Hamburg, im Januar

Um diese Jahreszeit ist es nie richtig Tag in Hamburg. Grau, grau, grau. Eigentlich nur Abstufungen von grau, und dann halt früh schon dunkel. Ewig dunkel.

Mein Wecker geht ab im Dunkeln, obwohl es schon sieben Uhr ist … ich quäle mich aus dem warmen Bett und tapere über den dunklen Flur zum Klo. Dann plötzlich das grelle Licht, das in den Augen schmerzt. Aber Michelle will es so.

„Ich muss sehen, was ich mache …“, sagt sie.

„Auch auf Klo?“, brumme ich zurück.

„Auch da!“, ruft sie mit jener Stimme, die keinen Widerspruch duldet.

Sie ruft es aus dem Kinderzimmer, wo es noch still ist. Sie war offensichtlich schon vor mir auf und hat Marco die erste Flasche gegeben. Er bekommt sonst sogar noch die Brust. Aber nicht, wenn Michelle in Eile ist.

Michelle – meine ältere Schwester. Marco – mein kleiner Neffe. Gerade war sein erster Geburtstag.

Ich darf nicht zu viel meckern. Denn ohne Michelle säße ich noch zu Hause. Zuhause? Schönes Wort. Das ist es schon lange nicht mehr. Ich weiß nicht genau, was am Ende schlimmer war. War es der ewige Streit zwischen meinen Eltern?

„Von dir lasse ich mir nichts mehr sagen!“ – Mutter.

„Und wo warst du dann mit deiner sogenannten Freundin Inge den ganzen Abend?“ – Vater.

„Inge versteht mich wenigstens!“ – Mutter.

„Weil die genauso bescheuert ist!“ – Vater.

Oder war schlimmer, als ich ihnen endlich sagte, dass ich schwul bin?

Einfach so. An einem Abend nach dem Sport im städtischen Schwimmbad. Weil es einfach so klar war. Ich hatte wieder nur nach Jungen geschaut, vor allem nach dem einen in der Dusche. Nichts weiter. Absolut unauffällig. Aber es war klar für mich. Keine vorübergehende Phase.

Das bin ich. Schon immer.

Wohlgemerkt: Ich sagte es in der Großstadt Hamburg, also genauer in Barmbek. Nicht in einem Kuhkaff auf dem Lande. Nicht vor hundert Jahren, sondern vor gut sechs Monaten.

Ich habe mein Handtuch im Bad aufgehängt und sage es im Flur. Ruhig, aber unüberhörbar.

„Wie bitte?“ – Vater von seinem Schreibtisch, ohne aufzuschauen.

„Hast du keine Ohren?“ – Mutter zu Vater.

„Sag das noch mal, David!“ – Vater, zornig.

„Ich ahne es schon lange …“ – Mutter, ebenfalls, ohne mich anzuschauen.

„Ach ja?“ – Vater laut, kurz vor einem Wutanfall.

Den erlebe ich jedoch nicht mehr mit.

Mutters Stimme höre ich nur noch aus der Entfernung, als ich schon im Treppenhaus die Stufen aus dem zweiten Stock hinunterstürme. Und auch nur, weil ich die Wohnungstür offen gelassen habe.

„Daaavid?“ Und dann nochmal, aber schon viel leiser: „David …?“

Seitdem wohne ich bei Michelle, die schon einundzwanzig ist, aber bereits vor über einem Jahr abgehauen ist von daheim, obwohl sie noch in der Ausbildung war. Noch immer ist sie bei dieser Farbenfirma. Jedoch inzwischen im letzten Lehrjahr. Einzelhandelskauffrau.

„Sobald ich damit fertig bin, suche ich mir was anderes“, sagt sie.

Sie hasst ihren Chef. Ein Diktator. Die Firma nennt sie IG Farben. „Der hätte auch KZs anstreichen lassen“, sagte ihre Kollegin Leila einmal, als ich dabei war. Dann kicherten beide.

„Der ist schlimmer als Armin!“, fügte Michelle noch hinzu. Aber Armin bezahlt immerhin den Unterhalt für Marco, auch wenn er sich sonst nicht um den Kleinen kümmert. Und so großzügig, dass wir jetzt, zwar bescheiden, aber doch alle drei davon leben können. Michelle, Marco und ich.

So ist meine große Schwester. Hart, aber gerecht. Nie würde sie mich im Stich lassen, ihren kleinen Bruder. Ich sie aber auch nicht. Echt nie!

Als Armin einmal betrunken an der Tür war und Theater machte, packte ich einen alten Hammer aus unserer Werkzeugkiste, erhob ihn mit entschlossener Miene und schrie: „Wenn du Michelle auch nur berührst, bekommst du den auf die Birne!“

Es muss gut ausgesehen haben. Armin verdrückte sich und kam seitdem nicht wieder. Aber überweist trotzdem weiter jeden Ersten im Monat Unterhalt für Marco.

Denn ich gehe ja noch zur Schule. Obwohl ich schon achtzehn bin. Aber doch erst in der elften Klasse. Weil ich in der Grundschule einmal sitzen geblieben war. Aber auf der Gesamtschule ist es gut jetzt. Vor allem unsere Deutschlehrerin ist gut. Sie mag meine Aufsätze. Unglaublich.

Ich schreibe irgendwas. Und Frau Schneider sagt: „Gut, David! Du hast eine eigene Stimme.“ Hat sie ehrlich gesagt. Eine eigene Stimme. Bin nicht sicher, was das ist. Aber ich habe es, sagt sie.

Noch anderthalb Jahre bis zum Abi.

„Das machst du, David!“ Wieder Michelles Stimme. Die keinen Widerspruch duldet. „Oder willst du auch Einzelhandelskauffrau werden?“

„Nee“, antworte ich. Und dann lachen wir. Weil sie Kauffrau gesagt hat und nicht Kaufmann. Und weil wir irgendwie froh sind, dass wir uns haben. Auch ohne Eltern und ohne Marcos Vater.

Wenig später bringt sie Marco zu Frau Gonzales, einer Nachbarin über uns. Die passt die Woche über auf ihn auf. Ist eigentlich schon Oma, aber ihr eigener Sohn ist mit drei Enkelkindern zurück nach Barcelona gegangen. Sie hat alle Zeit für Marco und macht es gern. Ist gut für beide.

Als ich aus der Dusche komme, ist es ganz still. Auf dem Küchentisch liegt Michelles Einkaufszettel. Auch die Bier- und Sprudel-Bestellung von Frau Gonzales. Aber sie schluckt ihr cerveza nur am Abend. Sonst nimmt sie nichts von uns. Und die Getränkeflaschen auch nur, weil sie nichts Schweres tragen darf.

Nach der Schule kommt das gut hin. An drei Nachmittagen staple ich Regale voll in dem Schrott-Supermarkt nicht weit von uns. Ein Hungerlohn, aber immerhin auch ein Beitrag zu unserer kleinen Familie. Und irgendwie ist es auch gut da wegen Abdul. Der ist genauso alt wie ich, aber arbeitet Fulltime dort.

Und sieht einfach gut aus.

Geht regelmäßig ins Sportstudio. Sieht man auch – ein paar Schultern, Mannomann. In dem Studio trifft er seine anderen arabischen Freunde. Abdul ist aber viel weniger Macho als die. So freundlich. Fragt auch immer nach Michelle und Marco.

Und dass er nicht schwul ist – dafür kann er nichts. Von mir weiß er es nicht. Denke ich zumindest. Denn zu Anfang vermutete er, dass Michelle meine Freundin sei. „Sieht gut aus“, grinste er verschwörerisch. Inzwischen weiß er immerhin, dass sie meine Schwester ist. Immerhin.

Zur Schule fahre ich auf meinem alten Rad. Bei jedem Wetter. Heute ist es besonders mies. Eiskalter Nieselregen, selbst der Radweg glitschig. Aber die erste Stunde haben wir bei Frau Schneider.

Letzte Woche hat sie mit Goethes Werther begonnen. Gar nicht blöd, der Typ. Wie der über Liebe und Leidenschaft schon 1771 redete. Leider hetero.