glück gehabt. Ein einfaches Restaurant in der Nähe heißt Viens encore – come again. Gleich gegenüber dringt Marimba-Trommelmusik aus einer Bar. Viele junge Leute stehen auf der Straße davor. Haben etwas zu trinken in der Hand und bewegen sich zu den Marimba-Rhythmen. Hier und da stehen auch zwei Männer eng nebeneinander und haben sich einen Arm um die Schultern gelegt. In Uganda würden sie schnell für schwul gehalten. Hier achtet niemand weiter darauf.

An einem Grillstand werden auf offenem Feuer gebackene Kartoffeln und verschiedene Fleischsorten am Spieß – sogenannte Brochettes – zubereitet. Es duftet herrlich – ich bestelle gleich zwei.

Plötzlich lacht mich ein Mädchen in meinem Alter an: „De quel pays es-tu?“ Als ich sie freundlich, aber ratlos anschaue, wiederholt sie auf Englisch: „Where are you from? - Aus welchem Land kommst du?“ Woran merkt sie, dass ich nicht von hier bin?

„Weil du alles so anstaunst!“, sagt sie und lacht schon wieder. Verschmitzt fügt sie hinzu: „Ich mag Ausländer!“

Dann fragt sie nach meinem Namen.

„Dennis – und du?“

„Danielle.“ Jetzt nimmt sie einfach meine Hand und ruft: „Viens avec moi – komm mit mir!“

Sie zieht mich in Richtung einer Disko, die in einem Gartenlokal unter freiem Himmel stattfindet. Bei uns würden wir die Musik vielleicht Hip-Hop nennen. Hier ist der Beat schneller und alle Texte auf Französisch.

Danielle zieht mich dicht zu sich ran beim Tanzen und gleitet mit ihrer Hand unter mein Hemd. Noch nie habe ich mich so von einem Mädchen berühren lassen. Aber es ist okay … zumal sie wirklich gut tanzen kann.

Nach einer halben Stunde sind wir beide nassgeschwitzt. „Willst du was trinken?“, frage ich sie. Sie nickt und bestellt sich eine Rum-Cola. Ich dränge mich mühsam durch die inzwischen proppenvolle Gartendisko bis zu einer Bar. „Eine Cola mit Rum und Eis – und eine nur mit Eis!“ Ein Barmann mit Oberarmen wie Abdul nickt mir freundlich zu.

Noch bevor die Bestellung vor mir steht, suche ich in meiner Hosentasche nach den paar Geldscheinen. Erst links, dann rechts. Kein Zweifel – alles weg. Ich drehe mich um zu der Stelle, wo eben noch Danielle stand. Auch sie ist weg.

Bevor der gutaussehende Barmann mit den beiden Gläsern zu mir zurückkommt, mache ich mich aus dem Staub. Bloß hier nicht noch mit der Polizei Ärger bekommen wegen Zechprellerei!

Ich schaffe es, unbehelligt aus der Gartendisko zu kommen und dann schnell im Gewühl auf der Hauptstraße unterzutauchen. Das ging gerade noch mal gut.

Wie konnte ich nur so blöd sein! Zum Glück hat sie nicht wirklich viel geklaut, gerade mal einen Teil des Wechselgeldes vom Bezahlen des Hotelzimmers. Aber ich bekomme eine Idee, warum Danielle ahnungslose Ausländer wie mich mag. Falls sie überhaupt Danielle heißt. Aber da darf ich nicht klagen. Ich heiße schließlich auch nicht Dennis!

Als ich wenig später auf meinem Zimmer bin und mich auf meinem Bett ausstrecke, denke ich dankbar, wie unglaublich gut bisher alles gelaufen ist. Gibt es doch Schutzengel?

Am nächsten Morgen werde ich früh vom Autolärm der nahen Hauptstraße geweckt. Lastwagen fahren mit lautem Motorengeheul an, Busse hupen und Autotüren werden knallend zugeschlagen. Gestern Nachmittag war es mir viel weniger aufgefallen. Ich schließe das Fenster, aber kann doch nicht mehr einschlafen.

Noch im Bett google ich auf meinem Smartphone das Büro von RwandAir: Es gibt ein Büro auf dem Internationalen Flughafen von Kigali. Ob das weit ist? Bevor ich weitergoogeln kann, muss ich jedoch erst zum Klo.

Ich gehe über den Gang vor meinem Zimmer, alles gut: Die Toilette ist frei. Nur die Dusche besetzt. Also streife ich mir nur meine Hose und ein T-Shirt über und gehe erst unten in der Halle frühstücken. Bei der Anmeldung ist dieselbe nette rundliche Dame wie gestern. Vielleicht ist sie ja Louis und auf dem Weg, eine Transfrau zu werden?

Als ich sie nach dem Weg zum Flughafen frage, sagt sie mit der nun schon vertrauten tiefen Stimme: „Gar nicht weit. Nur vier Stationen in östlicher Richtung mit dem Bus – à l’aéroport!“

Das Frühstück ist gut, sogar echte Croissants, und man kann sich so viel Obst aus einer Schale nehmen, wie man möchte. Danach ist die Dusche frei. Ich habe noch genug Shampoo von gestern.

Ein paar Minuten später stehe ich mit meinem kleinen Rucksack an der Haltestelle und warte auf den Bus zum Flughafen. Es ist ein ganz moderner, dessen Motor man kaum hört. In gut fünfzehn Minuten hält der Bus vor der riesigen Haupthalle. Schilder weisen den Weg zum RwandAir Head Office im Obergeschoss.

Um diese Zeit sind bereits die meisten Schalter der Fluggesellschaft besetzt. Ich stelle mich bei der Schlange Reisender an, die mir am kürzesten erscheint. Tatsächlich bin ich nach wenigen Minuten dran.

Monsieur?“, nickt mir die junge Frau zu.

Ich reiche ihr meinen Pass und das ausgedruckte Ticket. Sie tippt etwas auf ihrem Computer und fragt dann: „Morgen oder übermorgen? Beides geht noch. Am Wochenende ist alles voll.“

Ohne Zögern antworte ich: „Morgen.“

Nur einen Moment später reicht sie mir eine Bordkarte und liest zur Sicherheit alle Angaben laut vor: „Abflug Kigali 9.00 Uhr – Ankunft Lagos 12.30 Uhr. Sie müssen zwei Stunden vor Abflug hier sein. Noch Fragen?“

Ich schüttle den Kopf.

Sie gibt mir eine boarding card, wünscht mir „Bon voyage!“ und schaut schon zur nächsten Reisenden hinter mir.

Den Rest des Tages laufe ich erneut durch das Viertel in meiner Nähe. Besonders gefällt mir ein bunter Markt, der Handarbeiten anbietet und sich über mehrere Straßen hinzieht.

Am späten Nachmittag habe ich plötzlich genug. Ich gehe auf mein Zimmer, öffne das Fenster weit und hoffe nur noch, dass ich sowohl Mama als auch David in Hamburg erreichen werde. Ich habe keine Ahnung, was von Lagos aus möglich sein wird.